Ni Dieu, ni maître, ni l'homme

Toni Negri und Michael Hardt über die neue Weltordnung des "Empire"

Von Marc RölliRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marc Rölli

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit "Empire" haben Michael Hardt und Antonio Negri einen Bestseller der politischen Theorie vorgelegt. Sie treffen mit ihrem neuesten Buch ins Schwarze der gegenwärtigen Verwirrung linker Intellektueller, die mit ihren postmodernen Ratgebern im Gepäck doch nicht gänzlich die marxistischen Auffassungen und kommunistischen Ideale von gestern preisgeben wollen. "Empire" stellt den Versuch dar, im Durchgang durch die machtkritischen Arbeiten Foucaults und die Kapitalismus-Studien von Deleuze und Guattari die materialistische Gesellschaftstheorie zu reformieren und auf den neuesten Stand zu bringen. Als Akteur der Geschichte firmiert nicht länger die industrielle Arbeiterklasse, sondern die Menge (multitude), deren konstituierendes Vermögen die grundlegende soziale Produktivkraft darstellt, "die das Empire erhält und zugleich [...] nach seiner Zerstörung ruft und diese möglich macht."

Die Generalthese der Autoren besagt, dass im Zuge der Globalisierung, nämlich der Errichtung des Weltmarktes, eine neue imperiale Herrschaftslogik auf den Plan tritt, die sich mit dem allmählichen Verschwinden der nationalstaatlichen Souveränität konstituiert. "Die Globalisierungsprozesse zielen [...] auf die Schaffung einer einzigen supranationalen Gestalt politischer Macht." Diese These wird von drei wesentlichen Annahmen gestützt, die die Autoren in den drei Hauptkapiteln ihres Buches entwickeln. Erstens zeigt ein ideengeschichtlicher Abriss, der auf die Veränderungen der Souveränitätsmacht fokussiert, dass im Übergang zur Postmoderne das kapitalistische Projekt des Imperialismus, das an nationalstaatliche Regierungsformen gekoppelt war, zu einem Ende gekommen ist. Zweitens verlagert sich die Untersuchung dieses Übergangs zum Empire von den formalen rechtstheoretischen Fragen auf die Ebene der Produktionsweisen. Die Autoren diagnostizieren einen fundamentalen Wandel innerhalb der Arbeitsverhältnisse: an die Stelle der Disziplinargesellschaft im Zeitalters des Industrialismus tritt die biopolitische Kontrollgesellschaft. Kommunikative, kooperative und affektive Arbeit verdrängen die Fabrikarbeit von ihrer privilegierten Position. Auf diese Weise entsteht - so die dritte Hypothese - ein neues Proletariat, neue Formen der Unterdrückung und neue Möglichkeiten der Befreiung, die die Autoren in ihrem abschließenden Kapitel diskutieren. Im folgenden werde ich die drei Punkte nacheinander erläutern.

Die Überlegungen zur Souveränitätsmacht nehmen ihren Ausgang von Stephen Toulmins Begriff der Moderne. Demzufolge erscheint die Moderne in zwei Spielarten: zum einen als revolutionärer Prozess der Entdeckung der Immanenz (Renaissance-Humanismus), der die Verbindungen zur Vergangenheit und ihrer theologischen Ordnung auflöst. Zum anderen als Reaktion auf diese Krise in Gestalt der Autorität, die in der Ausbildung des modernen Staats als Ort der Souveränität das Mittel findet, die immanenten Kräfte zu transzendieren und im Zaum zu halten. "Die Moderne definiert sich über die Krise, eine Krise, die sich aus dem unaufhörlichen Konflikt zwischen den immanenten, konstruktiven und schöpferischen Kräften auf der einen und der transzendenten Macht, welche die Ordnung wiederherstellen will, auf der anderen Seite definiert." Hardt und Negri präsentieren die Geschichte der Aufklärung von Descartes bis Hegel als eine Geschichte der transzendenz- und repräsentationsgeleiteten Legitimation souveräner Macht. Die Aufklärung muss auch hier über sich selbst aufgeklärt werden.

