Der Penis, diese natürliche Bestimmung des Menschen

Bettina Mathes über Geschlechterverhältnisse in der Kultur der Frühen Neuzeit

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Wintersemester 1997/98 wurde an der Berliner Humboldt-Universität der Magisterteilstudiengang Geschlechterstudien und Gender Studies eingerichtet. Seit 2001 liegt mit Bettina Mathes' Untersuchung der Geschlechterverhältnisse in der Kultur der Frühen Neuzeit die erste bundesdeutsche Dissertation im Fach Gender Studies vor - eingereicht eben an der Humboldt-Universität. Die Arbeit, deren Titel "Verhandlungen mit Faust" nicht umsonst auf Stephen Greenblatts "Verhandlungen mit Shakespeare" anspielt, versteht sich als Versuch, den New Historicism in den wissenschaftlichen Diskurs der deutschen Frühneuzeitforschung zu tragen. Allerdings vermeidet Mathes konsequent den Terminus New Historicism und spricht lieber von Kulturpoetik, da dieser Begriff, anders als New Historicism, deutlich mache, dass Kulturen "eine Art Lektüreanweisung" enthalten und dass in Texten "kulturelle Ordnungsmuster" lesbar sind.

An den drei Motiven "Körper", "Visualität" und "Schuld" sollen die "Vorzüge einer um die Geschlechterforschung ergänzten Kulturpoetik" gegenüber herkömmlichen philologischen und sozialhistorischen Verfahren exemplarisch aufgezeigt werden. Als Referenztext zieht die Autorin die "Historia von D. Johann Fausten" heran, um den Text aus Sicht der Kulturpoetik und der Geschlechterforschung "aufzuschließen" und so Einblicke in Konstruktion und Kodierung der Geschlechterverhältnisse in der Frühen Neuzeit zu erlangen. Gerade die Analysekategorie Geschlecht ermögliche eine Analyseperspektive, die es erlaube, eine "Vielzahl von diskursiven und kulturellen Querverbindungen" nachzuweisen. Hierzu seien die "sinnkontrollierenden Instanzen" der "Historia" zu dekonstruieren und der Text als eine "zeitgenössisch-aktuelle Artikulation des Logos/Phallus" zu lesen. Entgegen der, wie die Autorin betont, nicht unberechtigten Skepsis, die etliche feministische Literaturwissenschaftlerinnen gegenüber der "Kompatibilität" von New Historicism (respektive der Kulturpoetik) und der Gender Studies an den Tag legen, will Mathes zeigen, inwiefern eine um die Geschlechterforschung erweiterte Kulturpoetik der Frühneuzeitforschung und insbesondere der Forschung zur "Historia von D. Johann Fausten" "neue Impulse" geben kann.

Bevor sich die Autorin den drei zentralen Motiven ihrer Untersuchung widmet entwickelt sie in einer ausführlichen Einleitung etliche kluge Gedanken zum Verhältnis von Kulturpoetik und Geschlechterforschung sowie beider zur Literaturwissenschaft und zur Männerforschung. So legt sie etwa dar, warum die "zentrale Bedeutung" der Repräsentation und der "Textualität von Kultur und Geschichte" die Kulturpoetik für die Geschlechterforschung "prädestiniert". Außerdem benennt die Autorin, deren Arbeit nicht zuletzt nach der Konstruktion und Codierung von Männlichkeit in der Frühen Neuzeit fragt, die "grundlegende Problematik" des überwiegenden Teils gegenwärtiger Männlichkeitsforschung. Sie bestehe wesentlich darin, "dass sie Männlichkeit als eine Angelegenheit von Männern denkt", und daher "schlicht Männerforschung" betreibt.

