Jenseits des Realitätsprinzips

Herbert Marcuse in seinen nachgelassenen Schriften über Philosophie und Psychoanalyse

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit einer ausführlichen einführenden Studie aus der Feder Alfred Schmidts versehen liegt nun der von Peter-Erwin Jansen herausgegebene dritte Band der nachgelassenen Schriften Herbert Marcuses vor, der zehn Texte zu "Philosophie und Psychoanalyse" aus den Jahren 1958 bis 1971 vereint. Bis auf eine Schrift handelt es sich ausschließlich um Texte, deren deutschsprachige Veröffentlichung bislang noch ausstand, unter ihnen einige Briefe an Erich Fromm und ein nachträglich mit dem Titel "Revolutionäre Ethik" versehenes Gespräch des - wie Schmidt sagt - "wohl kompetentesten Interpreten der Protestbewegung" über Psychoanalyse, Studentenbewegung und revolutionäre Gewalt aus dem Jahre 1971, das den Band beschließt.

Wie der Herausgeber im Vorwort unter Berufung auf eine Notiz Marcuses berichtet, war es dem kritischen Theoretiker, der den Begriff Psychoanalyse in seinen Aufzeichnungen nicht vor 1940 erwähnte und dem Philosophie neben Hegel immer auch Marx bedeutete, nicht darum zu tun, den Begründer des Wissenschaftlichen Sozialismus "durch Freud zu ersetzen", sondern ihn "mit Freud zu konkretisieren". Wie sehr das zutrifft, wird vielleicht an dem Manuskrip "Jenseits des Lustprinzips" am deutlichsten, einer Arbeit Marcuses vom Ende der 50er Jahre, deren Titel auf einen Text Freuds anspielt und die - wie Jansen vermutet - entweder als Kapitel von "Triebstruktur und Gesellschaft" vorgesehen war, oder als eigenständiger Vortrag. Die von der zivilisierten Gesellschaft vorgenomme "Triebmodifizierung", erklärt Marcuse dort, bedeute eine über die "phylogenetisch-notwendige" Unterdrückung hinausgehende "Surplus-Unterdrückung". Daher meine "Triebbefreiung" im wesentlichen deren Abbau, der, wie der dialektisch geschulte Denker sagt, jedoch seinerseits "auf die phylogenetischen Modifizierungen zurückwirken" werde. Eine menschliche Ordnung im emphatischen Sinn intendiere gegenüber der im Kapitalismus notwendig produzierten Surplus-Unterdrückung "eine Beziehung zwischen Trieb und Vernunft, in der Triebbefreiung nicht mehr der vernünftigen Ordnung der Gesellschaft" entgegenstehe. Die "Synthesis" beider sei einer noch zu erreichenden "geschichtlichen Stufe" zugeschrieben, auf der die von der Herrschaft repressiver Vernunft befreiten Triebe "unter ein neues Realitätsprinzip" kämen und zu dauerhaften zwischenmenschlichen Beziehung tendierten. Anders als die "Explosion unterdrückter Sexualität" reduziere die "frei entwickelte Libido" den "Triebwert" und das "Quantum" dieser Sexualität, da sie die Triebbefriedigung auf eine "Totalität vormals nicht-sexueller Beziehungen" ausdehne, die auch "Arbeitsbeziehungen" einschließe. Diese "Verwandlung der Sexualität" habe den Charakter einer durch den Trieb selbst vollzogenen "nicht repressiven Sublimierung".

Nachdem Alfred Schmidt in seiner - nahezu die Hälfte des Buches umfassenden - Studie zunächst Marcuses theoretischen Werdegang aus der Genealogie Marx, Plechanow, Horkheimer, Fromm und von einer zweiten Schiene her aus Heidegger (dessen Student Marcuse war) nachgezeichnet hat, wendet er sich - ungeachtet seines Lobes für Marcuses "exegetische Kraft", der es gelinge, "dem Reichtum der Freudschen Schriften gerecht zu werden" - nicht etwa dem Text "Jenseits des Realitätsprinzips" zu, sondern setzt sich mit der "Ideologie des Todes" auseinander, dem einzigen bereits in deutscher Sprache vorliegendem Text, dem - wie Jansen schreibt - "sichtbarsten Ergebnis" von Marcuses "langjähriger philosophischer Auseinandersetzung" mit dem Tod seiner ersten Ehefrau Sophie.

Der Mensch, schreibt Marcuse in der 1958 verfassten "Ideologie des Todes", sei nur dann frei, wenn er sein Sterben als "das selbstgewählte Ende seines Lebens" zu bestimmen vermöge. Diese Möglichkeit der Freiheit zum Tode verknüpft der kritische Theoretiker mit dem "guten Leben", das nur unter Bedingungen möglich sei, unter denen die Menschen ihre Fähigkeiten und Bedürfnisse entwickeln und befriedigen können; Bedingungen, die Marx - und daran dürfte Marcuse hier gedacht haben - erst im Sozialismus erfüllt sah. Auch die Vorstellung, dass das "Ergebnis" entweder in einem "Massensuizid" bestünde oder aber in der "Aufhebung von Gesetz und Ordnung" erinnert an den Theoretiker der proletarischen Revolution und seine Prognose, dass die Zukunft dem Menschen entweder den Sozialismus bringe oder aber die Barbarei. Von Suizid oder gar Massensuizid war bei Marx allerdings nicht die Rede. Dass erinnert - trotz aller bestehender Differenzen - schon eher an Philipp Mainländer, der den Sozialismus ebenfalls als notwendige Stufe zum - bei ihm allerdings teleologisch erstrebten - Massensuizid sah.

Titelbild

Herbert Marcuse: Nachgelassene Schriften: Band 3. Philosophie und Psychoanalyse.
Herausgegeben von Peter-Erwin Jansen.
zu Klampen Verlag, Lüneburg 2002.
233 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-10: 3924245851

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch