Fassade eines kaputten Lebens

Bodo Morshäuser erzählt von Sekten und Sektierern

Von Thomas KraftRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Kraft

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In den siebziger Jahren gab es - pars pro toto - drei Möglichkeiten, sich als Jugendlicher zu orientieren: man radikalisierte die politischen Ideen der Studentenbewegung und sympathisierte mit RAF und Stadtguerilla, oder man verabschiedete sich von allen Utopien und Engagements und fand bei Glam und Disco zu schriller Körperlichkeit, oder man zog sich friedensbewegt, ökologisch und esoterisch bei Räucherstäbchen und Kräutertee aufs flache Land zurück und probierte alternative Lebensformen aus. Die Diskussion um 1968 und die Folgen hat in den letzten Jahren zu heftigen Kontroversen geführt; mittlerweile ist das Thema auch in der deutschen Literatur angekommen, Romane von Uwe Timm, Franz-Maria Sonner und Ulrich Woelk geben auf sehr unterschiedliche Weise Zeugnis davon ab, was aus den Ideen der Aufklärung und der gesellschaftlichen Veränderung geworden ist.

Auch Bodo Morshäuser, erprobter Chronist der achtziger und neunziger Jahre, wendet sich in seinem jüngsten Roman - "In seinen Armen das Kind" - diesen Phänomenen zu, aber weniger aus der Perspektive des sentimentalen Veteranen, sondern als neugierig Fragender, der, wie einem dem Buch beiliegenden Folder zu entnehmen ist, "wissen will, in welcher Welt ich lebe. Die Welt, das scheint das Sichtbare zu sein. Und das täuscht. [...] Ein Toter ist sichtbar, das Motiv für einen Mord nicht. Ich suche eher das Motiv, als dass ich mir lange die Leiche anschaue. Dazu muß ich in die Gefilde der Unsichtbarkeit steigen. Und recherchieren. Um danach eine Geschichte zu erzählen."

So wählt Morshäuser auch die Figur eines Erzählers, der sich über viele Jahre hinweg mit einem Bekannten trifft, wenn auch in großen Abständen, und von diesem die Geschichte dieses Romans erzählt bekommt. Diese Konstellation ist mit Bedacht und klug gewählt, denn sie erlaubt den erhellenden Wechsel von direkter Erzählhaltung zu distanzierteren Perspektiven. So ist dieser Roman auch eine Mischform aus Thriller und Kommentar, Lebensbericht und Generationenporträt. Das funktioniert über weite Strecken des Romans recht gut, ergibt manchen Spannungsbogen und ermöglicht die Auffächerung eines breit angelegten Zeitpanoramas. Darin liegt allerdings auch das Manko dieses ambitionierten Projektes begründet: seine Überinstrumentiertheit und seine Unentschlossenheit.

Die Geschichte des drogensüchtigen Schauspielers Maik Steiner, der seinen einer flüchtigen Beziehung entsprungenen Sohn sucht und dabei mit kriminellen Sekten und Landkommunen im Fränkischen konfrontiert wird, kommt sehr langsam auf Touren. Ausführlich und detailfreudig werden Berliner Szenekneipen, Dealerwohnungen und Meditationstreffpunkte beschrieben; gleichsam konzentrisch werden die Lebenswelten der Hauptfiguren eingekreist, bis Bewegung in die Sache kommt. Maiks Freundin Vera, eine "Kreuzberger Göre mit Ambitionen", verschwindet mit dem gemeinsamen Sohn aus Berlin und wendet sich zwielichtigen Leuten zu, die wie Gurus Hof halten und Zentren wie das "Institut der experimentellen Erfahrung" betreiben. Maik entdeckt auf seiner jahrelangen Recherche, dass hinter der Fassade des "anderen Lebens" Ausbeutung, Kinderprostitution, Inzest und Gehirnwäsche stecken. Anleihen an bekannte Sekten wie die des Österreichers Otto Mühl und der amerikanischen Davidianer sind unverkennbar. Die Kriminalisierung und Zerstörung individueller Lebensentwürfe steht im Fokus des Romans, der den Konnex mit der Zeitgeschichte nicht auf gesamtgesellschaftlicher Ebene, sondern nur im Erlebnisraum der Figuren herstellt. Und doch bleibt gerade ein zentrale Figur wie Vera, deren Handeln immerhin den Anschub des Erzählens auslöst, seltsam blass und unwirklich. Das mag daran liegen, dass sich der Erzähler viel Zeit für das Beschreiben von Orten und Nebensächlichkeiten nimmt, diese Details aber nur bedingt für die Erhellung von Motiven und Zusammenhängen einsetzt.

Wenn sich am Ende die Lebenswege fast aller Hauptfiguren noch einmal kreuzen und auf einen Höhepunkt zustreben, der einem Showdown gleichkommt, ist angesichts der vielen Personen, Situationen und Zeiträume der lange Atem des Erzählers - vielleicht vom vielen Kiffen - ein wenig trübe und stockend geworden. Man hat über die vielen Seiten hinweg das Interesse an den Figuren verloren, so wie der Erzähler irgendwann weder Vera noch Maik wiedersehen will. Das könnte natürlich auch Absicht sein, wie der Schlussstrich unter eine Zeit voller Irrtümer, falscher Heilsbringer und leerer Versprechungen. Dann müßte allerdings auch der Roman radikaler in seiner Sprache und pointierter in seiner Form sein. Das interessante Thema allein reicht nicht für einen großen Roman.

Titelbild

Bodo Morshäuser: In seinen Armen das Kind. Roman.
Insel Verlag, Frankfurt a. M. 2002.
365 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-10: 3518413120

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