Dialogische Didaktik

Ein neues Handbuch zu den Gedichten Brechts

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In den 80er Jahren veröffentlichte der Karlsruher Brecht-Forscher Jan Kopf ein zweibändiges "Handbuch" zum Werk Bertolt Brechts. Sachkundig und engagiert vermittelte Knopf nicht allein faktische Grundlagen für eine Interpretation der Texte - in pointierter Darstellung der damals noch punktuell lückenhaften Forschung und in ihrer Kritik eröffnete er eine angemessene Sichtweise auf ein Werk, dessen politische Radikalität er nicht abschwächte.

Seither ist einiges geschehen, das eine Überprüfung der damaligen Leistung als sinnvoll erscheinen lässt. Erstens hat sich die Basis der Forschung deutlich verbessert. Mit der dreißigbändigen großen Berliner und Frankfurter Brecht-Ausgabe steht jetzt eine insgesamt erhellend kommentierte Textgrundlage zur Verfügung, deren Gebrauchswert den der vorangegangenen Werkausgabe deutlich übertrifft. Das neue, nun auf fünf Bände angelegte "Brecht-Handbuch" trägt der Vielzahl neuer Erkenntnisse zunächst dadurch Rechnung, dass es kein Kompendium schnell greifbarer Informationen sein soll: Über Entstehung, Druckgeschichte und Rezeption unterrichtet bereits der Kommentar der ausgabe, der freilich im "Handbuch" punktuell korrigiert ist. Der Schwerpunkt liegt auf der Interpretation einzelner Texte, im vorliegenden zweiten Band der wichtigsten Gedichte.

Die ausgewählte Lyrik repräsentiert sinnvoll die Phasen der Entwicklung Brechts. Überblicke zu einzelnen Entstehungszeiträumen und zu Aufbau und Funktion der publizierten Sammlungen ergänzen die Interpretationen zu einer textnah angelegten Geschichte der Lyrik Brechts.

War vor 20 Jahren Knopf der Alleinautor, so tritt er heute als Herausgeber auf - ein Indiz für die stets umfangreichere Brecht-Forschung, die auch ein ausgewiesener Spezialist kaum mehr zu überblicken vermag. Nun werden die verschiedenen Blickwinkel und Interpretationsansätze deutlicher. Auf Vereinheitlichung zielte Knopfs Herausgebertätigkeit offensichtlich nicht: Während er zum Beispiel im Einleitungskapitel zu den Gedichten 1917 bis 1924 Deutungen zurückweist, die dem frühen Brecht Nihilismus zuschreiben, beziehen sich auf den folgenden Seiten einige seiner Beiträger sehr positiv auf jene Nihilismus-These. Das ist kein Manko. Im Gegenteil wird durch solche Konflikte deutlich, dass Brecht noch keineswegs abgearbeitet und abgetan ist, wie es in manchen modischen Diskursen wirken mochte oder mag.

Seit dem früheren "Handbuch" hat sich freilich nicht nur die Forschung entwickelt, sondern auch die Welt: Brecht hatte die Mängel der sozialistischen Staaten klar erkannt und dennoch von diesen Staaten einen menschheitsgeschichlichen Fortschritt erhofft. 1984 schwächelten die sozialistischen Regierungen bereits; bald darauf existierten sie nicht mehr. Es konnte nicht ausbleiben, dass der politische Dichter Brecht und damit ein Großteil seiner Lyrik nach seiner Wendung zum Marxismus weithin als veraltet, schlecht belehrend und Zeugnis eines Irrwegs galten. Vertreter eines moralisierenden "Männerfeminismus", wie Sabine Kebir die Akteure treffend charakterisierte, versuchten zudem, Brecht als Sexisten zu diffamieren: als Pornographen im Werk, als Ausbeuter weiblicher Arbeitskraft im Leben.

Unweigerlich geht das neue "Handbuch" zu den Gedichten auf diese Auseinandersetzungen ein; doch nicht propagandistisch wie die Widersacher, die hier Brechts Tod ausrufen und da ihn als Macho zu entlarven suchen, sondern angemessen am Text. Die durchgehende Haltung im "Handbuch", mit und nicht gegen den Autor zu lesen, ist in diesem Fall durch die Sache begründet und überzeugt deshalb.

