Phänomenologie als Schwellenkunde

Bernhard Waldenfels über das Fremde in der Ästhetik

Von Christian LotzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christian Lotz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der vor kurzem emeritierte Bernhard Waldenfels gilt seit Jahren als einer der phänomenologisch orientierten Philosophen, die mit essayistischer Eleganz und mit einem durch die französische Nachkriegsphilosophie geschulten Blick Gegenwartsphänomene interpretieren und dabei phänomenologische Konzepte zusammen- und weiterführen. Jüngstes Ergebnis sind die in loser Folge erscheinenden Aufsatzsammlungen zur "Phänomenologie des Fremden", von denen bisher drei Bände vorliegen. Während sich der erste Band mit eher gesellschaftlichen und politischen und der zweite mit psychologischen und erkenntnistheoretischen Fragen beschäftigt, konzentrieren sich die Essays des neuesten Bandes auf ästhetische Themen.

Ästhetik wird nicht auf Kunstästhetik reduziert, sondern auf Fragen der Sinnlichkeit und Leiblichkeit ausgeweitet, und zwar im Sinne des Anschauungsbegriffes der phänomenologischen Tradition. Waldenfels bearbeitet in insgesamt neun Beiträgen, von denen vier Erstveröffentlichungen sind, die Themen "Rhythmus der Sinne", Sichtbarkeit in Kunst und Malerei, Sehen, Gehör, Klang, "Lebenswelt als Hörwelt" sowie Leiblichkeit im Kontext architekturaler Raumkunst. Diese Überfülle der von Waldenfels behandelten Themen und einbezogenen Texte verhindert eine durchgängige philosophische Beschränkung auf Gedanken. Es werden viele Strukturen angesprochen und ausgebreitet, aber nicht weiter verfolgt.

Unter Rückgriff auf Walter Benjamin und Paul Valéry bestimmt der Autor seinen Leitbegriff im Vorwort als "Schwelle". Schwellen zeichnen sich durch ihren undurchsichtigen, zugleich verbindenden und trennenden Charakter aus. So läßt sich Waldenfels Unternehmen, die Erfahrung von Fremdheit in den verschiedensten Erfahrungsbereichen aufzusuchen und aufzudecken, als ein Denken im Übergang bezeichnen. Waldenfels rezipiert Autoren der Philosophie, Anthropologie, Ethnologie, Medizin, Soziologie, Literatur und Kunst und versucht, sie unter einer phänomenologischen Perspektive zu vereinigen. Schwellen stellt Waldenfels als Sinnes- und Erfahrungsschwellen, Sinnesent- und -begrenzungen sowie als Verdoppelungsphänomene in der Körpererfahrung und als Überschreitungen und Transformationen in "Sinnenpolitik" und "Sinnesökonomie" dar. Nach Waldenfels gibt es keinen Sinn ohne die Sinne - und bereits die Ineinanderschachtelung des semantischen und anthropologischen Gebrauches des Wortes "Sinn" deutet das an. Ihre Verflechtungen beobachtet der Autor in unseren lebensweltlichen Erfahrungen.

Unser Leib zeigt sich uns als ein In- und Auseinander von nicht-objektivierbarer Eigenleiblichkeit und objektivierter, dinghafter Körperlichkeit. In dieser Differenz, in der wir uns nicht vollständig selbst beobachten können, begegnen und entgehen wir uns laufend. Das Fremde und Anonyme im Eigenen begegnet uns in der "leiblichen Selbstbezüglichkeit", die sich als ein Selbstentzug enthüllt. Indem sich der Leib der Reflexion entzieht, ist er sichtbar und unsichtbar zugleich. "Ich fasse mich nur, indem ich mir entgleite. Leiblichkeit besagt, daß ich nur als anderer ich selbst bin." Die Reflexionen zur Leiblichkeit werden durch eine längst fällige, leider zu kurze Auseinandersetzung mit der sogenannten "Neuen Phänomenologie" von Hermann Schmitz abgerundet.

