Nichts- was immer das sein mag

Peter Fuchs über "Das Unbewußte in Psychoanalyse und Systemtheorie"

Von Nina OrtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nina Ort

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In der deutschsprachigen Literatur wird die psychoanalytische Theorie Jacques Lacans insbesondere in literatur- und sprachwissenschaftlichen Arbeiten beachtet. Dies ist nicht so verwunderlich, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag - vielmehr wird damit eine Kompetenz der Psychoanalyse in den Vordergrund gerückt, die nach Freud in Vergessenheit geraten war: die Kompetenz zur Analyse des Sprechens und der Sprache. Wenn auch die populären psychoanalytischen und psychologischen Strömungen auf andere Methoden setzen, so sind es nun immerhin Sprachwissenschaftler, die von dieser semiotischen Kompetenz der Lacanschen "Psychosemiologie" profitieren.

Seitdem Systemtheorie die Identitäts- auf eine Differenzlogik umgestellt hat und sich um die Formulierung der eigenen Grundlagen bemüht, hat auch sie es mit eigentlich semiotischen Problemen zu tun. Ähnlich wie beim sprachlichen Zeichen geht es um die Relationierung von zwei Elementen - in der Systemtheorie um den binären Schematismus, in der Semiotik um Signifikant und Signifikat - bzw. um ein zusätzliches drittes Element, das diese Dyade reguliert. In "Die Umschrift" (1995) oder in der Gemeinschaftsarbeit mit Niklas Luhmann, "Reden und Schweigen" (1989), zeigen sich die Tendenz des sprach- und kommunikationstheoretischen Interesses, das die Arbeit von Fuchs leitet, nämlich Systemtheorie als Kommunikationstheorie dort zu erproben, wo Kommunikation scheitert, unverständlich wird, abbricht.

Systemtheorie unterscheidet kategorisch zwischen Bewußtsein und Kommunikation. Und über das Bewußtsein kann sie ihrem bisherigen Selbstverständnis nach eigentlich nichts sagen. Umso überraschender ist es, daß sie nun sogar den Anspruch stellt, Aussagen über das Unbewußte zu machen. Fuchs´ Vorstoß in diese Richtung ist ebenso brillant wie problematisch. Er geht sein Thema vom differenzlogischen Ausgangspunkt an; ihn interessiert die basale Unterscheidung zwischen Kommunikation und Bewußtsein. Was läßt sich am Bewußtsein beobachten. Wie kann ein Gedanke an den anderen anschließen ohne daß kommunikative Strukturen daran teilhaben? Und wie können Bewußtseinsoperationen evaluiert werden, wenn dies nur kommunikativ geschehen kann? Dies sind die Fragen, denen Fuchs in seinem Buch nachgeht.

Programmatisch stellt er seiner Arbeit folgende Überlegung voran: "Die Schwierigkeit besteht darin, daß die bewußten Konstruktionen entweder 'stumm' sind oder kommuniziert werden (und dann sind sie nicht mehr nur bewußt), und daß die sozialen Konstruktionen entweder 'überhört' werden oder von informationsverarbeitenden Bewußtseinen vernommen werden (und dann sind sie nicht mehr nur sozial)."

Je intensiver Fuchs Bewußtsein unter die Lupe nimmt, um so deutlicher zeichnet sich ab, daß die von der Systemtheorie strikt geforderte Trennung zwischen Kommunikation und Bewußtsein nicht gelingen kann. Fuchs konzentriert sich auf die Rekonstruktion von Bewußtsein. Dabei entsteht eine Asymmetrie, da insbesondere im Bewußtsein Kommunikatives gefunden wird, insofern Bewußtsein nämlich "sich selbst beobachtet, aber dabei dem Eindruck nach keine eigenen Mittel benutzt, sondern die fremden Unterscheidungen dessen, was wir oben die Verlautbarungswelt genannt haben."

Das Bewußtsein sei eine Instanz der Beobachtung. Deren "seltsame Eigentümlichkeit" bestehe darin, "daß die dabei benutzten Unterscheidungen schlechthin immer sozial angelieferte Unterscheidungen sind. Das ist nur ein anderer Ausdruck dafür, daß das Bewußtsein sich nicht sinnfrei beobachten kann und, wenn es dies doch könnte, die sinnfreien Operationen entweder nicht bezeichnen (nicht beobachten, nicht mitteilen) würde oder im Moment, in dem es die bewußte Bezeichnung, die Mitteilung wollte, doch wiederum Sinn gebrauchen müßte."

Diese Lösung ist in der Tat erstaunlich. Denn sie bedeutet nichts geringeres als die Auflösung einer der grundlegendsten Binärdifferenzen der Systemtheorie: Die Rehabilitierung des Bewußtseinsbegriffs gelingt durch die Aufweichung der Grenze zwischen Kommunikation und Bewußtsein. Als Differenz bleibt nur eine Art Mehrwert des Bewußtseins übrig. Dieses habe das nämlich zweifelsfrei "Erfahrungen mit Phänomenen, die sich der Kommunikation entziehen".

