Bestandsaufnahme

Marlene Streeruwitz liest aus ihrer Erzählung "Majakowskiring"

Von Doris BetzlRSS-Newsfeed neuer Artikel von Doris Betzl

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Lore, 52 Jahre alt, zieht Bilanz: Sie hat in Wien gelebt, in Berlin und in New York, als Journalistin und als Universitäts-Beschäftigte. Jetzt sitzt sie in einem Zimmer im ehemaligen Berliner Osten, im früheren Staats-Gästehaus der DDR, mit Blick auf den Majakowskiring. Sie ist eine verlassene Frau: Gerade liegt wieder eine Beziehung hinter ihr. Über die gedankliche Verarbeitung der jüngsten Trennung findet sie die Erinnerung an frühere Männer, an Liebesverhältnisse und deren Enden. Sie erinnert sich weiter an besondere und nebensächliche Alltagsmomente, an gemeinsame und einsame Gewohnheiten, an Nicht- und Beinahe-Begegnungen: Als ihr Ex-Freund Johannes überraschend von der Ermordung seiner Schwester erzählt, zerbricht ihre Beziehung - "sie hatte ihn nicht trösten können".

An der Person der Putzfrau, die Lore vom Fenster aus dabei beobachtet wie sie im Müll wühlt, wird die Situation der DDR-Bürgerin als unausweichlich verworren zwischen Spitzeltätigkeit und Nachbarschaft entwickelt.

Der letzte Verflossene, Richard, wird schließlich in Lores Gedanken Opfer eines heimtückischen, bis ins eklige Detail ersonnenen Mordes - eine durchs Auge ins Gehirn gestochene Nadel als Phantasiespiel, nicht vollzogene Rache für seinen Betrug.

Es ist ein innerer Monolog den diese Frau hält, obwohl in der dritten Person erzählt wird. Während sie ihre Gedanken unsortiert und assoziativ auf Reise schickt, sitzt sie fast bewegungslos im Raum, der Vorhang bläht sich vor dem offenen Fenster. Gedankenfetzen rauschen vorbei, wiederholt bleiben die Sätze elliptisch: einzelne Worte fehlen, oft sind es kausale und lokale Verbindungen wie "dass" oder "wo".

Sexuelle Verpflichtungen und Rituale zwischen Lust und Erniedrigung waren immer wieder wichtiger Bestandteil der vergangenen Zweisamkeiten - von Partnerschaften ist nicht zu sprechen angesichts des menschlichen Ungleichgewichts, das sich immer auf andere Weise, doch stets präsent in den Paarbildungen zeigt. Auch Lores Trauerbewältigung hat sich nur scheinbar verändert: Statt Schokoladenorgien zu feiern, hungert sie jetzt aus Liebeskummer.

Ihre eigenwillige Prosa in "Majakowskiring" liest die österreichische Autorin Marlene Streeruwitz mit lethargischer Stimme, ein leichte wienerische Färbung im Klang.

Die Entwicklung spezifisch weiblicher Lebensperspektiven ist das Anliegen der 1950 bei Wien geborenen Theater-, Hörspiel- und Roman-Autorin. Die desillusionierende Bestandsaufnahme eines grundlegenden Unverständnisses zwischen Mann und Frau, das seinen Ausdruck in bedrückenden Formen von Sexualität findet, ist vielfach variiertes Thema ihres Werks, so zuletzt in ihrem Roman "Partygirl" (2002). Zu Geschlechterrollen und zum politischen Tagesgeschehen zeigt sich Marlene Streeruwitz streitbar. 1999 erhielt sie unter anderem den österreichischen Würdigungsstaatspreis für Literatur. Im Wintersemester 2001/02 hatte sie als erste Schriftstellerin die Samuel-Fischer-Gastprofessur an der Freien Universität Berlin inne.

Titelbild

Marlene Streeruwitz: Majakowskiring. CD.
Verlag Audiobuch, Freiberg 2001.
25,00 EUR.
ISBN-10: 3933199395

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