Das deutschsprachige Erbe der mongolischen Nomaden

Cornelia Schruddes Biografie über Galsan Tschinag

Von Mareile AhrndtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mareile Ahrndt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Aufmerksamkeit von Rezensenten hat Galsan Tschinag schon länger auf sich gezogen. Schließlich ist er als Schriftsteller eine ziemlich exotische Erscheinung: Der mongolische Staatsbürger schreibt seit seinem Leipziger Studienaufenthalt in den sechziger Jahren Gedichte und Prosa auf deutsch. Jetzt hat sich endlich die Germanistik ihren Weg zu ihm gebahnt. Denn mit seinen Werken "Der blaue Himmel", "Zwanzig und ein Tag" und "Die graue Erde" nimmt Tschinag einen festen Platz als Romanautor in der deutschen Gegenwartsliteratur ein. Seine Bücher gehören zur "deutschsprachigen Literatur von Autoren nichtdeutscher Muttersprache" (Karl Esselborn). Man merkt schon: Galsan Tschinag fällt dadurch auf, dass bei ihm Einordnungen schnell einfach unpassend wirken, und so ergeht es dem künstlerischen Schaffen Tschinags auch in Schruddes ersten zwei Standortbestimmungen: "Von der "GastarbeiterInnenliteratur" zur Literatur der Interkulturalität" und "Die Entwicklung der italienischen "GastarbeiterInnenliteratur". Wo gehört da Tschinag hinein, der einzig und allein ein Thema kennt - die Mongolei und sein kleines, nomadisches Volk der Tuwa? Doch was soll's - die Gussform steht, Schrudde begründet sie gut und verdirbt weder die Freude an ihrer Literaturwissenschaft noch die an Galsan Tschinag. Im Hauptteil ihrer Dissertation untersucht Cornelia Schrudde Tschinags Werk bis 1999 (nicht einbeziehen konnte sie also "Der Wolf und die Hündin" (1999), "Sonnenrote Orakelsteine" (1999), "Alle Pfade und eine Jurte" (2000), "Der weiße Berg" (2000), "Dojnaa" (2001) und die demnächst erscheinenden Erzählungen "Tau und Gras" sowie den Gedichtband "Der Steinmensch von Ak-Hem" (2002) - reichlich Stoff und das bittere Schicksal einer Wissenschaft, die sich mit einem quicklebendigen Dichter beschäftigt. Schrudde bringt es für die von ihr untersuchten Texte auf den Punkt: "In seinen Romanen versucht Galsan Tschinag mittels seines autobiographischen Erzählens, die Kollektivgeschichte seines Volkes darzustellen und zu ergänzen. Es geht ihm hier - genau wie in seinen Erzählungen - um das schriftliche Bewahren einer vom Untergang bedrohten Kultur." Das nimmt Schrudde, nachdem sie vom Volk der Tuwa, seiner Sprache und seiner mündlichen Erzähltradition berichtet hat, anschließend unter die Lupe; es bilden sich drei Schwerpunkte der thematisch, nicht nach Werken gegliederten Analyse: der Einfluss der mündlichen Erzähltradition, das Schamanentum und Authentizität versus Fiktion. Man kann sich vorstellen, dass da einige Ergebnisse zusammengetragen werden in einer Studie zu einem Autor, zu dem es noch nichts Umfassendes gibt. Letztlich ist natürlich schon aus den gewählten Schwerpunkten ersichtlich, dass sie alle reichlich Früchte abwerfen. Zunächst stellt Schrudde fest, dass Galsan Tschinag, seit er 1992 den Adelbert-von-Chamisso-Preis erhalten hat, dank seiner steigenden Bekanntheit mehr für sein kleines, vom Assimilierungsdruck bedrohtes Volk der Tuwa tun konnte. Er machte es sich zur Aufgabe, "die Kultur und Geschichte dieses Volkes mittels seiner Literatur zu bewahren." Bräuche und Traditionen spiegeln sich bei Tschinag wider und beeinflussen selbstverständlich seine Motivwahl. Schrudde übersieht nicht, dass die Tuwa ein Volk ohne Schrift sind. Tschinag versucht, mündliche Erzählweisen in schriftliche zu transformieren. Leider kann Schrudde an dieser Stelle nicht untersuchen, inwieweit Tschinag dabei die deutsche Sprache als Sprache einer fremden, lange schon schriftlichen Kultur hilft. Stattdessen geht sie folgerichtig in ihrer Studie weiter und belegt die Bedeutung des Schamanentums, genauer: den "Niederschlag der animistischen Vorstellung". Schrudde betont besonders für Tschinags Gedichte die Bedeutung der Naturauffassung. Dazu "gehört der Glaube, dass die ganze Natur voll von Seelen der Verstorbenen ist. Dadurch lebt die Natur und die NomadInnen fühlen sich eins mit ihr. Dieses Lebensgefühl und diese Naturauffassung zieht sich durch Tschinags ganzes Werk, wird aber am augenscheinlichsten in seinen Gedichten."

Die Wahl seiner Genre ist bei Tschinag eine gesonderte Frage, worauf Schrudde den Leser eher unfreiwillig stößt. Indem sie "Authentizität versus Fiktion" den Überlegungen voranstellt, in denen sie Tschinags Wunsch nach Glaubwürdigkeit nachspürt, wird überdeutlich, dass eine Trennung nach Prosa und Poesie für nachfolgende Studien wünschenswert wäre. Erst dann könnte ein Fazit, wie Schrudde es zieht, Licht ins Dickicht bringen: "Hinzu kommt, dass er literarische Genres gewählt hat, die einen hohen Grad an Glaubwürdigkeit vermitteln, wie z. B. die Wahl des Tagebuchs und die des autobiographischen Romanes."

. Es wäre zu viel verlangt, wenn Schrudde zusätzlich zu ihrer Grundlagenarbeit Weiterführendes hätte erbringen sollen; der Wunsch nach ein paar mutigen Literaturwissenschaftlern der Zukunft ist da: Das Gefühl der zeitweiligen Übersättigung in Tschinags Volkstumsschilderungen hat seine Ursprünge vielleicht in des Autors Wechsel der geistigen Heimat; es scheint vieles dem Sozialismus entsprungen und dem Westen geschuldet. Oder? Wir hoffen auf Nachfolger Schruddes und können dankbar sein für diese erste Studie, die die Lektoren vom Peter Lang Verlag unbedingt von Wiederholungen hätten befreien müssen.

Titelbild

Cornelia Schrudde: Galsan Tschinag. Der tuwinische Nomade in der deutschsprachigen Literatur.
Peter Lang Verlag, Frankfurt 2000.
368 Seiten, 50,10 EUR.
ISBN-10: 3631357834

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