Der Übergang von der feudalen Ordnung zur disziplinarischen Ordnung vollzieht sich im Zeichen der Nation. Territorium, Bevölkerung und Sprache sind nicht länger dem Körper des Königs einverleibt, sondern gehören zum transzendenten Wesen der Nation. Ihre volle politische Ausprägung erhält sie in Verbindung mit dem Begriff des Volkes. Das Volk ist die homogene Einheit eines Willens: seine internen Unterschiede werden "mittels Repräsentation der gesamten Bevölkerung durch eine hegemoniale Gruppe, Rasse oder Klasse" verwischt. Die Menge - heterogene Vielzahl von Singularitäten - muss gewissermaßen zum Volk geläutert werden. Das bedeutet in der Praxis rassistische Unterwerfung und soziale Säuberung. Freilich spielt der Begriff der Nation im Befreiungskampf von Minoritäten oftmals eine progressive Rolle. Sobald allerdings die Nation die Gestalt eines souveränen Staates annimmt, kommt diese produktive Funktion - so Negri und Hardt - zum Verschwinden.

Wenn der Nationalstaat nach innen Einheit des Volkes bewirkt, so erzeugt er nach außen Alterität (vgl. Edward Saids Buch über den Orientalismus). Das ist in Bezug auf den Kolonialismus und die in ihm lebendige Dialektik der Anerkennung bezeichnend. Das Böse des kolonisierten Anderen macht das Gute des europäischen Ichs erst möglich. Anthropologie und Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert stellen die außereuropäischen Menschen als primitive, unentwickelte Formen der Europäer dar und rechtfertigen auf diese Weise Kolonialherrschaft und Sklaverei. Dem entspricht, dass der europäische Reichtum lange Zeit auf Produktionssystemen der Sklaverei beruhte. Die Sklavenarbeit, die - so scheint es - im Widerspruch zur modernen Ideologie der Verfügungsgewalt des Arbeiters über seine Arbeitskraft steht, gibt sich somit als Stütze und nicht als bloße Vorform oder Übergangsform der kapitalistischen Produktionsweise zu erkennen. Nun erweist sich die Dialektik des Kolonialismus als fatal: sie mündet in die schlechte Alternative zwischen Unterwerfung unter das Kapital oder Rückfall zu traditionellen, regionalen Gesellschaftsstrukturen. Anders gewendet: die antiimperialistischen Kämpfe, die im Zeichen der Nation geführt werden, führen unweigerlich zur Errichtung neuer Herrschaftsstrukturen - nicht zuletzt deshalb, weil das Ende des Kolonialismus den Übergang zum Empire und zu der vom Weltmarkt ausgeübten globalen Kontrolle markiert.

Symptome dieses Übergangs finden die Autoren im Diskurs des Postmodernismus und Postkolonialismus. Es handelt sich hierbei um "Symptome", weil die Theoretiker der Postmoderne in ihrem "Lang lebe die Differenz. Nieder mit den essentialistischen Binärcodes!" nur das immanente Bewegungsgesetz eines neuen Macht-Paradigmas artikulieren. Mit ihrer Kritik richten sie sich somit auf Herrschaftsformen der Vergangenheit und verfehlen den wirklichen Feind der Gegenwart: das Empire. "Die Strukturen und Logiken der Macht in der heutigen Welt sind völlig immun gegen die 'befreienden' Waffen der postmodernen Politik der Differenz." Die Gurus der Unternehmenskultur der Global players predigen inter- oder transkulturelles "diversity-management" zur Steigerung der Profitrate.

Die amerikanische Revolution stellt laut Hardt und Negri einen Bruch in der Genealogie der modernen Souveränität dar. Die Originalität des Souveränitätsbegriffs der US-Verfassung besteht im Gegensatz zu europäischen Vorstellungen, die die politische Macht einem transzendenten Bereich zuordnen, darin, dass er die Politik vollständig in die Gesellschaft integriert. Das in ihm angelegte Prinzip der Expansion ist nicht imperialistisch, sondern unbegrenzt einschließend. Andere Mächte, auf die diese "Netzwerk-Macht" trifft, werden nicht zerstört oder annektiert, sondern in das Netzwerk eingebunden. Die Grenze (frontier) ist eine Grenze der "Freiheit". Nun wollen Hardt und Negri nicht sagen, dass die konkrete politische Realität in den USA widerspruchslos war: die amerikanischen Ureinwohner waren von der Verfassung ausgeschlossen und die versklavten Afrikaner verfügten über keinen vollwertigen Rechtsstatus. Trotzdem setzte sich Präsident Wilsons verrückter Traum von einer internationalistischen Friedensideologie nach dem Ende des Kalten Krieges mehr und mehr durch. Die USA üben heute eine internationale Polizeifunktion aus, sorgen für Frieden und Gerechtigkeit auf der Welt, "und zwar nicht aus eigenen nationalen Erwägungen heraus, sondern im Namen des globalen Rechts." Dieser Universalitätsanspruch mag problematisch sein, aber er ist es auf eine neuartige Weise: "Die USA als Weltpolizist handelt nicht im Interesse des Imperialismus, sondern im Interesse des Empire" - auf Anfrage der UNO, internationalen Finanz- und Friedensorganisationen. Die privilegierte Stellung der USA ergibt sich also aufgrund der globalen Expansion ihres nicht imperialistischen, sondern imperialen Verfassungsprojekts, das auf dem Modell beruht, offene Räume durch mannigfaltige Netzwerkbeziehungen zu organisieren.

