Ein Amerikaner in Berlin

Henry Ries' Fotoband "Ich war ein Berliner"

Von Timo KozlowskiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Timo Kozlowski

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Kinder tummeln sich auf einem Schuttberg. Berlin, ihre Stadt, liegt in Asche und der Hunger hat sich in ihre Gesichter und ihre Körperchen eingegraben. Da dröhnt aus der Ferne ein Flugzeugmotor - ein schwerer Bomber nähert sich, aber die Kinder verkriechen sich nicht im Schutt, sondern sie winken dem Flugzeug zu. Das amerikanische Flugzeug wirft seine Carepakete ab. Der Reporter der "New York Times" steht ein paar Meter hinter dem Geschehen. Er nimmt seine Kamera und drückt zweimal den Auslöser. Er heißt Henry Ries, und das Foto der Kinder auf den Trümmern und dem Rosinenbomber im rechten Bildeck wird zu einem Jahrhundertfoto werden. Ries hat sein privates Archiv gesichtet und seine besten Aufnahmen zusammen mit Anekdoten aus seinem Leben veröffentlicht.

Der Titel des Bildbandes weckt natürlich Erinnerungen an Kennedys Bonmot 1963 in West-Berlin. Aber Ries' Buch trägt seinen Titel auch deshalb, weil der Fotograf ein echter Berliner war. 1917 wurde er als Heinz Ries dort geboren. Seine Eltern waren beide Juden. 1938 emigrierte er nach New York, wo er nach der Demontage eines polnischen Schlagbaums durch die Wehrmacht als "illegal alien", als feindlicher Ausländer galt. Er schaffte es aber trotzdem, zur amerikanischen Luftwaffe zu kommen. In Indien und Japan flog er als Fotograf auf Aufklärungsflügen mit und wurde Ende des Zweiten Weltkriegs nach Europa versetzt. So kam er, schließlich konnte er Deutsch, zurück nach Berlin und musste unter anderem Hitlers Testament übersetzen.

Die "New York Times" wurde auf den jungen Militärfotografen aufmerksam und engagierte ihn 1946 als Fotograf für Westeuropa - der einzige Fotoreporter der Zeitung auf diesem Kontinent. Anfang der 50er Jahre kündigte er seine Stellung und kehrte nach New York zurück, wo er sich als Werbefotograf selbständig machte. Daneben entwickelte er eine Form von abstrakter Fotografie, die Helioptix. Linien und Farbfelder greifen ähnlich wie bei einem Spirogramm ineinander über und lassen phantastische Licht- und Schattenspiele entstehen.

Zum 25-jährigen Jubiläum der Luftbrücke kam Henry Ries wieder mit Berlin in Kontakt. Die Bildstelle der Stadt wollte eine Ausstellung über die Rosinenbomber vorbereiteten. In Berlin angekommen sah er zum erstenmal die Berliner Mauer, und seitdem dachte er immer wieder über seine ursprüngliche Identität als deutscher Jude nach, der in Berlin geboren war und in Amerika lebte. Berlin und seine Mauer tauchten seitdem immer wieder in seinen Fotos auf.

Henry Ries ist ein Fotoreporter im klassischen Sinne. Seine Bilder sind nicht gewollt inszeniert - wie beispielsweise die seines Kollegen Helmut Newton, ebenfalls in Berliner Jude, der ausgewandert ist -, sondern der Fotograf hält sich zurück und stellt das Motiv, so wie es ist, in den Vordergrund. Die Masse als solche interessiert ihn nicht. Ries zeigt die Menschen in ihr, zeigt die individuellen Züge und Charaktere. Er nähert sich den Personen, die er fotografiert auf Augenhöhe. Er entrückt sie nicht durch Spiele mit Kameraposition und Perskeptive der normalen Welt, wie der (ebenfalls brillante) Sowjet-Fotograf Alexander Rodtschenko. Wo dieser mit Bildern spielt, bleibt Ries beim Handwerk des Fotografen. Und gerade durch diese unaufgeregte Art sind ihm Bilder gelungen, die im Bereich des Fotojournalismus zum Besten zählen.

Titelbild

Henry Ries: Ich war ein Berliner. Erinnerungen eines New Yorker Fotojournalisten.
Parthas Verlag, Berlin 2001.
220 Seiten, 35,00 EUR.
ISBN-10: 3932529316

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