Zauberer und Kunst

Michael Maar versucht zu erklären, "Warum Nabokov Harry Potter gemocht hätte"

Von Christoph JürgensenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christoph Jürgensen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Konstellation ist durchaus reizvoll: Ausgerechnet Michael Maar, den die London Review of Books zum "talentiertesten deutschen Literaturkritiker der jüngeren Generation" erklärt hat, widmet seine analytischen Fähigkeiten Harry Potter, dem, wie der Klappentext formuliert, "fulminantesten Bucherfolg der Geschichte". Und dann stellt der Titel des Bandes auch noch die überraschende Frage: "Warum Nabokov Harry Potter gemocht hätte". Eine Frage, die sich zwar kein Leser von "Harry Potter" je gestellt haben wird, aber die Antwort könnte ja interessant sein. Da der Klappentext überdies vollmundig erklärt, dass Maar "die Bücher von Joanne K. Rowling als raffinierte literarische Kunstwerke ernst" nimmt, ist die Erwartungshaltung des Lesers schließlich denkbar hoch.

Und auch die Eröffnung des Buches klingt noch vielversprechend. Maar zeigt uns Professor Pnin, der zu Beginn des vielleicht schönsten Romans von Vladimir Nabokov im Zug sitzt - im falschen Zug allerdings. Daher gelangt er in eine fremde Stadt, wo er erschöpft auf eine Parkbank sinkt und sich in einer Vision als elfjährigen Jungen sieht. Diese fiktive Szene liest Maar mit einer realen Zugfahrt zusammen. Auch Joanne K. Rowling sitzt im Zug, allerdings im richtigen, und auch sie hat eine Vision. Wie aus dem Nichts taucht in ihrem Kopf plötzlich die Idee zu der Geschichte des Zauberlehrlings Harry Potter auf, die sie bald darauf berühmt machen wird. Nach dieser etwas forcierten Konstruktion ist von Nabokov allerdings über hundert Seiten lang nicht mehr die Rede.

Was stattdessen folgt, ist enttäuschend. Immer wieder entdeckt Maar beziehungsreiche mythologische Anspielungen, weist der Autorin erzählerische Tricks nach oder spürt verborgene Motive auf, doch weite Teile seines Buches bestreitet Maar schlicht mit einer ausführlichen Nacherzählung dessen, was sich in den bisher erschienenen vier "Harry Potter"-Bänden ereignet hat. Zur Legitimierung dieses Vorgehens verweist er dabei auf das, was der englische Erzähler und Kritiker E. M. Forster in seiner 1927 gehaltenen Vorlesungsreihe "Aspects of the Novel" über die Bedeutung der Fabel vortrug. Wenn der Plot fugenlos verarbeitet sei, wenn der Erzähler also keine "losen Enden stehen lässt", dann entstehe "etwas ästhetisch Konkretes [...], etwas, das der Romancier offen hätte vorweisen können, nur dass es dann niemals schön geworden wäre". Genau diese Schönheit des Plots aber, die nun Maar zufolge charakteristisch für die "Harry Potter"-Romane sei, erschließt sich leider nicht durch seine Paraphrase des Handlungsganges. Dass Rowling ihre Bücher genau konstruiert hat und jedes Detail und Motiv seinen vorbestimmten Ort im Gesamtplan besitzt, ist inzwischen ein Allgemeinplatz, und es wird nicht ersichtlich, welches interpretatorische Surplus sich durch den Rekurs auf Forster erwirtschaften lässt. Ebenso unergiebig bleibt auch der bloße Verweis auf die Erzähltechnik Jane Austens, die von Joanne K. Rowling selbst wiederholt als Vorbild für ihr Schreiben genannt wurde. Deutlicher wird hingegen, worin Maar das hauptsächliche Merkmal sieht, das "Harry Potter" von anderen Kinderbüchern kategorial unterscheidet. Es ist die "komplexe Psychologie" der Figuren, die immer wieder ganz anders reagieren, als man es erwarten würde, und somit deutlich von den schematischen Charakterzeichnungen der gängigen Kinderliteratur abweichen.

Und dann beantwortet Maar tatsächlich doch noch die Titelfrage, warum Nabokov Harry Potter gemocht hätte. Maar ist natürlich viel zu klug, als dass er die naheliegenden Einwände gegen diese hermeneutisch-psychologische Spekulation nicht kennen würde, und so nennt er sie offensiv gleich selbst. Brisant ist vor allem, dass Nabokov eine Vielzahl von renommierten Autoren wie etwa Thomas Mann oder Dostojewski für drittklassige Schriftsteller hielt. Warum sollte dieser (über-)kritische Geist also "Harry Potter" mögen? Doch dann nennt Maar uns einige gute Gründe, die sehr für seine These sprechen. Vor allem verbinde beide die "Kunst der Komposition", das Magische und Wunderbare ihrer Romanwelten sowie wie das Parodistische und Unprüde der Darstellung. Noch einen weiteren Grund gibt Maar für seine Vermutung an, der, wie er eingesteht, zwar "ein schlechter Grund" sei, doch "selbst ein Nabokov wäre nicht gegen ihn gefeit". Nur zwei Bücher gebe es, zitiert er Rowling, deren letzte Seite sie zum Weinen bringe, "ohne dass ich die vorhergehenden Seiten zu lesen brauche. Eines davon ist "Lolita", es klappt immer".

Weniger erfreulich ist dann das letzte Kapitel des Bandes, "Der Tagesprophet", in dem Maar einige Prognosen zu den Entwicklungen der noch ausstehenden drei Bände der "Potter"-Saga gibt. Auch hier schickt er zunächst voraus, dass er um die Gefahren derartiger Prophezeiungen wisse, scheut sich dann aber nicht, Mutmaßungen wie die folgende anzustellen: "Wie wird es sich mit Ron entwickeln? [...] Es ist nicht einmal auszuschließen, dass Ron eine Zeitlang in die Nähe des Bösen rutscht." Damit erreicht Maar ein Niveau, das Internet-Chats vorbehalten bleiben sollte.

So bleibt schließlich ein ambivalenter Eindruck: Einerseits ist Maar zweifellos ein versierter, ja gelegentlich brillanter Stilist, der mit merklicher Begeisterung seiner literarischen Spurensuche nachgeht, anderseits verschenkt er aber viel Platz mit umfassenden Handlungsrekonstruktionen und unnützen Spekulationen. Und so verstärkt das zwanzigseitige Glossar am Ende des Bandes nur noch den unguten Eindruck, dass hier etwas mit aller Anstrengung zu einem Buch verbunden wurde, was vielleicht in zwei oder drei Essays besser aufgehoben gewesen wäre.

Titelbild

Michael Maar: Warum Nabokov Harry Potter gemocht hätte.
Berlin Verlag, Berlin 2002.
187 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-10: 3827004543

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