Die Internationalisierung und Globalisierung des Rechts bietet den Autoren des Empire den naheliegenden Zugang zu den Konstitutionsprozessen der neuen imperialen Weltordnung. Im Rückgriff auf den Rechtsphilosophen Hans Kelsen machen sie auf die Transformation der Rechtsstrukturen aufmerksam, die mit der Gründung des Völkerbunds und der Vereinten Nationen einhergeht. Dieser hatte betont, dass das Recht ein über den Einzelstaaten stehendes universales Gemeinwesen begründet, das zur "Organisation der Menschheit" dient "und damit eins mit der höchsten sittlichen Idee" ist. Im neuzeitlichen politischen Denken stehen die Ideen vom inter- oder supranationalen Recht und vom ewigen Frieden Seite an Seite. "Empire heißt Frieden, [...] garantierte Gerechtigkeit für alle." Zur Erreichung dieses Ziels ist die Macht mit den notwendigen Gewaltmitteln versehen, um "gerechte Kriege" - man beachte die neueren Entwicklungen im so genannten Interventionsrecht - zu führen gegen den Terror im Inneren. "Zum einen wird der Krieg auf den Status einer Polizeiaktion reduziert, zum andern sakralisiert man die neue Macht, deren Vorgehen mit Mitteln des Kriegs moralisch legitimiert ist." Das Empire wird aufgrund seiner Konfliktlösungskompetenz ins Leben gerufen: es geht aus den vereinheitlichenden und zentralisierenden Tendenzen der Regulierung des Weltmarktes hervor, die auf die Konsolidierung eines Verwaltungsapparates und auf die Schaffung neuer Herrschaftshierarchien abzielen. In diesem Sinne kann der Niedergang nationalstaatlicher Strukturen am Entwicklungsweg bestimmter juridisch-ökonomischer Körperschaften verfolgt werden: des internationalen Zoll- und Handelsabkommens GATT, der Welthandelsorganisation WTO, der Weltbank, des Internationalen Währungsfonds IMF oder neuerdings des Internationalen Strafgerichtshofs.

Rechtsbegriffe und Rechtssysteme stehen in einem gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang. Die Untersuchung des Empire verlagert sich deshalb in einem zweiten Schritt auf die materiellen Bedingungen der Produktionsmittel und der Produktivkräfte. Auf dieser Ebene stellt sich der von den Autoren anvisierte Übergang von der (imperialistisch geprägten) Moderne zur (imperial verfassten) Postmoderne als ein Prozess der Informatisierung der Produktion dar. Wenn die Modernisierung im Zeichen der Industrialisierung steht, so steht die "Postmodernisierung" im Zeichen einer sich entwickelnden Dienstleistungsgesellschaft. Zentraler Aspekt dieses Übergangs ist ein Paradigmenwechsel innerhalb der Machtformation: das Regime der Disziplin wird abgelöst durch ein Dispositiv, das gleichzeitig biopolitische Produktionsformen und entsprechende Kontrollmechanismen installiert. Die Autoren verknüpfen kurzerhand die These von Deleuze, dass die Kontrollgesellschaften die Disziplinargesellschaften ablösen, mit der These Foucaults, dass sich die "Biomacht" die "Disziplinarmacht" gefügig macht.

Für die Intention der Autoren, materialistische Machtkritik und Befreiungsphilosophie zu betreiben, ist entscheidend, dass im Zuge der Globalisierung im "Zeitalter des Empire" die Fabrikarbeit ihren Nimbus verliert: Immaterielle Arbeit, die Güter wie Dienstleistungen, kulturelle Produkte, Wissen oder Kommunikation herstellt, durchdringt alle Lebensbereiche und steht im Mittelpunkt des Produktionsprozesses. "Die Umwälzung der Produktion durch Computer und Kommunikation hat die Arbeitsprozesse derart verändert, dass sie sich alle dem Modell der Informations- und Kommunikationstechnologien annähern." Plakatives Beispiel wäre der Übergang vom Fordismus zum Toyotismus und die in diesem Zusammenhang zu beobachtende Umkehrung der Kommunikationsstruktur zwischen Produktion und Konsumtion.