Wo es um politische Stellungnahmen Brechts geht, die heute fremd erscheinen, werden sie weder hinweggedeutet noch als durch zeitgenössische Umstände bedingte Irrtümer kleingeredet, denen gegenüber es einen eigentlich bedeutenden Autor zu retten gelte. Besonders der Autor der Einleitung, der Oxforder Germanist Tom Kuhn, verweist auf eine grundlegende Qualität der Gedichte: die durchgehende Dialogizität, ihr Status nicht als eine Erklärung von Wirklichkeit, sondern als Dokument des Kampfs um eine solche Erklärung; dies habe eine dogmatische Erstarrung stets verhindert. Gerade wo sich die so häufig geschmähte didaktische Anlage findet, wird nicht einseitig belehrt, sondern kommt es zum dialektischen Verhältnis von Lehrer und Lerner.

Die Aktualität der Brecht´schen Lyrik sieht Kuhn auch im Inhaltlichen, freilich politisch etwas ins allgemein Menschliche gerückt als "Ansprache an jedes Mitglied jeglicher modernen Gesellschaft" - in einer Zeit, in der der Kapitalismus sich immer ungenierter so zeigt, wie seine ärgsten Gegner es behaupteten, gäbe es Gründe, auch über die genaueren sozialen Bestimmungen Brechts nachzudenken. Im gleichen Maße wie die politische akzentuiert Kuhn die mediale Modernität von Brechts Lyrikkonzeption. In historischer Perspektive ist ihn dabei zuzustimmen: Gedichte als Gebrauchs- ja, als Verbrauchsgüter zu produzieren, war fortschrittlich in einer Zeit, in der Lyrik fast sakralisiert war. Doch ist solcherlei Kunstreligion heute weitgehend verschwunden, ist "Kunst im Alltag" längst schon vielfach zu konformistischer Handwerkelei geworden. Künstlerische und gesellschaftliche Sprengkraft dürfte dieser Teil von Brechts Ästhetik nur noch in Verbindung mit unbequemen Inhalten entfalten können. Eine solche Provokation heute wäre freilich nicht schwierig - über die gleichgültige Geduld des Publikums klagen nur diejenigen unter den politischen Künstlern, die sich genau innerhalb der Grenzen des Tolerierten zu bewegen wissen.

Vielleicht etwas zu ängstlich sind die Autoren, was den Zyniker und den Erotiker Brecht angeht; hier scheinen die Vorwürfe am ehesten Spuren hinterlassen zu haben. Schon Kuhn qualifiziert das lyrische Werk als "durchweg [...] zutiefst mitfühlend (und leidenschaftlich)" und findet "eine tiefe Anteilnahme mit den leidenden Menschen". Falsch ist das nur für einige frühe Gedichte, und es vereinfacht dennoch: Gerade seine analytische Distanz bewahrte Brecht davor, zu einem Sozialromantiker unter vielen zu werden. Die Präzision seiner politischen Aussagen, die unsentimentale Menschenkenntnis seiner Didaktik widersprechen nicht der früheren Faszination durch zynisch wahrgenommene Kälte, sondern sind ihre ins Produktive gewendete Konsequenz. Die entindividualisierte Erotik früher Gedichte markiert sicher keine Erniedrigung der Frau, wie politisch korrekte Kritiker Brechts behaupten. Ebensowenig aber sind sie im Verlust individueller Begegnung ausschließlich Gesellschaftskritik, wie manche Verteidiger Brechts im neuen Handbuch meinen. Gerade die Spannung von fleischlicher Lust und verfehlter Individualität, von Ungenügen und eines Rests von Erfüllung, der genügt, das trotz allem Genossene stets wieder zu suchen, markiert einen wichtigen auch gesellschaftlichen Bewegungsimpuls: Lebenswille und Bewusstsein des Mangels zusammen zwingen dazu, die Ursachen eines unbefriedigenden historischen und das heißt eben auch: eines unbefriedigenden individuellen erotischen Zustands zu durchdenken.

Brecht ist auch spannend, weil und wo er im Detail problematisch ist; jene Interpretation ist am gelungensten, die die Spannung nicht auflöst, sondern sie bewahrt. Fast durchgehend gelingt dies im Brecht-Handbuch zu den Gedichten. Kritik im Detail ändert nichts daran, dass hier eine Sammlung vorliegt, die dem Forscher wie auch dem interessierten Leser eine Fülle von Informationen und Anregungen zu geben vermag.

Titelbild

Jan Knopf (Hg.): Brecht Handbuch. Band 2. Gedichte.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2001.
498 Seiten, 65,40 EUR.
ISBN-10: 347601830X

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