Die Herkunft der ›Büchse der Pandora‹

Eine neue Textsammlung zu einem faszinierenden Mythos

Von Florian GelzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Florian Gelzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Genug, ich traue den Geschenken nicht, / Die mir von solchen Freunden kommen! / Auf ein Kamin zu stellen, nun, dazu / Ist diese Büchse schön genug; / Gieb immer her!" - Auf diese respektlose Weise fertigt Prometheus in Christoph Martin Wielands "Pandora" (1779) die Titelheldin ab, die ihn bittet, ihr Gastgeschenk - die "Büchse der Pandora" - zu öffnen. Wielands kleines Lustspiel ist eine augenzwinkernde Hommage an einen Stoff, der seit der Antike eine ungebrochene Faszinationskraft hat: die Geschichte von Pandora. Einen Einblick in die seit über zwei Jahrtausenden andauernde Wirkungsgeschichte dieses Mythos zu geben, hat sich eine neue, von zwei Altphilologen besorgte Textsammlung vorgenommen. Eine ebenso dankbare wie schwierige Aufgabe: dankbar, weil der Mythos bis zum heutigen Tag in der europäischen - und gerade auch der deutschen - Literatur und Philosophie stark präsent ist; schwierig, weil die heterogenen Interpretationen des Mythos vielfach verschlungene Rezeptionslinien hervorgebracht haben.

Eine Auslese repräsentativer Texte zum Pandora-Mythos sieht sich also mit dem Problem einer äußerst vielschichtigen Geschichte der Deutungen und Bearbeitungen konfrontiert. Nahezu jedes einzelne Detail des ursprünglichen Mythos wurde im Verlauf der Überlieferung kontrovers diskutiert, wie das Standardwerk zum Thema, "Pandora's Box" (1956) der Kunsthistoriker Erwin und Dora Panofsky, eindrucksvoll dokumentiert. Während das Schwergewicht in dieser bis heute unübertroffenen Studie auf die Rezeption des Mythos in der bildenden Kunst gelegt wurde, besteht das vorliegende, lose bebilderte Lesebuch vorwiegend aus Textproben entscheidender literarischer Fassungen und Auslegungen des Mythos. In ähnlicher Aufmachung sind bei Reclam Leipzig bereits Anthologien zu den Mythen von Orpheus (1997), Ikarus (1998) oder - von derselben Herausgeberin - Narziss (1999) und anderen erschienen. Das Ziel, "sowohl Laien als auch akademisch geschulte Leser" anzusprechen, ist auch mit dem vorläufig jüngsten Band der bewährten und preisgünstigen Reihe erreicht worden.

Zumindest ein Element des Pandora-Mythos dürfte heute noch allgemein bekannt sein: die rätselhafte 'Büchse der Pandora'. Seinen Ursprung hat das Motiv in einer berühmten Erzählung, die sich in Hesiods Epos "Erga kai hemerai" ("Werke und Tage", um 700 v. Chr.) eingestreut findet. Diesem locus classicus zufolge wurde Pandora von Hephaistos auf Befehl des Zeus aus Erde erschaffen, um den Feuerräuber Prometheus zu bestrafen und zu verderben. Von den Göttern mit prächtigen Gaben ausgestattet - und von Hermes mit Lügen und schmeichelnden Worten begabt -, wird Pandora auf die Erde geleitet und dort von Epimetheus, Prometheus' Bruder, zur Frau genommen. Während ihrer Ehe mit Epimetheus soll Pandora Krankheit und Laster über die Welt gebracht haben, indem sie ein unheilvolles Gefäß öffnete, dessen Inhalt sofort entwich. So schlecht es den Menschen seither gehen mag: wenigstens elpis, die Hoffnung, ist ihnen geblieben. Das Motiv des Gefäßes, dass alle Übel enthält, hat sich in der Neuzeit zunehmend verselbständigt und wurde zu einem beliebten Symbol für Unheilbringendes. Es erscheint in Literatur und bildender Kunst als Sinnbild der Erbsünde, der Verführungskraft der Frau oder aber der Zerstörungsmacht des Fortschritts - so spielt etwa eine 1947 fertiggestellte Gouache von Max Beckmann mit dem Titel "Die Büchse der Pandora" unzweideutig auf den Schrecken der Atombombe an.

Allerdings konnten schon die Panofskys nachweisen, dass das - längst geflügelte - Wort von der 'Büchse' auf einem Übersetzungsfehler beruht. Bei Hesiod ist von einem pithos, einem großen irdenen Vorratskrug, die Rede. Erasmus von Rotterdam, der in seinen "Adagia" (1508) auf Hesiods Erzählung anspielt, übersetzte wohl als erster pithos mit lat. pyxis, ,Vorratskrug' mit 'Büchse' also. Dies ist nur ein Beispiel für die mannigfachen, harmlosen bis folgenschweren, Retuschen und Veränderungen am anfänglichen Mythos: Hat nun tatsächlich Pandora das Gefäß geöffnet, und nicht etwa Prometheus oder Epimetheus (nach Makedonios)? Hat das Gefäß wirklich nur Übel enthalten, und nicht im Gegenteil alle Güter (nach Babrios)? Bedeutet der Name Pandora 'das Geschenk aller (Götter)', 'die Allbeschenkte' oder umgekehrt 'die Allesschenkende'? Ist sie als kalon kakon, als 'schönes Übel', oder vielmehr als Symbol der Hoffnung zu betrachten?