Das erste Kapitel des Hauptteiles befasst sich mit der Bedeutung, die sexuelle Potenz für die "Konstitution frühneuzeitlicher Männerkörper" zukam. Impotenz, so konstatiert Mathes, habe eine "besonders akute Bedrohung" für die Männlichkeit dargestellt. Der Faust der "Historia" müsse jedoch in dieser Hinsicht keine Sorge tragen, denn er sei als "ganzer Mann" ein "sexuell potenter Besitzer des Phallus", dessen "Abenteuer" eine "Würdigung des Penis als Phallus" in einer Kultur artikulieren, in der "die Verletzbarkeit und das Versagen des Penis" eine "öffentliche Angelegenheit" ist. So plausibel Mathes' Dekonstruktion frühneuzeitlicher Männlichkeit ausfällt, bleibt doch an der mit ihr verknüpften Kritik zeitgenössischer und moderner Theorien über frühneuzeitliche Geschlechterkonstruktionen die eine oder andere Unschärfen zu monieren. Zwar mag es sein, dass die frühneuzeitlichen Realitäten "komplizierter und widersprüchlicher" waren, als Laqueur, Greenblatt und Montaigne - aber auch die 'Historia' - sie darstellen. Doch vermischt die Autorin Laqueurs Darstellung des frühneuzeitlichen Diskurses über die Frau mit seiner - vermeintlich - eigenen Auffassung. Die Verschiebung vollzieht sich innerhalb zweier aufeinanderfolgender Sätze: Der zeitgenössische Diskurs habe Laqueur zufolge, so referiert sie ganz richtig, die Frau als Mängelwesen beschrieben, "das die natürliche Bestimmung eines Menschen nicht erreicht: einen Penis", um unmittelbar anschließend fortzufahren: "Für Laqueur ist der Penis, diese 'natürliche Bestimmung des Menschen', nicht nur ein Organ wie jedes andere". Dass dies kein beiläufiges Versehen ist, scheint eine spätere Stelle zu belegen, in der die Autorin unterstreicht, dass "die von Laqueur und Greenblatt gefeierte 'natürliche Bestimmung des Menschen'" sich als "äußerst unzuverlässig" erweise. (Hervorhebungen hier und im Folgenden von R.L.) Mathes' Kritik an Laqueur und Greenblatt trifft allerdings insofern zu, als das frühneuzeitliche Geschlechtermodell nicht nur die 'Weiterentwicklung einer Frau zum Mann' in betracht zog, sondern auch die 'Rückentwicklung' des Mannes zur Frau, nicht ausschloss, wie Mathes unter anderem an Texten von Ambroise Parés aufzeigt, der selbst zwar einerseits gerade diese 'Rückentwicklung' - mit einer 'theoretischen' Begründung für unmöglich erklärte, aber andererseits behauptet, dass "verschnittene" Männer "wie die Weiber" würden.

Im zweiten Kapitel diskutiert Mathes die "visuelle Potenz" des Blicks und der "darin eingeschriebenen Subjekt- und Objektpositionen", um zu zeigen, inwiefern das "Visualprimat frühneuzeitlicher Sinneswahrnehmung" an Konstruktionen des Mannes als "Schöpfer visueller Wirklichkeit" anschließt, wie sie in zeitgenössischen Zeugungs- und Kunsttheorien entwickelt wurden. Zudem kommt neben der Zentralperspektive, das Verhältnis zwischen Sehen und Berühren sowie die "Phänomene der 'Verblendung'" zur Sprache. Zwar bezieht die Autorin die Konstitution visueller Potenz überzeugend auf diejenige sexueller Potenz und zeigt, "dass der Phallus sich sowohl als Penis wie auch im Blick und in der Erzeugung sichtbarer Wirklichkeit materialisieren kann", doch äußert sie sich nicht zu ihrem weit überraschenderen Befund, dass es dem sexuell überpotenten Faust an visueller Potenz mangelt. Dabei könnte gerade eine eingehendere Analyse des Spannungsverhältnisses zwischen Fausts sexueller Potenz und seiner "visuellen Impotenz" interessante Ergebnisse zeitigen.