Zur Erläuterung der biopolitischen These, dass die Produktion von Kapital und die Produktion und Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens zunehmend zusammenfallen, kommen die Autoren auf die Marxsche Theorie des Mehrwerts zurück. Das Erfordernis der Realisierung des Mehrwerts kann demnach durch die imperialistische Einverleibung der nichtkapitalistischen Umgebung befriedigt werden. Wenn dieser Prozeß aber an seine Grenzen stößt, weil es kein räumliches Außen für die Ausbreitung des Marktes mehr gibt, wandelt sich die extensive Expansion des Kapitals: sie wird intensiv. Im Anschluss an Jameson behaupten Hardt und Negri, dass die Postmoderne in dem Moment einsetzt, da der Modernisierungsprozess und die formelle Subsumtion des kapitalistischen Außen zu einem Ende gekommen ist. Die postmoderne Akkumulation stützt sich hingegen auf die reelle Subsumtion des kapitalistischen Bereichs selbst - was einem Sprung innerhalb der technologischen Organisation der Arbeit wie oben beschrieben gleichkommt.

Eine methodische Eigentümlichkeit der von Hardt und Negri vorgetragenen historischen Gesellschaftsanalyse besteht darin, dass sie der "Menge" oder dem Proletariat die primäre und tragende Rolle im Geschichtsverlauf zuschreiben. "Tatsächlich erfindet das Proletariat die gesellschaftlichen Formen und die Formen der Produktion, die das Kapital für die Zukunft zu übernehmen gezwungen ist." Anders gesagt: die Ursache der kapitalistischen Krise ist immer der proletarische Kampf. In diesem Sinne stellt auch das Empire nichts als eine Antwort auf den proletarischen Internationalismus dar. Die souveränen Herrschaftsformen regulieren stets nur nachträglich die Mannigfaltigkeit der schöpferischen Produktivität der "Menge", die ontologisch vorauszusetzen ist. Auf dem Weg zur Bestimmung des revolutionären Subjekts der Geschichte stoßen die Autoren auf diese "Menge", die andererseits strikt eingebunden ist in die globalen Machtverhältnisse, die noch die Prozesse der Subjektivierung nahtlos durchdringen. Die "Menge" ist die Menge all derer, die schöpferisch tätig sind und sein könnten, de facto aber ausgebeutet werden. Gegen die Ausbeutung aber formiert sich stets aufs Neue der Widerstand. Das Buch "Empire" begreift sich in diesem Sinn als "begriffliche Werkzeugkiste", um das Empire denken und also gegen es handeln zu können. Welche konkreten Formen dieser Widerstand annehmen kann, wie er organisiert werden kann, bleibt weitgehend offen: die Praxis ist unvorhersehbar.

Es scheint sehr einfach zu sein, die unbeherrschte Kraft der "arbeitenden Bevölkerung" von den sekundären oder parasitären Formen der Ausbeutung zu trennen. In diesem Sinne proklamieren die Autoren: "Big government is over!", denn selbst im Neoliberalismus ist die Staatsmaschinerie als Kontrollorgan für die weltweit agierenden Großunternehmen unverzichtbar. Gegen die Kahlschlagargumente der Pop-Philosophen des Empire drängt sich unbezwingbar der Verdacht auf, dass sich die Großartigkeit des Empire und die Großartigkeit der Menge aufgrund dogmatischer Vorannahmen wunderbar entsprechen. Von den sogenannten Philosophen der Differenz wäre zu lernen gewesen, dass der Rückgriff auf das Freiheitspotential unterschiedlichster Selbstpraktiken nur "mikropolitisch" produktiv zu machen ist. Das politische Subjekt der Geschichte und die Fragmentierungen postmoderner Subjektivität lassen sich ebenso wenig unter einen Hut bringen wie die allgegenwärtigen und lückenlosen Kontrolltechniken und das schöpferische Begehren der Multitude. Man(n) - das schlagen auch die Frauenbewegungen vor - sollte kleinere Brötchen backen.

Titelbild

Michael Hardt / Antonio Negri: Empire. Die neue Weltordnung.
Übersetzt aus dem Englischen von Thomas Atzert ; Andreas Wirthensohn.
Campus Verlag, Frankfurt a. M. 2002.
461 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-10: 359336994X

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