Waren die 68er eine soziale Bewegung und ein internationales Phänomen?

Ingrid Gilcher-Holteys "Die 68er Bewegung"

Von Blanka StolzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Blanka Stolz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Darstellung des Aufstiegs, der Ziele und des Zerfalls der 68er Bewegung in Deutschland, Westeuropa und den USA setzt sich Ingrid Gilcher-Holtey zur Aufgabe. Die von ihr vorgenommene seltsame Aufteilung der Länder in Deutschland und Westeuropa, das bei ihr vor allem aus Frankreich und Italien besteht, lässt Fragen auftauchen. In einer vergleichenden Analyse will sie Gemeinsamkeiten der Bewegungen in den verschiedenen Ländern herausstellen. Dabei gilt es über nationale Besonderheiten, die Entstehung und Verlauf erklären, hinauszugreifen und die historischen Vorgänge theoretisch zu reflektieren.

Es ist erfreulich, dass Gilcher-Holtey eine analytische Perspektive wählt - Theoriebildung ist in der entsprechenden Forschung durchaus unterbelichtet - allerdings ist die von ihr verwendete soziale Bewegungstheorie und ihre Anwendung auf 1968 auch nicht unumstritten. Leider diskutiert sie weder neuere Ansätze der Forschung über die Bewegung, noch verweist sie auf diesen Umstand. Vielmehr beschränkt sie sich zu Beginn jedes Kapitels auf eine theoretische Einleitung, die zwar dem Buch als ein roter Faden dient, aber meist nur aus dem selektiven Referieren von analytischem Vokabular besteht. Hinzu kommt, dass das Buch in der C. H. Beck'schen Wissensreihe erschienen ist, sich an ein breites Publikum wendet und durchaus als Text für Einsteiger gedacht ist. So liegt in der knappen Form der Grundwissenvermittlung das Problem, dass die an sich schon problematische Theorieschau unterdefiniert bleibt. Soziale Bewegung sei ein auf Dauer gestelltes und durch kollektive Identität gestütztes Netzwerk von Gruppen und Organisationen, die sozialen Wandel mittels öffentlicher Proteste herbeiführen, verhindern oder rückgängig machen wollen, so Gilcher-Holtey. Was macht kollektive Identität aus? Wie konstituiert sie sich? Sie unterschlägt, dass der Begriff der Identität an sich in der Forschung umstritten ist wie kaum ein anderes Konzept. Was will sie mit Netzwerken, Gruppen und Organisationen bezeichnen? In ihrer Summierung verwischt sie die Unterschiede zwischen den verschiedenen sozialen Organisationsformen anstatt diese Kategorien im Folgenden zu präzisieren.

Im Anschluss an die theoretischen Einleitungen findet sich dann nach Orten geordnet eine chronologische aber selektive Synopse der Ereignisse in den USA, Großbritannien, Frankreich, Italien und Deutschland ausgehend von den Wurzeln von 1968 - den Ideen der Neuen Linken, aus denen fast automatisch die Bewegung sprießen wird: Beginnend im Frühjahr 1960 in England ist das der Kreis um die "New Left Review", in Frankreich um "Argument" und die Situationistische Internationale, in Deutschland um den Argument-Klub. Die schwierige Darstellungsweise der sich überlagernden Ereignisse gestaltet sie teilweise nicht sehr anschaulich, da sie für die Vielzahl von Organisationsbezeichnungen mit verwirrenden, im Falle des 'Sozialistischen deutschen Studentenbundes' und dem US-amerikanischen 'Students for a Democratic Society' (unglücklicherweise beides SDS) sich überschneidenden Abkürzungen aufwartet. Wäre der Text eine spezifische Publikation zu der Rolle der studentischen Organisationen in den USA, Deutschland und Frankreich, wäre diese Vorgehensweise gerechtfertigt, aber in einer Einführung in das doch recht breite Thema ist dies unangebracht.

Es bleibt auch unklar, was Gilcher-Holtey als soziale Bewegung überhaupt analysieren möchte: das Selbstverständnis der 68er, nämlich eine Bewegung zu sein, oder das Zustandekommen einer wirklich 'breiten' sozialen Bewegung. Diese allerdings, so schreibt sie selbst, gab es nur in Frankreich: Die Arbeiterschaft solidarisiert sich mit der Studentenbewegung und tritt in den Generalstreik, in dessen Folge die Regierung zurücktreten muss. Auch scheitert die Autorin mit ihrem Vorhaben, den Wandel, den die Bewegung hervorgerufen hat, ihr direkt zuzurechnen. Sie selbst sagt, dass soziale Bewegungen ein fluides soziales Phänomen seien, die neue "issues" definieren, und stets mit anderen Faktoren sozialen Wandels konkurrieren, so dass sich ihr eigenständiger Beitrag nur schwer isolieren lässt, während sie am Anfang noch von einer Veränderung grundlegender Strukturen der Gesellschaft durch die 68er Bewegung spricht.

Zudem fällt unsaubere Recherchearbeit auf: "I rebel, therefore we exist" wird vorschnell Tom Hayden, dem US-amerikanische SDS-Vordenker des Port Huron Statements, zugeschrieben, obwohl das Zitat ursprünglich von Albert Camus aus "L'homme révolté" stammt, den Hayden hier zitiert und auf dessen wichtige Rolle die Autorin selbst verweist.

So ist das Buch weder eine kompetente Einführung in theoretische Ansätze zur Betrachtung der 68er Bewegung noch eine anschauliche Chronologie der Ereignisse für Einsteiger - die Aufgabe, die sich Gilcher-Holtey gestellt hat, verschwimmt in analytischer Unschärfe. Für Fachleute wiederum ist die Darstellung zu knapp gehalten und zu unsauber recherchiert, als dass Neues oder Anregendes transportiert werden könnte.

Titelbild

Ingrid Gilcher-Holtey: Die 68er Bewegung. Deutschland, Westeuropa, USA.
Verlag C.H.Beck, München 2001.
136 Seiten, 7,50 EUR.
ISBN-10: 3406479839

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch