Nie einen Menschen geliebt

Adolf Muschgs Erzählung "Das gefangene Lächeln"

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Unglückliche Figuren im Herbst ihres Lebens haben es Adolf Muschg angetan. Durch ein Schlüsselerlebnis werden sie wach gerüttelt und lassen ihren Lebensfilm noch einmal Revue passieren. In seinem letzten Roman "Sutters Glück" (2001) schickte er einen Gerichtsreporter, auf den zuvor geschossen wurde, auf die selbstzerfleischende Reise in die Vergangenheit.

Jetzt bringt der kleine Enkel des Ich-Erzählers beim Aufbau der Krippenfiguren seinen Großvater Kaspar Josef Kummer aus dem seelischen Gleichgewicht. Der sechsjährige John hat die Figuren so arrangiert, dass Joseph den Stock gegen Maria erhebt.

Der Anblick dieser (anscheinend zufällig gewählten) Konstellation löst bei Muschgs Protagonisten eine gigantische Erinnerungslawine aus. Die vorliegende Erzählung "Das gefangene Lächeln" ist ein Brief des Großvaters, den sein Enkel John in 20 Jahren erhalten soll. Bis dahin wird er in einem Safe deponiert, zusammen mit den wie ein Familienschatz gehüteten Krippenfiguren.

Mit der gewählten Variante der Brieferzählung kann Adolf Muschg die Intimität, die häufig wiederkehrenden direkten Ansprachen und den zu Ende der Handlung dominierenden belehrend-appellativen Tonfall künstlerisch legitimieren. Gleichwohl hat er durch diese Konstruktion seine eigene Erzählung etwas ausgebremst. Es fehlt der erzählerische Schwung, denn der Großvater neigt, um seinem Enkel alles haarklein zu erklären, zu ellenlangen Wiederholungen und monotonen Selbstanklagen.

Nomen est omen: Der Familienname Kummer hat programmatischen Charakter. Großvater Kummer kämpft gegen seinen Namen ("Ein Kaspar bleibt nicht nur ein Kaspar, er wird immer mehr dazu"), gegen seine Familie, gegen die von seinem Enkel auf den Kopf gestellte biblische Geschichte und eine seit vielen Jahren zurück liegende Tat, von der er sich schreibend befreien will.

In jungen Jahren hat Kaspar Josef Kummer einmal seine damalige Geliebte Maria böse zugerichtet. So übel, dass er Johns Mutter Rachel einmal erzählte: "Eine Frau wie dich habe ich einmal umgebracht." Als Greis las er Marias Todesanzeige, doch Erleichterung ("Demnach hat sie meine Tat überlebt") darüber wollte sich nicht einstellen.

Großvater Kummer heiratete nach der Maria-Affäre die reiche Zoe (Erbin einer Hotelkette), aber seinem Enkel gegenüber bekennt er: "Kannst Du dir vorstellen, dass ich nie einen Menschen geliebt habe?"

Der alte Kummer hatte immer Probleme im Umgang mit der eigenen Sexualität - ein Familienerbe der "gottesfürchtigen Flöchner". Wie eine späte Beichte liest sich der Brief an den Enkel. Voller Schuldgefühle berichtet er, wie er als Schüler kopulierenden Hunden zusah und als Student mit Anfang Zwanzig nach einem Uniball seinen ersten Beischlaf hatte. Und über allem schwebt gleich doppelt Maria - einmal als von Joseph angegriffene Krippenfigur und die reale Maria, deren Leben er brutal zerstört hat, und vielleicht auch damit sein eigenes Glück

Selbstverständlich wird all dies den Enkel mit 26 Jahren nicht mehr interessieren, ebenso wenig wie die flammenden Appelle, dass "lustfeindliche" Familienerbe abzustreifen. Der kleine John, der seinen Großvater liebevoll "Joe" nennt, fungiert lediglich als Handlungsauslöser. Der Rest ist eine schmerzliche Selbstbefragung des alten Kummer, der - den nahen Tod vor Augen - die Bilanz seines verpfuschten Lebens zieht, ähnlich wie der Journalist Sutter in Muschgs letztem Roman.

Beide Werke verbindet ein melancholischer Grundtenor, ein langsames Vorbereiten aufs Abschiednehmen von einem freudlosen Leben. Muschg gewährt seinen Protagonisten noch eine letzte Verschnaufpause, die sie im Rückblick zum Denken im Konjunktiv nutzen. Was wäre gewesen, wenn ...? Wo waren die gefährlichen Kurven, die die Figuren aus der Lebensbahn schleuderten?

Am Ende sieht Kaspar Kummer seinem Enkel zu, wie er in einen Spiegel hineinlächelt. Vielleicht hat John als kleiner Bub schon die flöchnersche Erblast abgeschüttelt. Dem alten Kummer sei zur Erklärung ein Vierzeiler von Theodor Storm an die Hand gegeben: "Vom Unglück erst/zieh ab die Schuld;/ was übrig ist,/trag in Geduld!"

Titelbild

Adolf Muschg (Hg.): Das gefangene Lächeln.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2002.
160 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-10: 3518413511

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