Von vorn mit offenem Ende erzählt

Über Jörg Magenaus Biographie der "loyalen Dissidentin" Christa Wolf

Von Hannelore PiehlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hannelore Piehler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nein, der Gedanke, dass eine Biographie über sie geschrieben werden sollte, hat ihr ganz und gar nicht behagt. Dafür sei es noch zu früh, man möge sich doch gedulden, bis sie einmal nicht mehr da sei, so lehnte sie das Ansinnen höflich ab. Am liebsten hätte sie ohnehin allein ihr Werk sprechen lassen. Doch wer als Autorin so in der Öffentlichkeit steht wie Christa Wolf, der kann schwerlich große Zurückhaltung erwarten. Jörg Magenau, Westler, Mann und eine Generation jünger, konfrontierte die mittlerweile 73-jährige Autorin beharrlich mit dem Ansinnen, ihre Lebensgeschichte schreiben zu wollen - bis Christa Wolf kapitulierte. Da sie es nicht verhindern könne, wolle sie wenigstens dazu beitragen, dass die Fakten stimmen.

Christa Wolf hat gut daran getan, Jörg Magenau in persönlichen Gesprächen bei seiner Recherche zu unterstützen. Und vor allem hat sie im F.A.Z.-Mitarbeiter Magenau einen Biographen gefunden, der gründlich, differenziert und mit Respekt vor dem Leben seiner Protagonistin an die Arbeit ging. Angesichts der Häme und Schelte, mit denen Christa Wolf in den Jahren seit der Wende und dem Literaturstreit um "Was bleibt" konfrontiert wurde, ist eine faire Herangehensweise an ein Leben, dessen Träume und Utopien heute gemeinhin als unbegreiflich naiv gelten, alles andere als selbstverständlich. Jörg Magenau jedoch versucht, nicht aus der Retrospektive zu verurteilen, sondern vor einem Urteil gerade das ihm Fremde erst einmal zu verstehen: "Erzählungen über die DDR kranken häufig daran, dass sie von ihrem Ende aus erzählt werden und dass das Wissen um das Scheitern des Sozialismus ihnen als Voraussetzung zugrunde gelegt wird. Man muss dennoch, um den Handlungen der in ihre Zeit eingebundenen Personen gerecht zu werden, von vorn mit offenem Ende erzählen. Noch ist nichts entschieden. Sonst könnten alle Hoffnungen nur falsch gewesen sein. Alle Taten wären immer schon verfehlt, und die, die früher lebten, wären immer die Dummen." Magenau will sich also auf keinen Fall als überheblicher "Besser-Wessi" präsentieren, auch auf die Gefahr hin, selbst als naiv abgekanzelt zu werden. Sein hermeneutischer Ansatz ist Ausgangspunkt und Verdienst seines Buches über Christa Wolf. Trotz aller erkennbaren Sympathie für seine Protagonistin, unkritisch ist Magenaus Biographie keineswegs. Das macht die Lektüre auch zu einer gelungenen Einführung in Leben und Werk dieser bekanntesten und umstrittensten ostdeutschen Autorin.

Souverän und übersichtlich, mit viel Sinn fürs Detail erzählt Magenau das Leben der heute 73-jährigen von ihrer Kindheit in Landsberg an der Warthe bis hin zur international erfolgreichen Autorin. Nur manchmal wirkt seine journalistisch geschulte "Schreibe" etwas zu bemüht flapsig, so wenn Magenau, um die x-te Wiederholung des Kürzels "DDR" zu vermeiden lieber von "Springers Gänsefüßchenstaat" spricht oder Schuberts Liederzyklus "Die Winterreise", den Wolf in ihrer Erinnerung mit den Jahren der Krise nach der Biermann-Ausbürgerung verbindet, als "Soundtrack der Melancholie" bezeichnet. Entsprechend abwechslungsreich gestalten sich auch die Synonyme, die er als findiger Redakteur für die Autorin parat hat. Da wird von der "moralischen Mutter der Nation" über die "sanfte Feministin" und "gelernte Kassandra" bis hin zum "weiblichen Heinrich Böll des Ostens" nichts ausgelassen.