Bewußtsein ist nach Fuchs wie Kommunikation ein autopoietisch geschlossenes System. Dessen Operationsweise, die Beobachtung, zwei beinhaltet zwei Aspekte, einen operativen und einen beobachtenden. Eine Beobachtung operiert selbstblind und kann erst nachträglich als ein vergangenes Ereignis beobachtet werden. Hier verortet Fuchs das, was er als das "Nichtbewußte" bezeichnet: "Dieser Begriff [...] bezieht sich auf das Fungieren des Systems selbst, auf die Kehrseite dessen, was es tut (Beobachten), auf die schiere (wiewohl nur analytisch separierbare) Operativität." Dieses Nichtbewußte sei die "Einhakstelle" für das eigentlich Unbewußte.

Zusammenfassend stellt Fuchs die Grundunterscheidungen nebeneinander: die Freuds (Kommunikation - Psyche: Bewußtsein/Unbewußtes), die Lacans (Kommunikation - Psyche: Moi/Sprache/Je) und die der Systemtheorie (Kommunikation - Bewußtsein/Gehirn). Und er macht Konzessionen an die beiden psychoanalytischen Modelle, wenn er schreibt: "Wenn man die systemtheoretische Lösung des Schemas vorzieht, wird man sich darüber klar sein müssen, daß sie an der Freudschen Innovation vorbeigeht", weil die systemtheoretische Option die Effekte, "die geläufigerweise als unbewußt verbucht werden, auf andere Systemebenen", z.B. auf das Gehirn, verlagere.

Fuchs hält dennoch an dem binären Schematismus der Systemtheorie fest. Das Bewußtsein zieht er dabei auf die Seite von Kommunikation hinüber, wenn er konstatiert: "was dem Bewußtsein bewußt ist, das ist es durch das sozial angelieferte Unterscheidungs- und Bezeichnungspotential." Im Nachwort formuliert Fuchs noch einmal ausdrücklich seine Vorstellung, "daß auch die Beobachtung des Bewußtseins durch die dafür eingesetzten Bewußtseinsexperten auf Kommunikationsprozesse umgeschrieben werden können." Allein der operative Aspekt des Bewußtseins, seine sich selbst gegenüber blinde Operativität, wird nun als das Unbewußte beschrieben; Fuchs definiert deshalb "Das Bewußte ist das Unbewußte". Damit bleibt der binäre Schematismus der Systemtheorie erhalten; die Differenz wäre nun allerdings: "Kommunikation, Bewußtsein - Unbewußtes". Unklar bleibt dabei der Unterschied zwischen Nichtbewußtem und Unbewußtem.

Die Beschäftigung mit dem Begriff des Bewußtseins führt Fuchs also zu einer durchweg systemtheoretischen Lösung. Was ist dabei durch die Konsultation der psychoanalytischen Theorien Freuds und Lacans gewonnen? Bevor Fuchs zu seiner systemtheoretischen Interpretation des Bewußtseinsbegriffs übergeht, referiert er in zwei großen Kapiteln die zentralen Thesen der beiden Psychoanalytiker. Seine gesamte Argumentationslinie beschreibt dabei den Psychismus als ein defizitäres System, das "ausgestattet [sei] mit einem Mangel". Verschiedene Interpretationen dieses Mangels, etwa als "Ursprungsverlust", "méconnaissance" oder als "Unmöglichkeit der vollständigen Selbstrepräsentanz des Beobachters deuten bereits die Stoßrichtung der Argumentation von Fuchs: die Selbstblindheit des Beobachtens im operativen Vollzug. Bei Freud ist es unter anderem die Konzeption der Urverdrängung und der nachdrängenden, der "eigentlichen" Verdrängung, die Fuchs in seiner Defizienz-These bekräftigt, bei Lacan dient beispielsweise dessen Idee des Spiegelstadiums und die daraus resultierende "imaginär-identifikatorische Intersubjektivität" der Argumentation von Fuchs. Denn er sieht darin die paradoxale Situation des Bewußtseins, das sich, wenn es sich selbst beobachten will, zu fremden Mitteln greifen, also mit "sozial angelieferten Unterscheidungen" operieren muß.

