Textueller Parasitismus

In "Limited Inc." streiten Derrida und Searle nicht nur um die Vorrangstellung des kontinentalen vor dem anglo-amerikanischen Denken

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Es kommt [...] der Tag, wo man das dringende Bedürfnis hat, die Theorie ein wenig auseinanderzuschrauben, den Diskurs [...], der sich wiederholt, verhärtet, etwas zu verschieben." Der späte Roland Barthes, der diesen Satz an zentraler Stelle in seinem Text "Le plaisir du texte" positioniert hat, hat damit nicht nur Jacques Derridas Methode der Dekonstruktion paraphrasiert, sondern zugleich das gemeinsame Anliegen der Poststrukturalisten formuliert. Suchte man nach einem Motto für das poststrukturalistische Engagement, könnte man sich der impliziten Forderung Theodor W. Adornos in seiner "Ästhetischen Theorie" bedienen, wonach Philosophie vom kritischen Einspruch gegen theoretische Absolutierungen und Totalisierungen motiviert sei und sich der Aufgabe zu verschreiben habe, "dem Heterogenen Gerechtigkeit widerfahren" zu lassen. Diese Aufforderung, dem Anderen, Nichtidentischen gerecht zu werden, hat Michel de Certeau veranlasst, für den Poststrukturalismus den Terminus der "Heterologie", der Lehre vom Anderen, zu prägen. Die Absicht, das Andere als den von theoretischen Strukturen ausgeschlossenen Rest zu rehabilitieren, lässt sich reformulieren als die Intention, den blinden Fleck der jeweiligen Theorie aufzudecken und so Aspekte ihres Gegenstandes zu beleuchten, die diese in ihrer Orientierung an zentralen Begriffen an die Peripherie verdrängte. An die Kritik am Ausschluss des methodisch inkompatiblen "Anderen" schließen poststrukturalistische Denker ihr Plädoyer für die Differenz an - ein Plädoyer, das nun als Stellungnahme für das Offene und Unkontrollierbare des Spiels der Differenzen zugleich zur Parteinahme für das konkrete, je ausgeschlossene Andere wird; sei dies wahlweise der "Nicht-Sinn", das "Parasitäre", der "Delinquent" oder der "Wahnsinn". Dass der Sinn nie starr und eindeutig ist, sondern flüchtig und unkontrollierbar, hat im Besonderen für Derrida auch damit zu tun, dass Sinn immer auf den Nicht-Sinn bezogen bleibt, und zwar aus der Perspektive des Ausschlusses heraus. Damit der Sinn sinnvoll ist, muss er den Nicht-Sinn zurückweisen, ihn aus dem System ausschließen. Mit diesem Vorgehen gelingt es scheinbar, den flüchtigen Sinn festzuhalten. Ein Hauptanliegen der Dekonstruktion besteht nach Derrida genau darin, an Texten im Detail zu zeigen, wo das Ausgeschlossene gegen den Willen des Autors wiederkehrt und die Festlegung des Sinns durcheinander bringt oder ganz und gar auflöst. Derrida entwickelt in seinen Texten ein feines Gespür für das Ausgeschlossene, dem er zu seinem eigenen Recht verhelfen möchte. Die Idee eines Zentrums, eines vollständig kontrollierbaren Sinns, über den das Subjekt verfügt, ist auf den Ausschluss des jeweils Entgegenstehenden angewiesen. Ohne diesen Ausschluss würde eine solche Vorstellung als Illusion in sich zusammenbrechen.

Derridas Antwort darauf ist zunächst allgemein sein Verfahren der Dekonstruktion, das von Heideggers Destruktion der abendländischen Metaphysik inspiriert worden ist, die, so der Vorwurf, das Sein immer als Seiendes gedacht habe. Da es laut Derrida keine Möglichkeit gibt, jenseits der Metaphysik der Präsenz zu denken, geht es darum, das Scheitern ihrer Begriffe und Theorien vorzuführen, ihre "blinden Flecke" offen zu legen und die Hierarchien, die sie etablieren möchte, zum Einsturz zu bringen. Diese Hierarchien funktionieren nur, weil etwas als bedeutungslos, unwichtig oder untergeordnet bestimmt werden muss. Trotzdem bricht dieses Ausgeschlossene immer wieder in den Versuch ein, es aus der Theorie fernzuhalten. Neben diesem Verfahren einer dekonstruktiven Lektüre hierarchischer Strukturen philosophischer Texte wendet sich Derrida verstärkt auch solchen Begriffen zu, die sich, wie er in "Positions" hervorhebt, keiner Hierarchie einfügen, "die nicht mehr innerhalb des philosophischen (binären) Gegensatzes verstanden werden können und ihm dennoch innewohnen, ihm widerstehen, ihn desorganisieren, aber ohne jemals einen dritten Ausdruck zu bilden, ohne jemals zu einer Lösung nach dem Muster der spekulativen Dialektik Anlaß zu geben." Dazu zählt das "Pharmakon", das sowohl "Heilmittel" wie auch "Gift" bedeutet, das "Hymen", das weder "Vereinigung" noch "Trennung", weder "Vollzug" noch "Unberührtheit" bedeutet, das "Gramma", das weder "Signifikant" noch "Signifikat" ist usw. Alle diese Begriffe sind unentscheidbar, sind nur Scheineinheiten, die etwas und seinen Gegensatz zugleich bezeichnen. Der Sinn ist in ihnen nicht eindeutig, sondern oszilliert, und das macht sie zu Begriffen, die in gewisser Weise aus der abendländischen Metaphysik herausfallen. Das hat schließlich auch Auswirkungen auf die Art zu schreiben. Wenn der Sinn nicht von einem Zentrum aus regiert wird und nicht festgemacht werden kann, wenn die Versuche des Logozentrismus, mit Hierarchien Ordnung zu schaffen, nur durch Ausschluss funktionieren können und letztlich sich selbst widersprechen, dann kann man es unternehmen, auf eine neue Art philosophische Texte zu schreiben; auf eine Art, die die spezifischen Forderungen der abendländischen Metaphysik untergraben. Zum Beispiel kann man zwei Texte auf einer Seite nebeneinander stellen und schauen, ob sich zwischen ihnen Sinn ergibt, wie Derrida dies in "Tympanon" veranschaulicht hat. Man kann lautliche Ähnlichkeiten ausbeuten, die einen Zusammenhang herstellen, von dem die Metaphysik nicht gerade behaupten würde, dass er "in der Natur der Sache" liegt. So verwendet Derrida etwa in "Glas" die französische Aussprache des Namens von Hegel, um einen Zusammenhang zu Adler (frz. "aigle") herzustellen. Die Versuche Derridas, dem Logozentrismus zu entkommen, bedeuten aber nicht, dass er darauf verzichten will, zu argumentieren. Im Gegenteil: In "Positions" führt er aus, es sei klar, "daß es keineswegs darum geht, einen Diskurs gegen die Wahrheit oder gegen die Wissenschaft zu führen (das wäre unmöglich und absurd)". Man entkommt der Metaphysik nicht, sondern kann lediglich versuchen, langsam das philosophische Feld zu verschieben oder es für andere Weisen des Schreibens zu öffnen.

Vor diesem Hintergrund sind etwa seine Versuche zu lesen, einerseits starke Kritik an dem Strukturalismus Saussurescher Prägung zu üben, andererseits dies aber nur auf dem Boden der Theorie Saussures selbst zu tun. Diese Eigenart, mit Saussure gegen Saussure zu denken und zu argumentieren, ist ein wesentliches Merkmal der Dekonstruktion. Ähnlich verhält es sich mit Derridas jahrzehntelanger Beschäftigung mit der Sprechakttheorie. Als 1977 die erste englische Übersetzung seines Essays "Signatur, Ereignis, Kontext" erschien, löste sie eine heftige Reaktion der anglo-amerikanischen Sprechakttheorie aus. Beeinflusst durch die Philosophie der Alltagssprache, besonders aber durch die Gebrauchstheorie der Bedeutung des späten Wittgenstein, entwickelten Austin ("How to do things with words"; 1962) und Searle ("Speech acts. An essay in the philosophy of language"; 1969) eine systematische Darstellung dessen, was wir tun, wenn wir sprechen. Nicht einzelne Wörter oder Sätze gelten als Grundelemente der menschlichen Kommunikation, sondern bestimmte Sprechhandlungen, die durch ihre Äußerung vollzogen werden, nämlich illokutive Akte. Insofern betreibt die Sprechakttheorie Sprachtheorie als Teil einer umfassenden Handlungstheorie. Jeder Sprechakt, so die Grundannahme Austins, setzt sich aus mehreren simultan vollzogenen Teilakten zusammen. Searle erweitert Austins Gedanken und unterscheidet zunächst zwischen der Lokution, der Artikulation sprachlicher Elemente in bestimmter grammatischer Ordnung, und der Proposition, der Inhaltsformulierung der Äußerung durch Referenz und Prädikation. Auf die Proposition bezieht sich unmittelbar der illokutive Akt, der angibt, wie die Proposition aufzufassen ist, d. h. der illokutive Akt zeigt die kommunikative Funktion der Sprechhandlung an. Illokutive Akte können Wirkungen haben, die mit ihnen nicht konventionell verbunden sind; sind diese so genannten perlokutiven Effekte vom Sprecher beabsichtigt, hat der Sprecher mit dem illokutiven Akt auch eine Perlokution vollzogen. Damit die Äußerung eines gegebenen Satzes als illokutiver Akt "glückt", müssen nach Searle neben allgemeinen Ein- und Ausgabebedingungen (Bedingungen für sinnvolles Sprechen und Verstehen) spezifische Bedingungen erfüllt sein, deren Ausprägung für die Klassifikation von Sprechakten entscheidend ist. Dazu gehören die Bedingungen des propositionalen Gehalts ebenso wie die Einleitungsbedingungen, die Aufrichtigkeitsbedingungen und die konstitutiven Regeln jedes einzelnen Sprechakts. Die Sprechakttheorie kann insgesamt als Versuch verstanden werden, durch die Integration des Kontextes als sinnbeeinflussendes Moment die Erkenntniskraft des sprachanalytischen Ansatzes zu steigern, indem er realistischer gedacht wird. Das führt notwendigerweise zu einer Zementierung der Theorien der Bedeutung, der Kommunikation und eines als fix gedachten Sinns. Derrida dekonstruiert nun in seinem Essay, wie Peter Engelmann in seinem Vorwort zurecht hervorhebt, "die Grundbegriffe und die Grundlagen nicht nur der Sprechakttheorie, sondern jeder Art von Sprachphilosophie, die von einem unreflektierten Konzept der Kommunikation als der Vermittlung von Sinn ausgeht, wobei Sinn als dem Signifikationsprozess vorausliegend und von ihm unabhängig verstanden wird." Damit veranschaulicht Derrida, dass auch der antimetaphysische Gestus der analytischen Philosophie und der Sprechakttheorie im Besonderen in vollem Umfang nur auf dem Boden der Metaphysik gedeihen kann. Es bedarf in diesem Zusammenhang besonderer Erwähnung, dass Derrida damit keineswegs, wie ihm immer wieder zu Unrecht vorgeworfen wird, einen denunziatorischen Diskurs initiiert, sondern vielmehr die eigene Analyse damit beginnt, dass jedes Sprechen, also auch und vor allem das eigene, aus dem Zirkel der Metaphysikkritik nicht ausbrechen kann.

Das von Gerald Graff zusammengestellte Buch "Limited Inc.", das nach fast zehnjähriger Übersetzungsgeschichte nun endlich auch auf Deutsch vorliegt, enthält neben dem Essay "Signatur, Ereignis, Kontext" auch eine Dokumentation der Kontroverse zwischen Searle und Derrida, die in den USA für großes Aufsehen sorgte. In einem ausführlichen Nachwort stellt sich Derrida den Fragen des amerikanischen Herausgebers. Mit einigem Recht lässt sich feststellen, dass die seit einigen Jahren vehement geführten Diskussionen um die ethischen Positionen der Dekonstruktion hier einen produktiven Ansatzpunkt hätten. Bedauerlicher Weise wird auf diesen Text kaum rekurriert. Derridas für die Kontroverse mit Searle initialer Text wurde bereits 1972 in die Ausgabe "Marges de la philosophie" aufgenommen und dann mit der Übersetzung dieser Textsammlung ins Deutsche ("Randgänge der Philosophie"; vgl. literaturkritik.de 3/2001) übernommen. Die nun vorliegende Neu-Edition des Essays zusammen mit den anderen in "Limited Inc." versammelten (Gegen-) Stimmen bietet die Gelegenheit, dass Derridas Gedanken noch einmal in anderer Perspektive ihre Wirkung entfalten. Zugleich wird nach Engelmann deutlich, "wie weit sich die Argumentationen Derridas von ihrem Anlaß lösen, um sich zu einer eigenständigen Entfaltung der Kernthemen und wichtigsten Begriffe der Dekonstruktion zu entwickeln". In der Auseinandersetzung geht es vorrangig um Fragen der Interpretation und Tradition der Sprechakttheorie, um die Missverständnisse zwischen dem so genannten kontinentalen und dem anglo-amerikanischen Denken, um die Unbestimmtheit und Unbestimmbarkeit der Textinterpretation. Gewissermaßen subkutan geht es für Derrida - in einer längeren Referenz auf Condillac - jedoch auch um die Eigenheiten des Schriftbegriffs, um dann in einer dekonstruktiven Lektüre die darin enthaltenen Möglichkeiten eines nicht mehr metaphysischen Verständnisses von Signifikation zu erarbeiten. In "Signatur, Ereignis, Kontext" verklammert Derrida diesen Ansatz an einer Stelle programmatisch mit seiner Vorstellung von 'Parasitismus': "Austin schließt mit allem, was er sea-change nennt, das ,Unernste', die ,Parasitierung', die ,Verkümmerung', das ,Nicht-Gewöhnliche' (zusammen mit der ganzen allgemeinen Theorie, die, sofern sie all dem Rechnung trüge, nicht mehr von diesen Oppositionen beherrscht wäre) aus, also das, was er dennoch als eine für jede Äußerung offen stehende Möglichkeit anerkennt. Auch die Schrift wurde von der philosophischen Tradition immer wie ein Parasit behandelt, und dieser Vergleich ist ganz und gar nicht gewagt." Das Bild vom Parasiten verweist darauf, dass es bei Austin und Searle um die bekannte Supplementaritätsbeziehung geht: Die unernste Verwendung der Sprache ist etwas Zusätzliches, das der normalen Sprache angefügt wird und von ihr völlig abhängt. Wenn wir die Verwendung normaler Sprache untersuchen, brauchen wir die unernste Verwendung nicht zu beachten, da sie nur ein Parasit ist.

Ein weiterer zentraler Terminus der dekonstruktiven Lektüre Derridas ist derjenige der "Iterabilität". In "Limited Inc." heißt es hierzu vielsagend: "Die Iterabilität des Zeichens [marque] läßt keinen der philosophischen Gegensätze intakt, die die idealisierende Abstraktion regeln (zum Beispiel ernst/unernst, buchstäblich/metaphorisch oder ironisch, eigen/parasitär, strikt/nicht strikt und so weiter). Die Iterabilität verwischt a priori die lineare Grenze, die zwischen diesen gegensätzlichen Werten verliefe, sie korrumpiert sie, wenn man so will, kontaminiert oder parasitiert sie als Grenze selbst. Das Bemerkenswerte/Wiedermarkierbare [remarquable] des Zeichens [marque] schließt den Rand [marge] in das Zeichen [marque] ein. Die Linie des Randes [marge] ist daher nie streng bestimmbar, sie ist nie rein und einfach. Das Zeichen [marque] ist bemerkenswert/wiedermarkierbar [remarquable] insofern es auch sein Rand [marge] 'ist'. [...] Selbst wenn sie mit einem immer möglichen Parasitismus nur drohte, ist diese Bedrohung a priori in die Grenze eingeschrieben. Sie teilt dabei die Linie und die Einheit at once. Und warum (für wen?) erscheint diese Möglichkeit übrigens als eine Bedrohung, als ein nur 'negatives' Risiko? als ein 'Mißgeschick'? Da es iterierbar ist, kann ein mit dem sogenannten 'positiven' Wert ('ernst', 'buchstäblich' und so weiter) markiertes Zeichen [marque marqueé] zwar nachgeahmt, zitiert, in 'Übung' oder in 'Literatur', ja sogar in 'Lüge' verwandelt werden, das heißt es kann in sich sein anderes, sein 'negatives' Double tragen. Aber die Iterabilität ist auch, und eben dadurch, die Bedingung von 'positiven' Werten. Diese Möglichkeitsbedingung ist einfach strukturell geteilt oder 'auf/verschiebend' [différante]." Demnach ist die Iterabilität, die sich im Nicht-Authentischen, im Abgeleiteten, im Nachgeahmten, im Parodierten manifestiert, gerade dasjenige, was das Ursprüngliche und Authentische ermöglicht. Um ein passendes Beispiel zu nehmen, könnte man sagen, dass die Dekonstruktion selbst nur dank der Iterabilität existiert und funktioniert. Die Versuchung, von einer originären dekonstruktiven Praxis in den Schriften Derridas zu reden, besteht sicher; aber im Grunde verhelfen die durchgeführten Wiederholungen, Parodien, Verzerrungen und Re-Lektüren einer Methode zur Existenz und artikulieren im Rahmen der Arbeit Derridas die Praxis der Dekonstruktion.

Die Dekonstruktion schlägt nicht vor, keine Unterscheidungen mehr zu treffen, eine Unbestimmtheit, in der der Sinn zur Erfindung des Lesers würde. Das Spiel des Sinns resultiert aus dem, was Derrida "das Spiel der Welt" nennt, in dem der allgemeine Text immer neue Verbindungen, Korrelationen und Kontexte bereitstellt. In seinem 'Gespräch' mit Gerald Graff präzisiert Derrida diesen Umstand, ohne allerdings seine offenkundigen Referenzen (Benjamin, Heidegger) offen zu legen: "Bevor [die Dekonstruktion] zu einem Diskurs, zu einer organisierten Praxis wird, die einer Philosophie, einer Theorie, einer Methode ähnelt, die sie nicht ist und die diese instabilen Stabilitäten oder diese Destabilisierungen behandelt, die sie zu ihrem Hauptthema erklärt, ist die 'Dekonstruktion' zunächst diese Destabilisierung [Rekurs auf Heidegger; A. S.], die sozusagen 'in den Dingen selbst' stattfindet; aber sie ist nicht negativ. Auch für den 'Fortschritt' bedarf es der Destablisierung [Rekurs auf Benjamin; A. S.]. Und das De der Dekonstruktion bezeichnet nicht die Zerstörung dessen, was konstruiert wird, sondern die Ankündigung dessen, was jenseits des konstruktivistischen oder dekonstruktionistischen Schemas zu denken bleibt. [...] Das bedeutet nicht, daß alle Referenten außer Kraft gesetzt, geleugnet oder in ein Buch eingeschlossen werden, wie oft vorgegeben wird oder wie man oft naiverweise glaubt und mir vorwirft. Es bedeutet aber, daß jeder Referent, jede Realität, die Struktur einer durch différance gekennzeichneten Spur [trace différantielle] aufweist und daß man sich auf dieses Reale nur in der Praxis der Interpretation beziehen kann. Diese ist nur sinnvoll oder gewinnt ihre Bedeutung nur in einer Bewegung des durch différance gekennzeichneten Verweises [renvoi différantiel]."

Ein brauchbarer Begriff ist hier vor allem der des Aufpfropfens (greffe). Sinn entsteht aus Aufpfropfungen, und Sprechakte, ernsthafte wie auch nicht ernsthafte, sind Pfropfreiser (greffes). In "La double séance" führt Derrida das Aufpfropfen als Denkmodell von Texten an - eine Logik, die Verfahren des Schreibens mit Einführungsprozeduren und Strategien der Wucherung verbindet: "Man müßte einmal systematisch untersuchen, was wie eine einfache etymologische Einheit von greffe (Pfropfung, Pfropfreis; Schreibinstrument) und graphe (Schriftzeichen) aussieht (die beide sich von graphion: Schreibinstrument ableiten), aber darüber hinaus auch die Analogie zwischen verschiedenen Formen textueller Aufpfropfung und den Formen pflanzlicher Aufpfropfung oder gar, was sich heute immer mehr ausbreitet, der Organtransplantation (greffe animale). Man sollte sich mit einem enzyklopädischen Katalog der verschiedenen Pfropfungsformen nicht zufrieden geben (Kopulieren, Schäften, Okulieren, Rindenpfropfen, Spaltpfropfen etc.), sondern eine systematische Abhandlung der textuellen Aufpfropfungen ausarbeiten." In "Limited Inc." werden diese Begriffe dann noch einmal enggeführt: "Die parasitäre Struktur ist diejenige, die ich überall unter dem Namen der Schrift, des Zeichens [marque], des Marschs [marche], des Rands [marge], der différance, des Pfropfreises [greffe], des Unentscheidbaren, des Supplements, des pharmakon, des hymen, des parergon und so weiter zu analysieren versucht habe." Dekonstruktion als Analysemethode der parasitären Strukturen von Texten zu begreifen - wobei das, was Derrida "Text" nennt, alle so genannten "realen", "ökonomischen", "historischen", gesellschaftlich-institutionellen Strukturen, kurz alle möglichen Referenten, umgreift -, führt hoffentlich auch unter deutschen Intellektuellen endlich zu einer angemessenen Würdigung des aus meiner Sicht bedeutendsten philosophischen Denkens unserer Zeit. Vielleicht trägt auch die Verleihung des Frankfurter Theodor W. Adorno-Preises an Derrida im vergangenen Jahr einiges dazu bei - wie verwandt die beiden Geister waren, war zu zeigen.

Titelbild

Jacques Derrida: Limited Inc.
Herausgegeben von Peter Engelmann.
Übersetzt aus dem Französischen von Werner Rappl und Dagmar Travner.
Passagen Verlag, Wien 2001.
264 Seiten, 35,00 EUR.
ISBN-10: 3851650557

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