Jede dieser (und weiterer) Interpretationslinien steht für eine ganze Tradition literarischer Bearbeitungen des Mythos. Besonders nachhaltig gewirkt haben drei Deutungstendenzen, die allesamt die im Urmythos angelegte Ambivalenz von Gut und Böse, Verheißung und Bedrohung, Neugier und Bestrafung in sich tragen: Seit dem frühen Christentum wurden Parallelen zwischen dem Pandora-Mythos und dem biblischen Sündenfall gezogen und Pandora der Eva angeglichen - "Eva Prima Pandora" heißt ein Gemälde von Jean Cousin (um 1538). Folgenreich war ferner die Stilisierung Pandoras zu einer weiblichen Urgewalt, sei es als verführerische femme fatale (wie auf den Gemälden Dante Gabriel Rossettis), sei es als zerstörerische Elementargewalt. Schließlich kann Pandora auch, unter Berufung auf eine gleichnamige Naturgottheit, als Überbringerin guter, kulturstiftender Gaben erscheinen, so etwa in John Lylys Komödie "The Woman in the Moone" (1597).

Die vorliegende Textsammlung bringt nun zu all diesen Deutungssträngen ausgewählte 'Belegstellen' aus der europäischen Literatur von der Antike über die Renaissance bis zur Neuzeit. Aufschlussreich an dieser Überschau sind nicht so sehr die prominenten Bearbeitungen des Mythos - etwa durch René Lesage, Goethe, Wieland oder Wedekind -, sondern die weniger geläufigen Umdeutungen und produktiven Fehlinterpretationen. Die hellenistische Philologie hatte beispielsweise eine allegorische Erzählung in Homers "Ilias" (Zeus verteilt aus zwei Fässern Gutes und Übles an die Menschen) als Quelle für Hesiods Erzählung vermutet; andere Lesarten brachten die Hesiod-Stelle mit einem kultischen Fest, der pithoigia ('Fassöffnung'), in Verbindung. Diese ungewöhnlichen Interpretationen haben auf ganz unterschiedliche Weise etwa Äsop, Boccaccio, Herder oder Schopenhauer aufgenommen und weiterentwickelt. Dass der Band eine Fülle solch 'verwirrter' Rezeptionslinien abseits der wirkungsmächtigeren Traditionen aufzeigt, ist verdienstvoll. Erfreulich zudem, dass die literarischen Textausschnitte jeweils in Originalsprache und Übersetzung wiedergegeben werden.

Das Gros der Textbeispiele liegt allerdings bereits in der erwähnten Sammlung der Panofskys vor - teilweise gar in ähnlicher thematischer Gruppierung. Deshalb sind zwei Ergänzungen der neuen Anthologie besonders wertvoll: Zum einen sind die einzelnen Kapitel durch z. T. unbekannte Beispiele aus der Literatur des 20. Jahrhunderts ergänzt. Dies ist auch im Hinblick auf den mit dem Pandora-Stoff eng verflochtenen Prometheus-Mythos erhellend, dessen Rezeption in der Gegenwartsliteratur kürzlich von Theodore Ziolkowski ("The Sin of Knowledge", 2000) eingehend untersucht wurde. Zum anderen bieten die beiden letzten Kapitel der Anthologie einen Aufriss der Rezeption des Pandora-Mythos in der 'theoretischen' Literatur. Die Proben aus der kontroversen Interpretationsgeschichte - von allegorischen Auslegeversuchen bis zu postmodernen und feministischen Lesarten - rechtfertigen so den Untertitel "Texte von Hesiod bis Sloterdijk".

Als Einführung, welche die ganze Bandbreite der 'Pandora-Literatur' vor Augen führt, leistet das Buch also gute Dienste. Sämtliche Textstellen sind - keine Selbstverständlichkeit bei populären Anthologien - mit philologischer Genauigkeit nachgewiesen, so dass ausgewählte Problemstellungen rasch weiterverfolgt werden können. Etwas gewöhnungsbedürftig sind die kommentierenden Texte der Herausgeber. Auf das 'Vorwort' folgt ein kurzer 'Seitenblick', in dem ein weiter Bogen von Pandora zu Playstation und Internet geschlagen wird - eine etwas bemühte Aktualisierung des Mythos ("Schnittstelle zwischen Modellkonstruktion und lebendiger Natürlichkeit"), derer die versammelten Texte eigentlich nicht bedürften. Die den Band abschließenden "Scholien" der Herausgeber wiederum kommentieren - stets kenntnisreich und präzise - schön der Reihe nach jede der (über hundert) Textpassagen.

Als eigentümliche Folge der streng didaktischen Durchdringung des Materials gerät die Textsammlung zum herausgelösten Belegmaterial dieser 'Randbemerkungen'. Nicht die Textzeugen werden kommentiert, sondern diese, so scheint es, illustrieren die Thesen der Herausgeber. In ihrer gedrängt-katalogisierenden Form wirken die "Scholien" wie das Destillat einer umfangreichen akademischen Arbeit - und sie sind es auch: Der Band beruht offenbar auf der Dissertation des Herausgebers und einer geplanten Publikation der Herausgeberin zum Thema. Besser abgerundet wäre "Mythos Pandora" vielleicht durch einen nicht derart auf Vollständigkeit bedachten Essay gewesen - wie es die Panofskys bzw. Theodor Ziolkowski in ihren Studien mit viel Mut zur Synthese vorgemacht haben. Der hohe Gebrauchswert der insgesamt vorzüglichen Auswahl und Präsentation soll aber durch diese Einwände nicht geschmälert werden.

Titelbild

Almut-Barbara Renger / Immanuel Musäus (Hg.): Mythos Pandora. Texte von Hesiod bis Sloterdijk.
Reclam Verlag, Leipzig 2002.
260 Seiten, 12,90 EUR.
ISBN-10: 3379200336

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