Beide Theorien, die des Bewußtseins und die des Unbewußten, spitzt Fuchs damit, seinem Argumenationsziel folgend, auf deren Vorstellungen des "Realen" zu. Denn tatsächlich ist das Reale (in der Lacanschen Triade von Imaginärem, Symbolischem und Realem) das schlechthin nicht Beobachtbare. Dabei unterläuft Fuchs jedoch der Fehler, das Unbewußte mit dem Realen gleichzusetzen. Wie würde, so Fuchs, "die Antwort auf die kühle Frage lauten, was ein Bewußtsein beobachtet, wenn es sich selbst beobachtet im Blick auf das, was es jenseits seiner (sozial angelieferten) Unterscheidungen ist? Freud jedenfalls, der diesen abenteuerlichen Versuch unternommen hat, sieht buchstäblich nichts." Und was sieht Lacan, "wenn er die primordiale Fissur beobachtet"? Er sieht "dasselbe wie Freud: nichts, was immer das sein mag."

Dieses Nichts, eben das Reale ist jedoch nach Lacan nur die Möglichkeitsbedingung jedes psychischen oder semiotischen Prozesses überhaupt: es ist nicht gleichzusetzen mit dem Unbewußten. Die Entdeckung des Unbewußten durch die Psychoanalyse wäre nicht mehr als eine elegante Lösung für das Theoriegebäude an sich, wenn sie nicht eben einen therapeutischen Zugang zu den psychischen Krankheitsbildern weisen würde. Das weite Feld psychoanalytischer Praxis beruht auf einem komplexeren Begriff des Unbewußten, das "artikuliert ist wie eine Sprache", ohne jedoch in der eigentlich semiotischen Dimension zu liegen. Diesem Problem ist Lacans Differenzierung zwischen symbolischem und imaginärem Bereich gewidmet, dem Umschlagplatz dyadischer, präsemiotischer in triadische, semiotische Konstruktionen. Hier liegt außerdem die Theoriestelle, die eine psychoanalytische Konzeptualisierung von Semiotik erlaubt und die der Systemtheorie wichtige Hinweise auf deren eigene Differenzierungsmuster liefern könnte. Durch die genuin triadische Struktur des Psychismus, wie Lacan ihn konzipiert, ist gleichzeitig ein triadisches Zeichenmodell vorgegeben, das eine sinnvolle Alternative zu der systemtheoretischen Konzeption einer Binärdifferenz und einer zusätzlichen externen/internen dritten Instanz darstellen könnte. Gleichermaßen interpretiert Fuchs den "Mangel" allein in Hinblick auf die eigene These der Selbstblindheit des Bewußtseins als Defizit. Dabei bleibt auch hier die semiotische Dimension des Mangels, wie sie Lacan herausgearbeitet hat, unbemerkt.

Fuchs gelangt mit seiner Untersuchung zu dem Ergebnis: "Die Systemtheorie nimmt nicht an, daß es andere psychische Instanzen als das Bewußtsein gebe [...]. Es gibt nicht in dieser Argumentation das Bewußtsein und das andere Psychische, es gibt nur das Bewußtsein [...]. Die Theorie gestattet den Verzicht auf die Hypostasierungen nichtbewußter psychischer Instanzen." Bewußtsein wird von Fuchs im binären Schematismus der Seite der Kommunikation zugeschlagen, und das Unbewußte nimmt nun als das schlichtweg Unbeobachtbare dessen Platz ein. Systemtheoretisch lassen sich dann auch die massiven Auswirkungen des Unbewußten, der Verdrängung und den (neurotischen, hysterischen etc.) Symptombildungen nur konstatieren, nicht aber erklären, weil deren Ursachen im Unbeobachtbaren liegen.

Es ist Peter Fuchs´ Verdienst, zwei große Gedankengebäude unseres Jahrhunderts in Kontakt miteinander zu bringen. Dies insbesondere, da er das theoretische Potential der Psychoanalyse wieder sichtbar macht und ihr durch die Konfrontation mit der Systemtheorie ihren eigentlichen, heute beinahe in Vergessenheit geratenen Wert und ihre Seriosität wieder zuerkennt. Der Versuch eines systemtheoretischen Vorstoßes in die Entdeckungen der Psychoanalyse stellt einen ersten Schritt in dieses noch vollkommen unausgelotete Forschungsfeld dar. Fuchs´ Überlegungen können als ein spannender Beitrag hierzu gelesen werden, dessen brillante Argumentationen die Lektüre zu einem Erlebnis machen. Fuchs selbst will mit seinem Beitrag explizit keinen Theorienvergleich, sondern merkt an: "Im Mittelpunkt stand weniger die Richtigkeit/Unrichtigkeit der beobachteten Theorien, sondern mehr ihr Maß an Unterscheidungsscharfsinn, an disziplinierter Phantasie, an délicatesse". Ebendiese Qualitäten weisen die vielfältigen, fruchtbaren und raffinierten Gedanken des Buches von Fuchs selbst auf.

Titelbild

Peter Fuchs: Das Unbewußte in Psychoanalyse und Systemtheorie. Die Herrschaft der Verlautbarung und die Erreichbarkeit der Gesellschaft.
Velbrück Wissenschaft, Frankfurt a. M. 1998.
240 Seiten, 9,60 EUR.
ISBN-10: 351828973X

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