Gegenüber den beiden ersten, trotz der einen oder anderen Schwäche insgesamt beeindruckenden Teilen fällt der dritte mit Foucault argumentierende Abschnitt ab. In ihm wendet sich die Autorin der "Konstitution des schuldigen Subjekts" in den Disputationen zwischen Mephostophiles und Faust zu, die sie eng mit der "Konstitution des männlichen Subjekts" verknüpft findet. Zuvor beschreitet Mathes einen argumentativen "Umweg" über "Erzwingung eines schuldigen Subjekts nach den Regeln der Folter", denn nach ihnen seien die Disputationen in der "Historia" inszeniert. Folter, so argumentiert die Autorin wenig plausibel, sei eine "Form der Schulderzwingung", bei der die "Inquisitionstribunale" die Gefolterten zwangen, "sich selbst und andere schuldig zu machen", nicht etwa, sich - wahrheitswidrig - schuldig zu bekennen! Nun könnten man sagen, die Gefolterten machten sich schuldig, indem sie andere Unschuldige belasten und somit Folter und Henker aussetzen. Das ist aber nicht gemeint. Gemeint ist vielmehr, "dass das Geständnis Subjekte konstituiert, und zwar ungeachtet der Tatsache, ob es die von diesen zugegebene 'Übeltat' je gegeben hat". Denn aufgrund des Zwanges, mit dem es zustande komme, fungiere das Geständnis als "eine der effektivsten Techniken zur Subjektivierung" und zwar im doppelten Sinne: als "Prozess der Unterwerfung" und als "Konstruktion eines schuldigen Selbst". Nicht nur, dass Mathes den Unterschied zwischen der Konstruktion des Subjekts und dessen Konstitution verwischt und aus dem "konstituierten Subjekt" unter der Hand ein "schuldiges Selbst" wird, eines der von ihr zur Illustration herangezogene Beispiele lässt zudem einige Dilemmata zu Tage treten, in der sie mit ihrer These gerät: Ein Henker ermordet die Familie eines Kaufmannes und zwingt diesen anschließend unter der Folter die Tat zu gestehen. Einige der Fragen, die sich ergeben, wenn man Mathes' Theorie hierauf anwenden will, lauten nun: Wenn die Folter den Gefolterten, indem er 'gesteht', als Schuldigen konstruiert, ist dann der eigentliche Täter (der Henker) unschuldig? Sind beide (der Tat) schuldig oder nur derjenige, der sie nicht begangen aber gestanden hat? Und schließlich: wieso kann man, wenn der Gefolterte qua Geständnis schuldig ist, überhaupt (wie das Beispiel es tut) davon reden, dass der Henker der (wirkliche) Mörder ist? Solche und ähnliche Fragen werden von Mathes allerdings nicht aufgeworfen. Ihre Feststellung, dass Sprache das "Medium" sei, "in dem sich unsere Existenz realisiert,/artikuliert" trifft zwar zu, sticht hier als Argument jedoch nicht. Denn dass sich unsere Existenz im Medium der Sprache realisiert, bedeutet ja nicht, dass wir sind, was wir - wieder besseren Wissens und erzwungenermaßen - zu sein behaupten. Unter der Folter wird nicht ein schuldiger Mensch erzeugt, sondern nur ein sich schuldig bekennender Mensch. Ein gewisses Unbehagen scheint auch Mathes selbst beschlichen zu haben, denn am Ende ihrer Ausführungen - aber nur dieses eine Mal - setzt sie "Schuld" als einzigen in einer Reihe von durch Folter erzeugten Sachverhalten in kritisch-distanzierende Anführungszeichen: "Die Folter erzeugt Schmerz, Wissen, 'Schuld' und ausgestoßene Körper".

Auch Mathes' Interpretation von Fausts Umgang mit seiner Schuld vermag nicht zufrieden zu stellen. Zwar macht sie auf den bemerkenswerten Umstand aufmerksam, dass Faust in dem Monolog, mit dem er sich auf seinen Tod vorbereitet, ständig zwischen den Personalpronomen "Ich" und "Du" wechselt, wenn er von sich selbst spricht. Gerade dieser Umstand deutet aber darauf hin, dass sich in Fausts "Lamentieren" gerade kein "Behagen in der Schuld" artikuliert, sondern vielmehr ein Abwehren von Schuld. Denn Mathes übersieht, dass Faust in den von ihr herangezogenen Zitaten immer dann das distanzierende "Du" verwendet, wenn er von seinen früheren schuldhaften Taten spricht, hingegen "Ich" sagt, wenn er sein gegenwärtiges Leiden bejammert.

Titelbild

Bettina Mathes: Verhandlungen mit Faust. Geschlechterverhältnisse in der Kultur der Frühen Neuzeit.
Ulrike Helmer Verlag, Königstein 2001.
241 Seiten, 21,90 EUR.
ISBN-10: 3897410613

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch