Meine Fantasie ist zu allem fähig

Ernst Augustin wird 75 Jahre alt

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

In seinem Leben hat er sich eingerichtet wie in seinen Büchern. In München bewohnt er ein schmales, hohes Haus mit Dachgarten und Turmgefühl, eine Höhle, ein Labyrinth, eine Loggia zugleich, mit Bildern und Trompe-l'œil an den Wänden, gemalt von seiner Frau Inge. In der Galerie Fajngold im zweiten Stock des Hauses steht ein weißer weiblicher Torso, eine Körperlandschaft aus Gips oder Pappmaché, die Augustin vielleicht seinen üppigen Frauenfiguren nachempfunden hat, die zum Eros seiner Bücher wesentlich beitragen: die "ungeheuer katholische" Uraria etwa, eine stämmige Stationsschwester, oder Silvetta, die sprechende Puppe ("ich zeige dir, was du willst"), die Holländerin Jette, der beim Schluckauf weiße "Lämmchen" aus der Bluse hüpfen, und natürlich Snakewoman, die Frau mit Programm.

Ernst Augustin ist in der deutschen Gegenwartsliteratur eine unbekannte Größe und noch zu entdecken: Jedes seiner Bücher bedeutet ungetrübte Leselust. Da ist die Geschichte eines Jungen ("Der amerikanische Traum", 1989), der 1944 über der mecklenburgischen Sandbüchse von einem Tiefflieger abgeschossen wird und der sich, während er still verblutet, ein Leben als Privatdetektiv in Amerika erfindet. Sein Fantasieheld heißt Hawk Steen, ganz so, wie vielleicht ein Yankee "Augustin" aussprechen würde. Es ist eine anrührende Geschichte geworden: Noch im letzten Atemzug schenken sich der sterbende Junge und sein Fantasieheld ein Leben, das sie ohne den je anderen nie gehabt hätten.

Augustins Biographie ist schnell erzählt: Geboren 1927 als Sohn eines Lehrers in Hirschberg im Riesengebirge, aufgewachsen in Schwerin, Studium der Medizin in Ost-Berlin, dann Flucht in den Westen und von 1958 bis 1961 Leiter eines Krankenhauses in Afghanistan. Diese Zeit, in der er auch Indien bereiste, hat ihn und seine Bücher geprägt. Mit seinem Roman "Mahmud der Schlächter" (1992) wollte Augustin eine durch und durch böse Figur schaffen, urwüchsig-primitiv, Angst und Schrecken verbreitend. Mahmud, der um 1030 starb, gilt als reichster König aller Zeiten. Als sein Gegenspieler fungiert der zartgliedrig-verfeinerte Affengott Hanuman, doch kehren sich im Laufe der Lektüre die Sympathien um: Mahmud erobert sich die Sympathie des Erzählers, Hanuman zeigt Gier und Verschlagenheit. Ein wunderbar farbiger Roman mit einem schönen Understatement: In Indien könne man gar nichts erfinden, es sei alles schon da.

Der Autor fühlt sich umgeben von Geistern, von denen "einige ganz nett" seien. Andere ärgern ihn, aber dann lassen sie ihm auch wieder etwas zukommen: "Und zwar ist das einfach meine Fantasie, meine Fantasie ist zu allem fähig." Worum es eigentlich geht in seinem Werk ist die Frage, wie sich Wirklichkeit konstituiert und wie sich der Spielraum des Normalen erweitern lässt. Bis zu seiner Pensionierung hat Augustin als psychiatrischer Gutachter in München gearbeitet. In seinem Roman "Raumlicht: Der Fall Evelyne B." (1976) zeigt er am Beispiel einer Geisteskrankheit, dass jede Kultur etwas anderes darunter versteht. Das Rezept des Romans heißt Heilung durch Integration. Am Ende heiratet der Arzt seine Patientin und gibt ihr damit eine Basis für ihr Leben.

Die meisten seiner Gestalten aber sind sehr eigenständig angelegt. Der "Onkel" beispielsweise, geniale Hauptfigur eines Künstlerromans von 1996, ist als Geldfälscher Kauz und Original zugleich; nur wird sein Vermögen (und sein Leben) durch die Einführung neuer Geldscheine vernichtet. Als Novelle angelegt ist "Gutes Geld" ein graziles, unangestrengtes Buch geworden, eine Bereicherung der Hochstapler-Literatur des 20. Jahrhunderts.

Augustin liebt Jean Pauls Schulmeisterlein Wutz, welches so arm ist, dass es sich innere Kontinente erschließen muss. Sein London-Roman "Eastend" (1982) schildert solch einen Kontinent voller Anmut, Witz und Fantasie, es könnte ihn geben, und es gibt ihn ja auch - als Buch. Sein Erstling "Der Kopf" (1962), von Hans Magnus Enzensberger im "Spiegel" gefeiert, ist ohnehin eine reine Kopfgeburt. Und weil es Augustins größte Lust ist, die Welt neu zu erfinden, lässt er sich mit jedem seiner Bücher sehr viel Zeit. Acht Romane hat er nur geschrieben, ein neunter wird im kommenden Jahr fertig. Seinen wichtigsten Literaturpreis, den Kleist-Preis, erhielt er 1989 aus der Hand von Adolf Muschg, und auch unter den jüngeren Autoren gibt es nicht wenige, die sein Werk lieben, darunter Martin Mosebach, Ralf Rothmann und Hansjörg Schertenleib.

Auch wenn er ganz anders schreibt: Sein großes Vorbild ist Thomas Mann, vor allem der Joseph-Roman, dieser große Erzählbogen, dem man umso gespannter folgt, je genauer man ihn kennt. So ist es auch mit Augustins Büchern: Je öfter man sie liest, desto mehr liebt man sie. Man kann das vergleichsweise schmale Werk oft und oft durchstreifen und es doch niemals ergründen: fast jeder Satz eine Offenbarung oder eine Eulenspiegelei. Seinen Nachlass würde er am liebsten Max Brod anvertrauen, mit der Auflage, ihn zu vernichten. Was dabei heraus käme, ist klar: ein neuer, wunderlicher Bruder Kafkas.