Im Rausch der Tiefe

Ketil Bjørnstad widmet seinen neuen Roman einem unwiderstehlich abgründigen Charakter

Von Monika von AufschnaiterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monika von Aufschnaiter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie George Simenon faszinieren Ketil Bjørnstad nicht die Höhenflüge des Ermittlers, sondern die Abgründe des Mörders. In seinem neuen Roman "Der Tanz des Lebens" zeichnet der norwegische Autor das Psychogramm eines mittelmäßigen bis schlechten Charakters: Protagonist Ludvig Hassel ist ein Kunsthistoriker jenseits der fünfzig, der seit Jahrzehnten als Hauptkustos an der Osloer Nationalgalerie arbeitet. Hassel gehört nicht zu den gefühlsgewandten Menschen. Hass (nomen est omen) erscheint als die einzige große Emotion, zu der er fähig ist. Der alternde Kunstexperte hadert mit seinem Schicksal: nach einem besonders dreisten Seitensprung hat sich seine Frau von ihm scheiden lassen, seine Geliebte bedrängt ihn mit Hochzeitsabsichten und den Direktorenposten an der Nationalgalerie hat seiner eine Frau bekommen. Die Vergangenheit ist ein zäher Sumpf, in dem Hassel zu versinken droht. Er, der früher geglaubt hat, "dass er mit fünfzig genügend Einsicht und Gewicht haben würde, um eine Kraft zu sein, ein Leuchtturm für andere, die Halt in ihrem Leben suchten", muss nun feststellen, dass er statt dessen ein "versoffener, alternder Junggeselle geworden war, der merkte, dass er nicht vorankam. Er musste sich endlich eingestehen, dass er nie das Genie werden würde, das die Welt brauchte."

Ketil Bjørnstad, der Komponist und Pianist, hat bereits über zwanzig Romane geschrieben. Immer wieder porträtierte der norwegische Autor extreme Persönlichkeiten - vor sieben Jahren veröffentlichte er etwa eine Romanbiografie über seinen Landsmann, den Maler Edvard Munch. Seinen neuesten Roman, dessen deutscher Titel "Der Tanz des Lebens" einen Gemäldetitel Munchs zitiert, widmet Bjørnstad einem Mann, der seinen psychischen Zwängen Schritt für Schritt nachgibt, bis er am Rande seiner Existenz steht. Ludvig Hassel, der kultivierte, gebildete Kunsthistoriker, verehrt leidenschaftlich George Seurat, dessen Gemälde "Die Badenden von Asnières" ihm als Metapher für Reinheit und Unschuld erscheint: Die "Reinheit Seurats war eine Besessenheit, das sowohl Selbstverständliche wie Analytische, das gute Gewissen, nach dem er sich in seinem Privatleben nur sehnen konnte."

Ludvig Hassels Privatleben erinnert allerdings eher an Munch als an Seurat: Weihnachten 1999, an der Schwelle zum neuen Jahrtausend, sitzt das unbarmherzige Familienoberhaupt mit seiner "bigotten" Familie an der Weihnachtstafel - und über sie und sich selbst zu Gericht. Seine hypochondrische Ex-Frau lässt ihn seit Jahren seine Schuld am Scheitern der Ehe mit Barem abbezahlen, die beiden Sprösslinge erscheinen als hoffnungslos schwache Persönlichkeiten: der Sohn ist nicht nur beruflich, sondern auch in seinem Charakter ein Hilfspfleger, die Tochter ewige Studentin, noch dazu verlobt mit Hassels Erzrivalen. Konfrontiert mit dem eigenen Versagen, nimmt Hassel Zuflucht zu Alkohol und seinem Zynismus, der bei anderen Gelegenheiten dazu geführt hat, dass die Leute "auf die Toilette gehen mussten, um sich hinterher zu übergeben." Seine Erregung wird noch gesteigert durch den Wunsch, der neuen Freundin seines Sohnes zu imponieren: Anja Vikersund, Model und Skifliegerin, verkörpert das, was Ludvig Hassel selbst nie erreichen wird: Schönheit und Unabhängigkeit. Der angetrunkene, beruflich wie privat gescheiterte Hassel fühlt sich von der furchtlosen, erfolgreichen Skifliegerin angezogen wie die Motte vom Licht. Seine Gedanken kreisen in den darauf folgenden Wochen nur noch um sie. Halbherzig versucht er, sein Verlangen nach dem Mädchen zu verdrängen, obwohl er dem Sohn schon uninteressantere Frauen abspenstig gemacht hat. In einem letzten Anlauf, seine Seele zu retten, besucht er noch einmal die beiden Menschen, die ihm einst Sympathie entgegen brachten: den einzigen Jugendfreund und die an Alzheimer leidende Tante. Als Ludvig Hassel merkt, dass ihm beide völlig fremd geworden sind, hält ihn nichts mehr: Er fährt zu Anja Vikersunds Wohnung, wo es zum unausweichlichen Mord kommt.

Ketil Bjørnstad steht in seinem Können dem großen Simenon um nichts nach. Die Eigenschaften, Aussagen und Handlungen, durch die er seinen Protagonisten Hassel zu einem vieldimensionalen, plastischen Charakter werden lässt, sind ebenso raffiniert gewählt wie die Erzähltechnik. Scheinbar ungehemmt gewährt der gescheiterte Hassel Einblick in seine Komplexe, seine Verachtung, sein Versagen, seine Selbstherrlichkeit, konfrontiert den Leser mit Zynismus, Blasphemie und Rachegelüsten - und weckt dennoch durch seinen Witz und die Treffsicherheit seiner Beobachtungen Sympathie, entsetzte Identifikation, schaudernde Bewunderung. Bjørnstad, der jedes seiner Worte so präzise setzt wie Seurat seine Farbpunkte, braucht weder Mord noch sichtbare Gewalttaten, um zu fesseln. Kaum merklich wächst das Gewaltpotenzial des Protagonisten, und mit ihm die Anspannung des Lesers. Denn die Intelligenz des menschenverachtenden Kunsthistorikers ist so verführerisch, dass man beinahe den tödlichen Abgrund vergisst, an dessen Rand er entlang tanzt.

Titelbild

Ketil Bjørnstad: Der Tanz des Lebens. Roman.
Übersetzt aus dem Norwegischen von Lothar Schneider.
Insel Verlag, Frankfurt a. M. 2002.
278 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3458170979

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