Opulentes Oratorium

Rufus Beck liest eintausenddreihundertfünfundsiebzig Minuten John Irving

Von Silke SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Silke Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Der Text ist aber mehr. Er ist eine Partitur wie eine Bachsche Fuge, da gibt es Hauptstimmen und Nebenstimmen. Und die verändern sich. Da sind die Instrumente die Figuren. Da krächzt was, da klingt was wie ein Kontrabass, wie ein Fagott." Besser könnte Rufus Beck seine Arbeit nicht beschreiben, treffender kann seine Art zu sprechen nicht charakterisiert werden. Ihm will man einen Tag lang zuhören. Ein Tag mit Rufus Beck. Ein Tag "Garp und wie er die Welt sah".

Jenny Fields ist eine "sexuell Verdächtige": Hat keinen Mann, will keinen Mann. Aber sie möchte ein Kind - und sie bekommt ein Kind: T. S. Garp. Dieser T. S. Garp möchte Schriftsteller werden, um der lesebegeisterten Helen zu gefallen. Er schreibt zwei Geschichten: "Die Pension Grillparzer" und "Bensenhaver und wie er die Welt sah". Rufus Beck kreiert für jede dieser eigenständigen Erzählungen im Roman eine bemerkenswerte Atmosphäre. "Bensenhaver und wie er die Welt sah" gleicht einem Horrorszenario. Der ekelhafte Oren Rath bedroht Hope Standish mit einem Fischermesser, will sie vergewaltigen. Oren Rath spricht mit widerwärtigem Klang in der Stimme, ein dummer, einfältiger und brutaler Mensch. Hope hat Angst. Ihre Stimme stockt, sie kann kaum sprechen, als er ihren Sohn bedroht.

In der "Pension Grillparzer" interpretiert der Sprecher jeden Charakter mithilfe einer spezifischen Stimme. Die Mutter spricht mit regionalem Akzent, die Großmutter Johanna krächzt und artikuliert streng. Johanna nervt die Familie mit ihrer Unzufriedenheit. Manchmal wird sie hysterisch, teilweise verletzt sie durch bösartige Blicke. Selbst dieser lautlose Vorgang wird durch Becks spitze, scharfe Artikulation hörbar und bildhaft: "Sie schoß einen ihrer "Wie-kannst-du-mir-so etwas-nur-antun"-Blicke auf meinen Vater ab."

Rufus Beck bezeichnet sich selbst nicht als "Sprecher oder Rezitator - eher als einen Performer". Diese Auffassung bewährt sich in den dialogreichen Szenen der "Pension Grillparzer". Die Personen beginnen zu spielen, regen sich auf, streiten oder sind wehleidig. Da wird gepoltert und geschlichen. Diese Szenen sind lebendig, auch ohne akustische Beigaben, ohne Geräuschkulisse - allein durch die Stimmen von Rufus Beck. Und dem "Mann, der Träume kennt", möchte spätestens nach dieser Hörfassung, wohl keiner mehr begegnen. Der Traummann flüstert geheimnisvoll, fast heiser schildert er den Höhepunkt des gruseligen Traums. Es ist Johannas Traum, und niemandem wollte sie ihn je verraten. Der Traum, den der Traummann eigentlich nicht wissen konnte, nicht wissen durfte. Er lässt Johanna durch jede Einzelheit erschauern. Beck charakterisiert ihn durch einen fremden Akzent, durch eine eigene Sprachmelodie, die das orakelhafte seines Wesens verdeutlicht.

Rufus Beck setzt seine stimmliche Vielfalt so gezielt ein, dass es nicht nur realistisch, sondern phantastisch wird. Ein Schauermärchen. Der Hörer glaubt dabeizusitzen, in dem "schummrigen Teesalon" und leise, den Atem anhaltend, mitzuhören.

An anderen Stellen setzt der Sprecher sein Stimmenrepertoire sparsamer ein. Er macht Pausen, zögert, setzt feine Nuancen in den Klang seiner Stimme, die als Anspielungen lediglich eine "Ahnung" zulassen. So kann der Hörer Peinlichkeiten, Hadern oder Schweigen nachvollziehen. Es sind diese kurzen Momente, in denen Beck sein unglaubliches Feingefühl für den Klang eines einzigen Wortes beweist. "Düster" klingt bei ihm auch düster.

Rufus Beck schafft in "Garp und wie er die Welt sah" eine virtuose Klangbühne auf der dramatische, spektakuläre und sensible Szenen gespielt werden. Galant führt er uns durch sein Audio-Theater und wir folgen ihm lauschend - bis es Nacht wird.

Titelbild

John Irving: Garp und wie er die Welt sah. 19 CDs. Gelesen von Rufus Beck.
Heyne Verlag, München 2002.
50,00 EUR.
ISBN-10: 3453214412

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