Phryne vor den Richtern

Ein Sammelband über die ästhetische Inszenierung von Nacktheit im Kulturvergleich

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ungläubige Bewunderung zeichnet sich auf dem Gesicht des alten, graubärtigen Mannes in der roten Toga ab. Im ausgemergelten Antlitz eines anderen, wohl noch älteren, dessen Hände kraftlos im Schoß ruhen, blitzt die entsagungsvolle Erinnerung an frühere Freuden auf. Die Züge Jüngerer spiegeln schiere Fassungslosigkeit, andächtige Anbetung oder gar angstvolles Zurückweichen, fast so, als sei soeben der Wahrhaftige selbst mit Blitz und Donner erschienen. Das vom Wohlleben gerundete Gesicht eines beleibten Mannes mittleren Alters verrät hingegen dionysische Lüsternheit, und die verzerrte Fratze eines weiteren ist von abschätziger, ja aggressiver Geilheit entstellt.

Sie alle tragen die gleiche rote Toga wie der graubärtige Alte, dessen ungläubiger Bewunderung etwas Dümmliches innewohnt. Denn sie alle sind Richter im antiken Areopag. Ihre Blicke sind auf eine Frau gerichtet, auf die wegen Gotteslästerung angeklagte Hetäre Phryne, die in eben diesem Moment, da ihr Geliebter und Verteidiger Hypereides mit einer einzigen schwungvollen Bewegung das wallende blaue Gewand von ihrem vollendeten Körper reißt, nackt vor ihnen steht. Nur einer kann sie ironischerweise nicht sehen, der Ankläger, dem das Gewand wie ein Vorhang den Blick verdeckt und ihn fast im Dunkeln verschwinden lässt, während Phrynes Leib im hellen Licht erstrahlt. Nur ihr Kopf liegt im Schatten ihrer Arme, die sie sich schützend vor Gesicht und Augen geschlagen hat, während ihr Körper, der in hoch aufgerichteter Haltung die Reize der Hüften und Brüste betont, den Blicken der Männer ausgesetzt ist.

Wohl kaum je sonst wurde Nacktheit in ihrer geschlechtsspezifischen Codierung derart prototypisch inszeniert, wie in dem hier beschriebenen 1861 erstmals ausgestellten Gemälde "Phryne vor den Richtern" aus der Hand des Künstlers Jean Léon Gérôme. Dieser Auffassung ist auch Gabrielle Brandstetter, die in dem Gemälde die "Begründungsszene der Evidenz der Nacktheit" sieht. Doch fällt ihre Interpretation der in der Momentaufnahme des Gemäldes dargestellten - möglicherweise unhistorischen - Anekdote nicht ganz überzeugend aus. Phryne wurde von Euthias einer todeswürdigen Gotteslästerung beschuldigt: sie sei bei den Aphrodisien in Aigina nackt ins Meer gestiegen. Doch überzeugte Phryne die Richter durch die Enthüllung ihres nackten Körpers von der "Wahrheit ihrer Unschuld", woraus die Interpretin schließt, dass die "nackte Schönheit des Körpers" die "Evidenz der nackten Wahrheit" als "unhintergehbare Epiphanie der Unschuld" verkörpere. Das klingt zwar sehr gefällig, aber eigentlich wenig plausibel. Wie sollte ausgerechnet Phrynes Entblößung die Richtern glauben lassen, dass sie sich während der Mysterienspiele nicht nackt gezeigt hat? Weit schlagender ist da schon eine Interpretation von Eva Gesine Baur, der zufolge Phrynes Nacktheit die Richter davon überzeugte, dass die vollkommene und makellose Schönheit dieses Körpers gottgewollt ist, und es somit unmöglich eine Gotteslästerung sein kann, ihn bei den Mysterienspielen nackt zu zeigen.

Brandstetters Interpretation der schönen und nackten Wahrheit wird zudem dadurch geschwächt, dass der eigentliche, der wahre Grund für Euthias' Anklage während des Prozesses gar nicht zur Sprache kam: Er wollte sich an Phryne rächen, weil sie - möglicherweise für ihre Dienste als Hetäre - materielle Forderungen an ihn gestellt hatte.

Die Autorin hat ihre Interpretation von Mythos und Bild im Rahmen der Tagung "Nacktheit. Ästhetische Inszenierungen in historisch kulturvergleichender Perspektive" gehalten, die im Januar 2001 vom Graduiertenkolleg "Körper-Inszenierungen" der Freien Universität Berlin ausgerichtet wurde. Kerstin Gering hat den Vortrag nun zusammen mit den anderen Tagungsbeiträgen, die mediale Inszenierungen von Nacktheit und ihre jeweilige Bedeutungen in historischen und geographisch verschiedenen Kulturen behandeln, in einem Sammelband herausgegeben. Wie die Herausgeberin in der Einleitung betont, interessiert Nacktheit hier nicht als "anthropologische Konstante", sondern als "Teil einer symbolischen Ordnung". So machen die Aufsätze deutlich, dass es bei Nacktheitsinszenierungen nicht um "Blöße als solche" geht, sondern um die "Art der Entblößung" als "Spiel mit Ver- und Enthüllungen". Da es dabei jedoch weniger um soziale Praxen in Zusammenhang mit Nacktheit geht, sondern um deren "ästhetische Inszenierungen im Kulturvergleich", zeigen die Beiträge darüber hinaus, dass Nacktheit erst "als Inszenierung von Entblößung semantisch je unterschiedlich bedeutsam" wird.

Die Vielfalt der erörterten Aspekte von kulturell unterschiedlich inszenierter Nacktheit ist beeindruckend. So verhandeln Oliver König und Hans Richard Brittnacher "Nacktheit als Performanz", Hanno Ehrlicher untersucht die "Ästhetik der Entblößung" in Rolf Dieter Brinkmanns literarischen Nacktheitsinszenierungen, und Andrea Reichel fragt, wie nackt Akte sind. Auch außereuropäische Inszenierungen von Nacktheit werden beleuchtet, so etwa von Jaqueline Bernd diejenige im japanischen Comic. Hyunseon Lee widmet sich der "Globalisierung und Nacktheit" in Korea, während Wolfgang Herbert sich "Tatuierungen als Ver-Kleidung" in Japan ansieht. Britta Duelke nähert sich unter dem Titel "Nakedfella" hingegen "Erzählungen über sogenannte 'nackte Busch-Aborigines'" in Australien.

Trotz dieses breitgefächerten Spektrums lässt sich ein heimlicher Schwerpunkt des Buches ausmachen: die Nacktkultur in der europäischen Modernen um 1900. Neben der Herausgeberin Maren Möhring und Andreas Schwab richtet auch Brandstetter ihr Augenmerk auf diesen Zeitraum und erörtert nicht nur Gérômes Gemälde, sondern auch Schnitzlers Erzählung "Fräulein Else", wobei sie die Nacktheitsinszenierung der Protagonistin als "Grenzüberschreitung" und "Akt einer Vergeudung" liest. Elses Nacktheit, wie Dorsday sie sich 'bestellt' hat, liege hingegen noch "genau auf der Grenze" der "Körper-Darstellungs-Paradigmen des Fin de Siècle". Während er also noch im "Voyeurismus-Schema des 19. Jahrhunderts" befangen sei, wähle Else die "'Bewegungsdarstellung' für die Inszenierung von Nacktheit" und wechsele "vom Akt zum 'actor'". Ihre Entblößung sei eine "ins leere weisende Epiphanie", eine "Manifestation des bloßen Körpers". Mit der so interpretierten Nacktheitsdarstellung in Schnitzlers Erzählung kontrastiert Brandstetter anschließend Marina Abramovic' Performance "Freeing the Body".

Während die Herausgeberin Nacktheit in der Kultur- und Sittengeschichte während des Übergangs vom 19. zum 20. Jahrhundert als "postadamitische Rache am Sündenfall" untersucht, widmet sich Maren Möhring der Bedeutung von "idealer Nacktheit" für die lebensreformerische Bewegung am Beispiel der Nacktgymnastik, deren Ziel darin bestand, eine "möglichst große Ähnlichkeit" mit antiken Statuen zu erlangen, der sich nur über äußerste "Körperdisziplinierung bzw. -normalisierung" anzunähern war. Nacktheit, so lautet Möhrings These, wurde im Nacktkultur-Dikurs der Jahrhundertwende zu einem der zentralen Momente sowohl eines "ästhetischen Rassismus" wie auch einer "denunziatorischen Physiognomik". So sollten sich "potentielle EhepartnerInnen" vor einer beabsichtigten Eheschließung nackt begutachten, um "Entartungszeichen" ausfindig machen zu können und möglicherweise 'degenerierten Nachwuchs' zu vermeiden. Wie kaum anders zu erwarten, ist es insbesondere die Gesundheit der Frauen, die begutachtet wurde und zur Diskussion stand.

Auch Andreas Schwab konstatiert, dass VerfechterInnen der Freikörperkultur "potentiell empfänglich für eugenische und rassistische Diskurse" gewesen sind. Denn, so Schwab, durch die "Propagierung eines idealen, normierten Körpers" wurden all jene ausgegrenzt, die diesem 'Ideal' nicht gerecht wurden. Schwab, Herausgeber eines kürzlich erschienenen Sammelbandes über "Experimente in Kunst und Leben auf dem Monte Verità" (vgl. literaturkritik.de 2/2002), konzentriert sich auch hier ganz auf den 'Berg der Wahrheit' und untersucht die dortige Bedeutung der Nacktkultur. In den von den Monte Veritanern aufgestellten Kategorien, so lautet sein Fazit, lasse sich "keine eindeutige Verwendung der Nacktheit" feststellen. Obwohl Luft- und Sonnenbäder "ohne großen rhetorischen Aufwand" nackt genossen wurden, wurde dennoch um die richtige ideologische Begründung der nackten Lebensart gestritten. "Und da zumeist Männer die Standards setzten", wohnte der Freikörperkultur, wie so oft, auch auf dem Monte Verità "ein Frauen diskriminierender Zug" inne.

Titelbild

Kerstin Gernig: Nacktheit. Ästhetische Inszenierungen im Kulturvergleich.
Böhlau Verlag, Köln 2002.
357 Seiten, 20,50 EUR.
ISBN-10: 3412174017

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