"Herrmannsschlacht" und Kleist-Archiv

Die Brandenburger Kleist-Ausgabe wird ergänzt

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Schwerlich lässt sich ein problembeladeneres Drama vorstellen als Kleists "Herrmannsschlacht": zugleich Propaganda für einen rücksichtslosen nationalen Kampf und dessen Analyse. Im Kontext der antinapoleonischen Kämpfe 1808/09 geschrieben, erhoffte sein Verfasser eine unmittelbare agitatorische Wirkung. Die österreichische Niederlage bei Wagram im Juli 1809 setzte den äußerlichen Schlusspunkt für solcherlei Erwartungen; zu Lebzeiten Kleists wurde das Stück weder aufgeführt noch gedruckt. Doch auch als es nach einer Teilveröffentlichung 1818 von Tieck 1821 vollständig publiziert wurde, war die Resonanz zunächst gering.

Noch bis weit ins nationalistische Kaiserreich nach 1871 hinein blieb die Wirkung unberechenbar, neigten Teile des Publikums, der Autorintention entgegen, zu einer Identifikation mit den zivilisierteren römischen Eindringlingen als mit den germanischen Verteidigern. Als Propaganda also krankte das Drama an seiner Radikalität: Kleist forderte den rücksichtslosen Kampf und vergaß, die Brutalität mit jener Moral zu drapieren, die seine Adressaten im Interesse ihres guten Gewissens forderten. Vielleicht waren es also auch inhaltliche Gründe, die eine zeitgenössische Rezeption verhinderten.

Dass Kleists Zeitstück jede Resonanz der Zeit fehlt, bedeutet für eine Edition des Textes sowohl Ungewissheiten als auch Vereinfachungen. Die differierenden Handschriften, die Johann Baptist Pfeilschifter als Zeitschriftenherausgeber einerseits und Tieck andererseits vorlagen, sind nicht erhalten. Eine Reihenfolge der Fassungen lässt sich ebensowenig erschließen wie die Frage beantworten, inwieweit die Drucke von Kleists Wortlaut abweichen. So blieb für Roland Reuß, der den Band I/7 der Brandenburger Kleist-Ausgabe unter Mitarbeit Peter Staengles herausgegeben hat, wenig mehr zu tun als jeweils einige der beiden Drucke zu kollationieren und die wenigen offenkundigen Fehler zu emendieren; letztere sind einzeln nachgewiesen.

Ob auf diese Weise ein Text verfügbar ist, der in Lautstand und Interpunktion Kleists Intentionen genauer vermittelt als spätere Ausgaben, muss ungewiss bleiben. Konnten Reuß und Staengle zu anderen Werken die Möglichkeit demonstrieren, dass die Eingriffe ihrer Vorgänger von Kleist gesetzte Bedeutungsdifferenzen verwischt haben könnten, existieren für die "Herrmannsschlacht" nur Vorlagen, die das Produkt der philologisch vermutlich wenig skrupulösen Pfeilschifter und Tieck sowie ihrer Drucker sind. Interpretationsansätze, die die Details von Orthographie und Zeichensetzung in den Mittelpunkt rücken, sind deshalb für dieses Drama nicht tauglich; und darum ist fraglich, inwieweit die Edition in diesem Fall gegenüber den etablierten Ausgaben von Sembdner und Barth/ Seeba einen Gewinn darstellt.

Doch folgt jede Gesamtausgabe einem eigenen Prinzip; diese, indem sie angemessenerweise jede Bearbeitungsstufe als ein Werk mit je eigenem Verweissystem begreift und folgerichtig das, was sonst als "Fassungen" oder gar als "Varianten" gilt, getrennt abdruckt. Unglücklicherweise aber hat die Brandenburger Ausgabe auch zum Prinzip, auf einen Zeilenkommentar zu verzichten. Das zwar nicht neue, aber durchaus treffende Argument, dass die pseudo-objektive wissenschaftliche Sprechform des Kommentars in der Entscheidung, was kommentiert wird und wie kommentiert wird, durchaus Interpretation ist, verführt Reuß und Staengle, anstelle des Kommentars selbst eine Interpretation vorzulegen. Das mag konsequent wirken, enthält dem Benutzer aber die Fülle historischer Informationen vor, die Anmerkungsapparate anderer Ausgaben im Regelfall enthalten.

