Eine ganz normale Familie, oder die Chronologie einer ungeheuerlichen Tat

"Kleine Schwester", eine Geschichte des Autorinnenteams Borger und Straub

Von Heike HendersonRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heike Henderson

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eigentlich fing alles ganz harmlos an: Ela wünschte sich ein zweites Kind. Nach zahreichen verzweifelten, aber vergeblichen Versuchen, endlich schwanger zu werden sowie einem Selbstmordversuch, als sich herausstellt, dass ihr Mann Carl keine Kinder mehr zeugen kann, beschließt die Familie, ein Pflegekind aufzunehmen. Die fünfjährige Lotta, die aus dem Heim geholt wird, soll aus ihnen endlich eine "richtige" Familie machen. Nur leider gebärdet sich Lotta nicht so, wie Ela es sich erhofft hatte, und ihre anfängliche Begeisterung über das neue Kind schlägt sehr bald ins Gegenteil um.

Martina Borgers und Maria Elisabeth Straubs neueste Erzählung beschreibt auf eindrucksvolle Art und Weise wie eine Familie, ohne Absicht und Plan und ohne es zu wollen, zum Monster wird. Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive der zwölfjährigen Lilly, die vor einer Polizeibeamtin sitzt und schweigt. Sie kann die Ereignisse nicht erklären, sie kann sich nur erinnern.

Lotta quengelt, macht nachts ins Bett und kotzt immer im falschen Moment. Ihr ständiger Begleiter ist Teddy, und wenn Teddy gewaschen werden muss, schreit sie. Ela gibt sich zwar größte Mühe, Lotta liebzuhaben, aber es funktioniert nicht. Lotta ist in ihrer Entwicklung zurückgeblieben, und auch Ela, obwohl als ausgebildete Kindergärtnerin bestens geschult, kann dem Mädchen nicht helfen. Lotta zieht sich immer mehr in sich selber zurück und, da sie wie ein Baby behandelt wird, verhält sie sich auch so. Ela sucht Zuflucht im Schnaps und wird zur Alkoholikerin. Da sie nun auch während der Arbeit trinkt, verliert sie ihre Stelle im Kindergarten. Das wiederum löst nicht nur finanzielle, sondern auch weitere emotionale Probleme aus - für Ela ein weiterer Anlass zum Trinken.

So weit ist die Erzählung nicht weiter ungewöhnlich. Aber was ist es nun, das diese Familie zum Monster macht? Als die Polizei Lotta findet, ist sie dem Tod nahe: unterernährt, mit Medikamenten ruhiggestellt und im Keller eingesperrt. Borger und Straub schildern eindringlich, wie es zu dieser grauenhaften Tat kommen konnte: Weil es Ela peinlich ist, dass ihre fünfjährige Pflegetochter noch in die Hosen macht, nimmt sie sie nirgendwo hin mit. Anfangs darf das Kind noch im Garten spielen, aber sobald es schreit, wird es ins Haus geholt. Wenn Lotta nervt, und Carl, der Nachtschicht hat, schlafen muss (oder es Ela nach ihren Alkoholexzessen zuviel wird), bekommt Lotta eine Tablette "zur Beruhigung". Geht die Familie aus, kommt Lotta "zu ihrer eigenen Sicherheit" in den Keller - zunächst nur einmal, dann immer öfter, bis sie schließlich gar nicht mehr nach oben darf.

Wo nimmt diese Katastrophe ihren Anfang? Die von Lilly erinnerte Kindheit ist überschattet von verstörenden Ereignissen, und doch gibt es unerwartete Glücksmomente, denn eigentlich wollten sie ja alle nur das Beste. Die zugleich schöne und neurotische Ela will lieben, kann es aber nicht. Sie schwankt zwischen dem Wunsch nach Konformität und dem Bedürfnis nach Individualität. Ihr Mann Carl und ihre Tochter Lilly stehen in Elas Bann. Ihre Versuche, Lotta und damit auch ihre Familie zu retten, bleiben halbherzig. Die eigentlich für Lotta zuständige Sozialarbeiterin ist überarbeitet, und bei dem Umzug der Familie geht die Akte des Kindes irgendwo auf dem Weg verloren. Die neuen Nachbarn sowie die wenigen Verwandten wissen von nichts oder wollen nichts wissen - so ganz klar ist das nicht - außerdem werden sie von Ela auf Distanz gehalten. Wer ist also schuld an dieser ungeheuerlichen Misshandlung, wer trägt die Verantwortung? Kann man diese Familie so einfach verurteilen und dadurch das eigene Bild von Gut und Böse bewahren? Die auf einer tatsächlichen Begebenheit beruhende Geschichte beschreibt einen Teufelskreis; wie im richtigen Leben ist es schwer, zu unterscheiden, was Ursache und was Wirkung ist. Oder, in Lillys Worten: "Wir sind nur irgendwie ins Unglück geraten, alle zusammen. Wir haben nie etwas Böses gewollt, wir wollten nur eine glückliche Familie sein, sonst nichts."

In Sprache und Stil sowie nach der Thematik erinnert diese Erzählung an Birgit Vanderbekes "Friedliche Zeiten" (Rotbuch Verlag, Hamburg 1996). Auch hier sind das Normale und das Ungeheuerliche untrennbar miteinander verbunden, auch hier zeigen sich die Abgründe hinter dem Wunsch nach der perfekten Familie, auch hier wird die Erzählperspektive des jungen Mädchens konsequent eingehalten, jedoch ohne übertriebene Naivität. Borger und Straub erzählen flüssig und spannend, und trotz des schweren Themas versinkt diese Geschichte nie in Voyeurismus oder Betroffenheit. Die Autorinnen haben einen genauen und eindringlichen Blick für menschliche Schwächen und familiäre Beziehungen, und da die Erzählung noch dazu äußerst packend und einfühlsam geschrieben ist, kann ich dieses Buch ausdrücklich empfehlen.

Titelbild

Martina Borger / Maria Elisabeth Straub: Kleine Schwester. Erzählung.
Diogenes Verlag, Zürich 2002.
217 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3257860846

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