Kulturtheorie als Antwort auf Antisemitismus

Zu einem Buch von Charlotte Schoell-Glass über Aby Warburg

Von Petra WeckelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Petra Weckel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine ganz neue Perspektive auf den Kulturwissenschaftler Aby Warburg (1866-1929) wirft die Hamburger Kunsthistorikerin Charlotte Schoell-Glass. Sie erklärt nicht seine kunsthistorische Methode, sondern fragt nach einer durchgängigen Problematik in seinen Werken und seiner Hinterlassenschaft. Obwohl Warburg das Problem des Antisemitismus in seinen Publikationen eher verdeckt hat, ist der ihm begegnende Judenhaß nach Schoell-Glass eine essentielle Antriebsfeder für seine Forschungen gewesen. Schoell-Glass hat, um ihre These zu belegen, die in London befindliche Bibliothek und das Arbeitsarchiv Warburgs Blatt für Blatt analysiert. Den Umfang dieser kräftezehrenden Kleinarbeit umschreibt sie selbst in ihrer Einleitung unter der Überschrift "Archäologie in Archiv und Bibliothek": "Jeder publizierten Druckseite Warburgs (etwa 600) entsprachen in seinem Nachlass bei seinem Tode etwa 100 Manuskriptseiten, 100 Bücher in seiner Bibliothek, mindestens ebenso viele Briefe und mindestens 200 Zettel im Postkartenformat in etwa 100 Zettelkästen." Anhand unzähliger Beispiele belegt Schoell-Glass überzeugend, daß Warburgs Kulturbegriff fundamental vom sich Ende des Jahrhunderts entwickelnden Antisemitismus geprägt ist, und: "daß auch schon die Entstehung seines Werks in einem bisher nicht erkannten Ausmaß unter der Bedingung der jüdischen Herkunft gesehen werden muss."

Im ersten Kapitel gibt Schoell-Glass einen Überblick über "Judentum und Antisemitismus in der Warburg-Forschung". Die Warburg-Literatur blüht üppig, diese spezielle Perspektive wurde bisher jedoch noch nie in ihrer stringenten Bedeutung erfaßt. Einzig Anne Marie Meyer hatte 1988 in ihrem Aufsatz "Aby Warburg in His Early Correspondence" (in: The American Scholar 57, Nr. 3, S. 445-452) erstmalig genauer Warburgs Verhältnis zu seiner jüdischen Familientradition analysiert.

Warburg wuchs in einer matriarchalisch dominierten, streng orthodoxen Familie auf. Während seiner Studienzeit wandte er sich von den jüdisch-rituellen Vorschriften ab und wünschte sich sehnlich eine unvoreingenommenen Akzeptanz des jüdischen Wissenschaftlers innerhalb der nicht nur nicht-jüdisch sondern häufig sogar antisemitisch geprägten Wissenschaftsgesellschaft. Der verzweifelte Drang Warburgs nach Anerkennung seiner wissenschaftlichen Qualitäten ohne Ansehen seiner Religion, entfremdete ihn seiner Familientradition. Er empfand sich immer mehr als Außenseiter, der sich aus dem jüdischen Kontext entfernte, ohne in andere gesellschaftliche Zusammenhänge aufgenommen zu werden. Diese Zwangslage, von Warburg als "Zwei-Fronten-Krieg" tituliert, wird in zwei an seine Mutter gerichteten Briefen aus den Jahren 1887 und 1889 deutlich. Der junge Student beschreibt seinen Wunsch der vollständigen Assimilation des Jüdischen mit dem Deutschen, ohne daß dem Judentum weiterhin eine Sonderrolle zugeschrieben werde. Schoell-Glass interpretiert Warburgs Selbstverständnis als das eines Außenseiters, der seiner negativen Erfahrungswelt "den Rückzug auf sich selbst und auf die wissenschaftliche Arbeit als einen sicheren Ort entgegen[setzt]."