Die Sinne legt Waldenfels im Anschluß an Maurice Merleau-Ponty und den Psychologen Erwin Straus als Synästhesie und Synergie aus. Die Einheit der Sinne ist nur möglich durch ihre gegenseitige "Kommunikation". Waldenfels interpretiert ihre Artikulation als Rhythmus und Bewegung, die sich in Lebens- und Klangformen sowie der eigenleiblichen Bewegung ausdrücken. So hat für den Autor das Sehen, Hören, Schnuppern und Schmecken eine eigene Gesetzlichkeit rhythmischer Beweglichkeit, und er findet darin nicht nur einen Anschluß an natürliche und kulturelle Rhythmen, sondern sogar eine besonders in der Kunsterfahrung erkennbare "Musikalität des Blicks". Kommen und Gehen, Wiederholung und Abweichung, Aufmerksamkeit und Unaufmerksamkeit, Normbestätigung und Normüberschreitung bestimmen den Ablauf. So zeigt sich für Waldenfels (im Anschluß an Edmund Husserl) der Prozeß der Erfahrung als ein unabschließbarer Prozeß, der sich im ständigen Wechsel der Ordnungen der Wirklichkeit befindet. "Jede neue Verwirklichung hebt an mit der Herausforderung durch ein Anderes oder Fremdes, das die bestehenden Ordnungen übersteigt, ohne eine Gesamtordnung anzukündigen."

Waldenfels stellt mit Hilfe einer ansehnlichen Fülle von Beispielen heraus, daß Kunst und Technik in erster Linie dann zu verstehen sind, wenn man sie als Abweichungen und Thematisierung von Sinn-Überschüssen und Sinn-Differenzen der Odrdnungen begreift, die durch das Fremde bestimmt werden. Auch das Sehen und der in der Kunsterfahrung zentrale Blick wird in all seinen Facetten und Kontexten untersucht. Dem "Blick, der aus dem Rahmen fällt" wird besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Waldenfels analysiert die Kunsterfahrung von ihren Rändern her, an denen Werke zu Dingen werden und Kunst sich an der Grenze zur Nicht-Kunst bewegt.

Als Zentralbegriff der Kunsterfahrung stellt Waldenfels den der Sichtbarkeit heraus. Das Anderssehen und das Andersgesehenwerden seien die "geheime Unruhe, die das Ordnungsgeschehen der Sinne" lenke. Das Sehen an etwas (Gehirn, Seele, etc.) oder an jemanden (Person, Ich, etc.) zu binden, lehnt Waldenfels, wie Merleau-Ponty, ab. Sinne - wie Hören oder Sehen fungieren vor jedem Auftauchen solcher Differenzen. Die Sichtbarkeit wird zu einem Ereignis, das den darauf zugreifenden Theorien entgehen muß und ihnen vorgelagert ist. Die Überlegungen werden mit viel Material aus der Geschichte des Bildmediums und der Kunst- und "Körpertechniken" veranschaulicht.

Waldenfels Aufsatzsammlung mündet in Überlegungen zur Leiblichkeit in der Architektur und Raumbildung. Aus der Perspektive der phänomenologischen Theorie zeigt sich das Bauen zunächst als ein durch architekturale Elemente wie Tür, Wand, Öffnung oder Dach bestimmtes Bilden und Hervorbringen von Raum, letztlich aber als ein Reflex unseres eigenen leiblichen Seins, das sich in die verschiedenen "Raumregister" auslegt. Raumrichtungen, Raumgrenzen und Raumgliederung werden konfiguiert durch die "raum- und grenzbildende Kraft der Leiblichkeit": "Oben und unten verweisen auf den aufrechten Gang. Schon hier begegnen wir einer Labilität, die die Kehrseite unseres Stehvermögens ist. Nur weil der Mensch, der sich im Raum aufhält, stehen kann, kann auch das Haus, das er bewohnt, einstürzen." Die Frage "Wer bin ich?" kann laut Waldenfels auch als "Wo bin ich?" gestellt werden.

Nicht nur Philosophen, sondern alle Kunst- und Kulturwissenschaftler im weiteren Sinne werden in Waldenfels´ subtilem Ein- und Ausbau der phänomenologischen und anthropologischen Theorien sowie der Fülle von Ideen und Beobachtungen eine Fundgrube für eigene Konzepte entdecken. Der Band ist mit einem der Orientierung hilfreichen (und bei Suhrkamp immer noch nicht standardisierten) Namen- und Sachregister versehen.

Titelbild

Bernhard Waldenfels: Sinnesschwellen. Studien zur Phänomenologie des Fremden 3.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1999.
243 Seiten, 10,10 EUR.
ISBN-10: 3518289977

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