Lesenswert aber ist dieses Buch auch deshalb, weil entlang der politischen Biographie Wolfs - ihre Privatsphäre weiß die Autorin auch weiterhin gut vor allzu großer Neugier zu schützen - die Geschichte der DDR noch einmal erzählt wird. "Ob als mutige Opponentin auf dem 11. Plenum des ZK der SED im Dezember 1965, bei den Protesten gegen die Biermann-Ausbürgerung 1976 oder als Rednerin auf dem Alexanderplatz am 4. November 1989: Stets war Christa Wolf an exponierter Stelle dabei". So erfährt der Leser nach und nach einige aufschlussreiche Anekdoten und Hintergründe über den Staat DDR. Freilich sind für Wolf-Kenner die meisten Geschichten nicht neu, da Magenau in der Regel auf Reden, Interviews und Essays von Wolf zurückgreift. Um so spannender sind die Ergänzungen aus seinen persönlichen Gesprächen mit dem Ehepaar Wolf und aus dem für die Allgemeinheit noch nicht zugänglichen Material der Stiftung Archiv der Akademie der Künste in Berlin (darunter unveröffentlichte Interviews Wolfs, Tagebuchaufzeichnungen, frühere Fassungen der Werke). Beispielsweise über die ersten Schreibversuche Wolfs Mitte der 50er Jahre, als sie noch hauptberuflich als Literaturkritikerin tätig war. Ihre Rezensionen für die Zeitschrift "Neue deutsche Literatur" zitiert Magenau ausführlich. In dieser heißen Zeit des Kalten Krieges entstanden ausgesprochen ideologische, phrasenhafte Texte Wolfs, die vom "Plädoyer für die Erziehungsdiktatur" und "der Notwendigkeit von Zensur" bis hin zur "Jubelarie auf die historische Überlegenheit des Sozialismus angesichts der ersten Weltraumrakete der Sowjetunion" reichen. Die spätere Verwunderung Christa Wolfs, mit der Staatssicherheit zu einem Zeitpunkt kooperiert zu haben, als sie - ihrer Erinnerung nach - den Tiefpunkt ihrer Abhängigkeit von Partei und Ideologie schon überwunden hatte, lässt sich, so Magenau, nach der Lektüre ihrer damaligen Schriften nicht mehr teilen. Der Leser kann dem nur zustimmen.

Vor dem Hintergrund dieser anfänglich tiefen ideologischen Verbundenheit mit der SED ist die weitere Entwicklung Christa Wolfs besonders interessant. Die eigene Anmaßung, "ein für allemal im Mitbesitz der einzig richtigen, einzig funktionierenden Wahrheit zu sein", die sich noch völlig unreflektiert in ihrem literarischen Debüt "Moskauer Novelle" niederschlug, relativierte die Autorin zwölf Jahre nach dem Erscheinen selbstkritisch. Der von Magenau nachgezeichnete Weg von der Kandidatin des Zentralkomitees der SED hin zur, wenn auch stets vorsichtig taktierenden, Systemkritikerin und Autorin von "Kassandra" war nicht einfach. Ohne Zweifel gab es tapferere Gemüter in der DDR, gab es Menschen, die die Perversion im SED-Staat früher und stärker empfunden haben. Es gab Intellektuelle, die sich kompromissloser als Christa Wolf vom Sozialismus abgewandt haben, und Autoren, die die DDR schonungsloser kritisiert haben. Das alles wurde und wird Christa Wolf seit der Wende vorgeworfen. Sie war, was Magenau eine "loyale Dissidentin" nennt: "Sie bekannte sich zur DDR, weil sie eine Alternative zum Kapitalismus suchte. Sie blieb dort, weil sie nur dort schreiben konnte. Sie träumte vom Sozialismus, aber abseits der Partei. Sie ließ sich nicht zum Verstummen bringen, sondern hat ihre eigene Ausdrucksfähigkeit behauptet." Christa Wolf hat jedoch nicht nur ihre Ausdrucksfähigkeit behauptet. Sie hat stets ihre eigenen Schwächen, Fragen, Zweifel und "wunden Punkte" zum Movens ihres Schreibens gemacht. Konflikten ist sie nicht aus dem Weg gegangen. Die besten ihrer Werke sind so entstanden. Auch davon zeugt diese Biographie.

Titelbild

Jörg Magenau: Christa Wolf. Eine Biographie.
Kindler Verlag, Berlin 2002.
496 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3463403943

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