Ein zentraler Begriff im Warburgschen Wissenschaftsgebäude ist die von ihm entwickelte "Pathosformel". Der ikonographische Aufbruch der Gefühle, der in bewegten Formen seinen Ausdruck fand, spiegelte eine Befreiung von statischen Gefühlsvorschriften. Die Loslösung von begrenzenden und schlichtenden Vorgaben war aber nicht nur positiv als Befreiung zu sehen, sondern trug als Kehrseite auch die Freisetzung aggressiver Rhetorik in sich. Ein Prozeß, den Warburg in seinen Notizen über historisch und mythisch sich überliefernde Ritualmord- und Judenverfolgungsgeschichten über Jahre hinweg dokumentierte. "Die Vorstellung vom Zivilisatorischen als einer dünnen Schicht, die nur den Blick verstellt auf das darunter verborgene Wilde, Animalische, den 'dunklen Kontinent', immer präsent, immer auf dem Sprung: Diese Phantasie von der Bestie im 'modernen Menschen' teilt Warburg mit Nietzsche, mit Freud, mit den Anthropologen und Ethnologen seiner Zeit...". Ebenso wie Freud sah Warburg die Aggression gegen das Wilde und Unbeherrschbare im modernen Antisemitismus konzentriert.

Nicht zuletzt schlug sich die Bedeutung des Antisemitismus für Warburg in seinem Bilderatlas Mnemosyne nieder. In diesem Bilderatlas stellte Warburg in verschiedenen Variationen Bilder unterschiedlichster Herkunft zusammen. In ihrer variierenden Konstellation sollten bestimmte ikonographische Parallelen und Typisierungen verdeutlicht werden. Schoell-Glass stellt zwei solcher Tafeln, auf denen Überlieferungen jüdischen Hostienfrevels und der daraus folgenden Judenpogrome bildlich dargestellt werden, detailliert vor. Leider sind die Abbildungen im Buch so winzig, daß von dem Beschriebenen nur wenig auf den Bildern wiederzuerkennen ist. Warburgs persönliche Betroffenheit entsteht immer wieder durch seine eigenen Erfahrungen antisemitischer Ressentiments. Und so ist Warburgs kulturwissenschaftliche Methode eng mit politischen Phänomenen verknüpft. Die Kulturwissenschaft generiert zur Geistespolitik, wie es der Untertitel des Buches verheißt. Den aktiv-politischen Bezug Warburgs erläutert Schoell-Glass anhand seines Eintretens für die Erteilung des Reserveoffizierspatents an jüdische "Einjährig-Freiwillige", wie es ihnen de jure zustand, de facto aber verweigert wurde. Warburgs Bruder Max hatte für dieses Problem eine Art Memorandum verfaßt und in politische Kanäle geleitet und Warburg, dem das Patent ebenfalls verweigert worden war, unterstützte dieses Engagement nachdrücklich.

Warburg beschäftigte sich nicht nur mit den Phänomenen des Antisemitismus. Auch sonst setzte er sich mit dem tagespolitischen Geschehen intensiv auseinander: "In der Zeit des Ersten Weltkriegs haben drei große Arbeitsfelder Warburg beschäftigt: Die Aufarbeitung und Archivierung alles kriegsrelevanten Gedruckten, die Astrologie in Bild und Wort und die Reformation. Man ist sich einig darüber, daß diese Forschungsbereiche einander durchdrangen, daß Erfahrungen in der Kriegsdokumentation Warburgs Aufmerksamkeit für den Mediencharakter reformatorischer Flugblätter geschärft haben." Er zog sich also nicht nur an seinen sicheren Ort der Wissenschaft zurück, sondern versuchte durch seine Arbeiten, durch die Einrichtung der, aufklärerisch zu wirken.

Warburgs Prägung durch seine jüdische Familie und die Reaktion der Gesellschaft auf jüdische Wissenschaftler bildet die Klammer um sein Werk. Obwohl Warburg den Antisemitismus nie ausdrücklich thematisierte, kann man bei genauem Hinsehen erkennen, wie bedeutend diese Problematik für einen assimilierten deutsch-jüdischen Wissenschaftler der Jahrhundertwende war. Schoell-Glass ist es zu verdanken, daß das Gewicht dieses Aspektes sichtbar wurde und sie konstatierte damit ein Paradoxon: der Wissenschaftler Warburg hat sein ganzes Leben dafür gekämpft, nicht als "jüdisch" abgestempelt und diskriminiert zu werden. Das Buch führt alles auf die jüdische Gebundenheit Warburgs zurück, die zum Teil seine Fessel, zum Teil aber auch sein unentwegter Antrieb war. Nur führt dies nicht zur Diskriminierung sondern zur Erhellung der Motivationsstruktur Warburgscher Forschung.

Titelbild

Charlotte Schoell-Glass: Aby Warburg und der Antisemitismus. Kulturwissenschaft als Geistespolitik.
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 1998.
317 Seiten,
ISBN-10: 3596140765

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