Realismus mit Gespenstern

Die "Galizischen Geschichten" zeigen Andrzej Stasiuk auf dem Weg nach Dukla

Von Mathias SchnitzlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mathias Schnitzler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Erfahrung von Raum und Zeit, Perspektive und Erinnerung, vielleicht auch die Bedeutungen, die wir den Dingen zuschreiben, haben sich verschoben. Nach der Lektüre von Andrzej Stasiuks besten Büchern schaut man für Augenblicke mit anderen Augen auf die Welt, bis die ursprüngliche Dioptrie das Licht wieder auf gewohnte Weise bricht und die Zeit ihr nervöses Tempo, das Tempo der Großstadt, wieder aufgenommen hat.

Dann kann man erahnen, was Stasiuk bewog, 1986 Warschau zu verlassen und in ein abgeschiedenes Dorf in den Beskiden zu ziehen. Erst hier, unweit der heutigen Grenze zur Slowakei und der Ukraine, wurde der Schriftsteller Stasiuk geboren. Hier debütierte er vor zehn Jahren mit seinem ersten Buch "Die Mauern von Hebron", hier begann er seine literarisch-geologische Recherche nach der sich verbergenden Geschichte in Zeit und Raum, und hier gründete er mit seiner Frau Monika Sznajderman den Verlag Czarne, der sich der jungen Literatur Mitteleuropas, oder wie Stasiuk ironisch präzisiert, "dieses 'schlechteren' Teils, eben Ostmitteleuropas" widmet.

Mit den "Galizischen Geschichten" liegt nun ein schmales Werk von 130 Seiten vor, das in Polen bereits zwei Jahre vor "Die Welt hinter Dukla", Stasiuks erfolgreichstem Buch, erschien. Die "Opowiesci galicyjskie" sind wie "Dukla" mit Menschen darin. Beide Bücher gehören nicht nur geographisch, sondern vor allem in ihrem Versuch realistischer Weltbeschreibung aus poetisch-metaphysischem Blickwinkel unmittelbar zusammen. Die melancholisch-schönen und erdigen Geschichten über die Einwohner eines Vorgebirgsdorfes am Rande der Karpaten nach dem Untergang des Kommunismus füllen Stasiuks südostpolnischen Mikrokosmos, dessen lichtdurchflutete Leere in "Dukla" magisch verzauberte, mit Leben.

"Es wird keine Handlung geben mit ihrem Versprechen eines Anfangs und der Hoffnung auf ein Ende", hieß es in Dukla, "die Handlung ist Vergebung der Sünden, Mutter der Dummen."

Wie ein augenzwinkernder Rückblick auf das eigene Schreiben wirkt diese poetologische Bemerkung nun, wenn man sie im Kontext der älteren "Galizischen Geschichten" liest. Nie war Stasiuk dem Katholizismus näher, nie war sein Mitleid für das Schicksal der Menschen, das sich in ihren Erzählungen und Anekdoten offenbart, deutlicher zu spüren. Immer wieder ist von Erlösung die Rede. Das kleine Buch birst vor Fülle an dörflichen Lebensgeschichten, als wollte Stasiuk das Meisterwerk des Genres, das 1.000-Seiten-Epos "Die Bauern" seines Landsmanns Reymont mit seiner Verschmelzung von bäuerlicher Lebenswelt und Natur, auf minimalstem Raum verdichten.

Der Ich-Erzähler ist in das Dorf Zlobiska gekommen, kommt wie in "Dukla" wieder und wieder, um sich bei Zigaretten, Bier und Wodka, in der Kneipe, in kärglichen Hütten, an der Busstation oder in der Kirche Geschichten erzählen zu lassen. Geschichten von einfachen Menschen, die schwer gearbeitet haben, auf dem Feld oder in den Wäldern beim Holzfällen, gezeichnete Menschen, die zu viel trinken, sechs, sieben oder acht Kinder ernähren und mit vierzig die Gesichter von Sechzigjährigen tragen, Menschen, die Sonntag für Sonntag zur Messe gehen und weitermachen, auch wenn gar keine Arbeit mehr da ist, immer weiter bis zum Tod, der hier allgegenwärtig ist, denn was sollten sie sonst tun?

Vergangenheit und Gegenwart vermengen sich, wenn Stasiuk Erinnerungsbilder projiziert, die Benjamins Idee vom zusammengefalteten Fächer heraufbeschwören. Erst in der Entfaltung ist ein Atemholen möglich. Deshalb erzählen Menschen auf dem Lande, haben sie einmal Vertrauen gefasst, so gern. Wie der Traktorfahrer Jozek, der mit einem Wortschatz von wenigen hundert Wörtern "immer ins Schwarze trifft, weil er nichts berichtigt und präzisiert. Jozek setzt sich, und nach einem Glas Wodka verwandelt er sich vollkommen in Sprache, in eine Rede, die auf die Welt einwirkt, auf die ganze Wirklichkeit, ja selbst auf den Kosmos würde sie einwirken wie Königswasser auf Metalle. Die Reihenfolge der Ereignisse löst sich auf, die Kette von Ursachen und Wirkungen zerreißt, und mit der Geschichte schwindet auch die Sünde. Mit den nächsten Gläsern versetzt Jozek der Zeit den Todesstoß".

Führte Stasiuk in "Dukla" eine spezielle Lichtregie, beleuchten die "Galizischen Geschichten" den Modus der Zeit. Bilder vom Werden und Vergehen, aber auch traumhafte Sequenzen vom Stillstand der Ereignisse entstehen angesichts der ewigen Wiederkehr der Jahreszeiten, die das bäuerliche Leben prägen. Der Abriss einer alten orthodoxen Kirche, die in einem Museum andernorts wieder aufgebaut wird, gerät zu einer Reflexion über den richtigen Umgang mit der Vergangenheit.

Sogar ein reales Gespenst geht um. Die Seele des Mörders Kosciejny, die nebenbei als allwissende Konkurrenzfigur zum ortsfremden Ich-Erzähler fungiert, streicht ruhelos durchs Dorf und wartet auf Erlösung. Das Finale des Buches feiert eine ganz besondere Messe der Verlorenen. Die "Galizischen Geschichten" zeigen den Autor Stasiuk kurz vor "Dukla", noch etwas unsicher schwankend zwischen Natur und Religion, auf dem Weg zu erzählerischer Meisterschaft.

Titelbild

Andrzej Stasiuk: Galizische Geschichten.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2002.
132 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3518413708

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