Methodik des Entkommens

Maike Bartl über Arno Schmidt und die "Methodik des Entkommens" in den Juvenilia

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

An den ersten literarischen Gehversuchen Arno Schmidts, bis auf den Text "Pharos oder von der Macht der Dichter" zeitlebens unveröffentlicht und erst posthum in die Bargfelder Werkausgabe aufgenommen, scheiden sich die Geister. Schmidt selbst zitierte die Titel seiner sogenannten "Juvenilia" aus den dreißiger und vierziger Jahren in späteren Werken immer wieder gerne geheimnis- und bedeutungsvoll. Diese raunende Selbstmystifikation änderte nichts daran, dass die betreffenden Texte bis heute als Eskapismus abgetan wurden: Sie gelten als beklemmendes Zeugnis für die romantisierende Kleinbürgeridylle eines erst werdenden Autors, der sich aus düsterer Kriegszeit in ein anachronistisches Literaturelysium für den Hausgebrauch flüchtete.

Maike Bartl beleuchtet diesen stiefmütterlich behandelten Teil des Schmidtschen Œuvres jetzt erstmals ausführlich als ein Dokument für die "Entwicklung von zunehmender Beschädigung der jeweiligen Zentralfigur". Damit geht ihre Untersuchung dezidiert über die bisherigen literaturwissenschaftlichen Nachweise epigonaler, übersentimentaler und clichéhafter Züge in den "Juvenilia" hinaus und fokussiert die tatsächlich immer fragwürdiger geschilderten Fluchtversuche der Schmidtschen Helden, die aus einer dämonischen Lebensrealität in paradiesische (Phantasie-) Welten zu entkommen suchen. Bartl zeichnet eine chronologische Linie von der ersten fragmentarischen Erzählung "Die Insel" bis zur bedrohlichen Atmosphäre des "Pharos"-Textes nach, der den "Juvenilia" zuzurechnen sei und das "Bindeglied" zu Schmidts düsterer Erstveröffentlichung "Leviathan oder Die beste der Welten" (1949) darstelle. Diese Genese innerhalb der "Juvenilia" wirft ein aussagekräftiges Licht auf Schmidts variables literarisches Schaffen gerade in der Zeit des Nationalsozialismus: Hier suchte offenbar jemand Auswege aus einer schamvollen (Soldaten-)Existenz und machte die Erfahrung der Unmöglichkeit einer solchen textinternen Flucht.

Bartl zeigt eine Reihe motivischer Verknüpfungen auf, die unter den planvoll vernetzten Erstlingswerken bestehen und findet dabei auch Wegweiser in die Schaffenszeit nach 1945. Schmidts früheste Erzählungen bis zum Fragment "Mein Onkel Nikolaus" (1943) vollziehen aus dieser Perspektive eine ansteigende Resignationskurve. Im "Onkel Nikolaus" ist bereits "eine positive Bezugnahme auf die menschliche Existenz, wie sie in den vorigen Texten in verschiedenen Variationen versucht wird, [...] unmöglich geworden." Es bleiben zwar andere Daseinsformen denkbar, doch sind sie für Schmidt nicht mehr in die bestehende Wirklichkeit integrierbar: "Es scheint naheliegend zu vermuten, daß der Glaube an den hohen Wert des Menschen [...] ihm während des Krieges verloren gegangen ist."

Die blassen Frauenfiguren dienen in dieser Genese zunächst noch "als Zuhörerin und Projektionsfläche". Sie sind den belesen dozierenden Helden lediglich als servil aufblickende "Sekretärin" ("Die Insel") hörig zur Seite gestellt. Bald jedoch wird der überlegene männliche Gelehrte von Schmidt demontiert, bis hin zum Protagonisten in "Pharos", der laut Bartl von den ersten Beschädigungen, die an seinen Vorgängern bereits zu beobachten waren, zur bloßen "Erbärmlichkeit" herabsinkt: Er kann der hohen Literatur keine Erkenntnisse mehr entnehmen, sein Umgang mit Büchern bleibt "albern und doktrinär" und damit wird er deutlich "als Antipode der juvenilen Helden gekennzeichnet." Der frühe poetische Weg Arno Schmidts weist also bereits aus den Elysien hinaus und hinein in die bittere Erkenntnis: Der Leuchtturm in "Pharos" bietet kein Refugium mehr, sondern nur noch Bedrohungen, und "selbst wenn [der Protagonist] in die elysische Wirklichkeit des Turmes entkommen wollte, wäre ein solcher Versuch notwendig zum Scheitern verurteilt, und zwar vorrangig qua seiner Eigenschaft, Mensch zu sein." Bartl kommt also zu dem Schluss, dass dieses letzte "Juvenilium" Schmidts "mit einer Methode des Entkommens bricht, die Ähnlichkeit mit dem gnostischen Erlösungsgedanken hat: [...] Mit dem Pharos gibt es kein göttliches/höheres Wesen mehr, das in die menschliche Sphäre eingreift, um einen einzelnen von seiner Existenz zu erlösen."

Dem flüssig geschriebenen Forschungsband kommt somit der Verdienst zu, den Keim des pessimistischen späten Schmidt weiter und genauer zurückverfolgt zu haben, als bisher geschehen: Die frühesten motivischen Etappen einer schwarzen Epistemologie gewinnen damit an Kontur. Der Leser bekommt außerdem Lust, sich diesen vernachlässigten Teil des Gesamtwerkes auch selbst zu Gemüte zu führen.

Titelbild

Maike Bartl: Ein erloschener Leuchtturm. Pharos oder von der Macht der Dichter und die "Methodik des Entkommens" in den Juvenilia.
Arno Schmidt Stiftung, Bargfeld 2001.
158 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-10: 3923460090

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