Wider die universelle Seherfahrung

Norman Brysons "Das Sehen und die Malerei" erscheint auf Deutsch

Von Stefan WieczorekRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Wieczorek

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein drastischer Befund steht am Anfang von Norman Brysons programmatischer Abhandlung "Das Sehen und die Malerei": Der Kunstgeschichte sei der Begriff der Geschichte abhanden gekommen. In Folge hiervon herrscht eine "friedliche Stagnation" innerhalb der Disziplin, die sich, was grundsätzliche Fragen zu Bild und Wahrnehmung betrifft, auf die Klassiker des Metiers verlässt statt sich die Konsequenzen aus strukturalistischer Zeichentheorie und dem kulturwissenschaftlichen Paradigmenwechsel, der die anderen Geisteswissenschaften erreicht hat, zu erarbeiten.

Bryson macht diese Stagnation an der Kontinuität der Vorstellung vom Bild als Replik der Welt fest. Indem das Bild kunstwissenschaftlich als Aufzeichnung einer Wahrnehmung definiert wird, reicht es aus, das Verhältnis von Bild und Betrachter enthistorisiert als Phänomen der Wahrnehmungspsychologie zu beschreiben. Die künstlerische Praxis, die Kodierungsarbeit, die im Bild geleistet wird, wird dabei negiert. Die Argumentation des Bandes belegt dies zunächst mit einer treffenden Anekdote aus der antiken Ästhetik: In einem Wettstreit gelingt es Zeuxis Trauben abzubilden, die so realistisch scheinen, dass Vögel auf die Täuschung hereinfallen. Sein Kontrahent Parrhasios hingegen führt ihn vor ein Bild, das einen naturgetreu gemalten Vorhang zeigt. Zeuxis wird ungeduldig und fordert den Vorhang zu entfernen, um endlich das Bild sehen zu können. Als er seinen Irrtum einsieht, gibt er sich geschlagen. Hier sieht Bryson die Vorherrschaft einer ästhetischen Doktrin, die besagt, das Ziel des Künstlers sei es, die essentielle Kopie der Welt zu schaffen und dabei alles hinderliche - wie etwa den persönlichen Stil - zu unterdrücken. Das Sehen des Bildes wird von seinen historischen Bedingungen isoliert. Entscheidend ist allein, inwieweit die Täuschung glückt. Diese argumentativen Vorarbeiten dienen Bryson vor allem dazu, eine untermauerte Position gegen Ernst Gombrichs These des Bildes als Wahrnehmungsaufzeichnung beziehen zu können. Ideengeschichtlich fesselnd breitet Bryson aus, wie Gombrich seine perzeptuelle Theorie in Anlehnung an Poppers Kritik an der induktiven Methode in den Wissenschaften entwickelt hat. Nur scheinbar kommt bei Gombrich Geschichtlichkeit in die Kunstanalyse, da Kunstgeschichte hier als eine Abfolge optischer Schemata verstanden wird und nicht als Teil von Kultur.

Wie aber lässt sich Kunst als Teil des kulturellen Diskurses beschreiben, ohne auf ein simples Basis-Überbau-Konzept zurückzugreifen? In mehreren Analysen versucht "Das Sehen und die Malerei" darauf eine Antwort zu geben. Vollzogen werden soll der "Schritt von der Optik zum sozialen Text". An eigener Begrifflichkeit führt Bryson "gaze" und "glance" ein, die zwei diametrale Sehhaltungen beschreiben. Während "glance" ein schweifender, involvierter Blick ist, der die Spuren der Körperarbeit bei der Produktion von Kunst im Auge behält, ist die Aktivität des "gaze" zugleich distanziert als auch kontemplativ. In einem historischen Überblick arbeitet Bryson heraus, wie die Arbeit des Körpers und der historische Ort des Kunstwerks, seine Zeitlichkeit, in der europäischen Malerei getilgt werden. An deren Stelle rückt das Bild als reine Idee, vermittelt durch den "gaze". Diese Methodik erweist sich als aufschlussreich, da sie die Konstruktionsarbeit verschiedener historischer Konzepte der Perspektive entschleiert. Doch bleibt zu fragen, ob damit tatsächlich jene Geschichtlichkeit der Kunst thematisiert wird, auf die die Kritik des universellen Blickes abzielte, nämlich die Relation vom künstlerischen Feld zum sozialen Raum.

Die Stärke von "Das Sehen und die Malerei" liegt in der radikalen Kritik der kunstgeschichtlichen Selbstverständlichkeiten wie der universalen Seherfahrung, die unhistorisch das Verständnis eines realistischen Bildes ermöglichen soll. Das Gegenkonzept hierzu liefert Bryson in dieser Arbeit noch nicht. Zwar kündigt er dieses immer wieder an, verschleppt es hier in der Auseinandersetzung mit den vielen Fronten, die er aufmacht, jedoch genauso regelmäßig. Auch mutet die Beharrlichkeit, mitunter auch Redundanz, mit der Bryson für die Analyse der Interaktion von signifizierender, politischer und ökonomischer Praxis als kunstgeschichtlichem Gegenstand eintritt, bisweilen langatmig an, da seine vehement vertretenen Forderungen zumindest in der akademischen Diskussion heute weitgehend Konsens sind.

Trotzdem macht diese nachgetragene Publikation in deutscher Sprache Sinn. Auch wenn die Arbeit in der wissenschaftlichen Diskussion zwangsweise an Aktualität verloren hat, insbesondere was die gezogenen argumentativen Fronten betrifft, gilt das aber keineswegs für ihr Hauptanliegen: Die natürliche Einstellung zu erschüttern mit der der Betrachter sich Gemälden nähert. Um die anhaltende Notwendigkeit dieser Reflexion zu erkennen, reicht ein Blick in die Museen, beispielsweise darauf, mit welcher Unbekümmertheit auch heute noch Landschaftsmalerei als Abbild der Realität präsentiert wird ohne zu problematisieren, wie Realität durch Signifizierung erst gemacht wird.

Titelbild

Norman Bryson: Das Sehen und die Malerei. Die Logik des Blicks.
Übersetzt aus dem Englischen von Heinz Jatho.
Wilhelm Fink Verlag, München 2001.
228 Seiten, 29,70 EUR.
ISBN-10: 3770533690

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