Reuß' Darlegungen, die sich in der beigefügten 14. Ausgabe der Brandenburger Kleist-Blätter finden, führen zudem in keiner Hinsicht über die Argumentation hinaus, mit der in den 80er Jahren Kleist-Forscher das seit 1945 in die Peinlichkeitsecke gerückte Stück zu rehabilitieren versucht hatten: An Herrmann und Thusnelda würden sich die Deformationen zeigen, die Krieg und Lüge in den Subjekten anrichteten. Kleists Drama mutierte in dieser Perspektive zu einem Anti-Kriegsstück wider Willen.

Gegenläufige Ansätze, wie Wolf Kittlers Lesart, der zufolge das Stück als Veranschaulichung eines Partisanenkriegs zu betrachten ist, werden von Reuß nicht einmal erwähnt. Auch wer Nationalismus und Krieg ablehnt, kann hingegen an diesem einmalig konsequenten Werk lernen, wie sie funktionieren: Kleist stellt ein Instrumentarium bereit, um auch noch die Strategie der jugoslawischen Sezessionisten und der palästinensischen Guerilla zu verstehen. Ihre Bedeutung hat die "Herrmannsschlacht" als politisches Stück. Herrmann ist der Politiker in Reinform; und nur als solcher, nicht in seinem Abstand von einem idealisierten Privatmenschen, zu würdigen. Reuß dagegen beachtet den Unterschied zwischen den Maximen politischen und denen privaten Handelns nicht und kommt deshalb von der Analyse zur Moralkritik.

Der größte wissenschaftliche Zugewinn liegt dennoch in den Kleist-Blättern, die formal, wenn auch nicht vom Umfang her, als Beigabe daherkommen: Auf annähernd 900 Seiten ist mit den Buchstaben L-Z das biographische Archiv, das alle verfügbaren Dokumente und Zeugnisse zu Kleists Leben versammeln soll, nun vollständig.

Zwar ist die Anordnung, wie schon des ersten Teils in den Brandenburger Kleist-Blättern 13, alles andere als günstig: Dem erklärten Ziel, die Historizität der Zeugnisse hervorzuheben, wäre eine chronologische Reihung eher entgegengekommen als die alphabetische nach Autorennamen. Zudem fehlt ein Gesamtinhaltsverzeichnis, sondern findet sich nur zu jedem Buchstaben eine kleine Liste der publizierten Schriften. Wer gegenwärtig allein mit der Druckversion arbeiten möchte, muss bereits recht genau wissen, was er wo sucht.

Doch fällt dieser Mangel nicht nur deshalb wenig ins Gewicht, weil Abhilfe von der nächsten Ausgabe der Kleist-Blätter zu erhoffen ist, für die die notwendigen Register angekündigt sind. Bereits jetzt ist unter der Internet-Adresse http://www.textkritik.de/bka ein problemloser Zugriff auf die Suchfunktionen möglich, die den Gebrauch der Textmasse ermöglichen. Aufgenommen sind in die elektronische Version auch jene Zeugnisse, die in früheren Ausgaben der Brandenburger Kleist-Blätter publiziert und deshalb im biographischen Archiv nicht erneut gedruckt wurden.

Die parallele Veröffentlichung im Netz lässt auch die Aufnahme jener Texte sinnvoll erscheinen, die im Druck zu finden verwundert. Nicht immer ist ja die Abgrenzung von Dokument und späterer Forschung problemlos möglich, zumal wo zeitgenössische Äußerungen im Kontext späterer Untersuchungen überliefert sind. Man könnte streiten, ob etwa fast 50 Seiten mit Auszügen aus Reinhold Steigs weitverbreiteter Darstellung von "Heinrich von Kleist's Berliner Kämpfen" oder gar 150 Seiten mit Theophil Zollings Einleitung zu seiner Kleistausgabe, die eine kleine Biographie darstellt, hätten gefüllt werden müssen. Der Vorteil aber bleibt, dass diese Texte nun auch da, wo nicht wie allerdings bei Steig ein brauchbares Register vorliegt, besser zu erschließen sind.

Ob deshalb die elektronische Publikation diejenige ist, die am nützlichsten ist, bleibt abzuwarten und hängt sicher auch von der Qualität des ausstehenden Registers ab. Dass aber das biographische Archiv für Forschungen zu Kleists Leben und seiner Rezeption vor allem im 19. Jahrhundert von großem Wert sein wird, kann schon jetzt festgestellt werden.

Titelbild

Heinrich von Kleist: Die Herrmannsschlacht. Brandenburger Ausgabe. Band I/7.
Herausgegeben von Roland Preuß und Peter Staengle.
Stroemfeld Verlag, Frankfurt a. M. 2001.
199; 913 Seiten, 75,70 EUR.
ISBN-10: 3878773420

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