Literatur- und Kulturwissenschaften

Einführende Skizzen und Literaturhinweise

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Concepts of Culture" heißt die von Hans Adler und Jost Hermand herausgegebene Dokumentation einer Tagung, die 1997 in Madison/Wisconsin stattfand. Sie gibt einen guten Einblick in die prekäre Situation der (germanistischen) Literaturwissenschaft in den USA. Und sie zeigt, dass die dort geführten Methodendiskussionen viel offener als hierzulande in hochschulpolitische Probleme involviert sind. Aufschlußreich ist an dem Band nicht zuletzt eine Bemerkung von Peter Uwe Hohendahl: In den achtziger Jahren, schreibt er, sei die Beschäftigung mit den Cultural Studies noch ein Abenteuer gewesen; heute sei daraus ein "mainstream project" geworden.

Verglichen mit amerikanischen Verhältnissen scheinen die deutschen in manchen Belangen ein Jahrzehnt Verspätung zu haben. In Deutschland jedenfalls erleben die Begriffe "Kultur" und "Kulturwissenschaft" heute eine noch recht frisch wirkende Konjunktur. Wie "Kommunikation", "Diskurs" oder "Medium" haben sie den Vorzug so großer Unschärfe, dass sie beinahe universell einsetzbar sind. Zusammen mit den Begriffen haben die Bücher Konjunktur, die sie im Titel tragen. Die meisten von ihnen sind 'Reader' mit schon irgendwo gedruckten Aufsätzen. Oft handelt es sich auch um Zusammenstellungen von Vorträgen, die bei thematisch einschlägigen Symposien gehalten wurden. Das ist symptomatisch für die Eile, mit der man der Angst begegnet, die vielfach postulierte kulturwissenschaftliche Wende zu verpassen. Ambitionierte Einleitungen versuchen mehr oder weniger erfolgreich, der zum Teil willkürlich wirkende Disparatheit der Beiträge einen orientierenden Rahmen zu geben.

In der instruktiven Einleitung zu einem dieser Bände (bei Reclam), in dem Schriften unter anderem von Michel Foucault, Alain Corbin, Robert Darnton und Elisabeth Bronfen nachgedruckt sind, konstatieren die Herausgeber Christoph Conrad und Martina Kessel: "Über die Ubiquität von Kulturbegriffen läßt sich inzwischen wohlfeil spotten: Ohne die Beschwörung von 'Streitkultur' geht heute kein Kreisparteitag zu Ende; vom Mangel an 'Dienstleistungskultur' über die ausbaufähige 'Kultur des Miteinanders' bis zum Aufstieg der 'Unternehmenskultur' reicht das Spektrum. Aber auch die älteren Kampfsprachen der Ideologien, 'Rassen' und Nationen kommen nun im Schafspelz der Kultursemantik daher: Vom 'Kampf der Kulturen' spricht Samuel Huntington." In vielen Bereichen habe das Wort "Kultur" die in den sechziger und siebziger Jahren vorherrschende Betonung von "Gesellschaft" ersetzt.

Das trifft auch für die Literaturgeschichtsschreibung zu. Die Sozialgeschichtsschreibung ist einer Kulturgeschichtsschreibung gewichen. Deren jüngere Anfänge reichen aber in eben jene Zeit zurück. Politisch von marxistischer Gesellschaftstheorie und gleichzeitig von wissenschaftlichen Exaktheitsansprüchen der Semiotik und Linguistik unter Druck gesetzt, gerieten die literaturwissenschaftlichen Fächer Ende der sechziger Jahre in turbulente Bewegungen. Schier endlose Methodendiskussionen wurden geführt, und sie blieben keineswegs folgenlos. Eines ihrer Ergebnisse waren die "Sozialgeschichten der Literatur", die gleich mehrere Verlage (unter anderem Rowohlt, Hanser, Athenäum) seit 1980 dem Publikum präsentierten. Dass diese Literaturgeschichtsprojekte zum Teil zum Desaster werden würden, war damals noch nicht abzusehen. Nur eines wurde bislang abgeschlossen, vor fünfzehn Jahren: die dreibändige, von Viktor Zmegac herausgegebene "Geschichte der deutschen Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart". Sie ist neuerdings auch auf CD ROM zu haben und, obwohl nicht mehr aktualisiert, durchaus noch zu empfehlen. Die im Rowohlt Verlag, von Horst Albert Glaser herausgegeben, wurde irgendwann abgebrochen, die zwölfbändige des Hanser Verlages (zugleich bei dtv) wird mit großer Mühe, ohne den ehemaligen Gesamtherausgeber Rolf Grimminger, weitergeführt. Der Abschluss ist freilich erst nach der Jahrhundertwende in Sicht.

"Eine revolutionäre Literaturgeschichte" - so warb Hanser damals mit Blick auf die sozialgeschichtliche Ausrichtung seines groß angelegten Projekts. Die literaturwissenschaftliche "Revolution" lag 1980 freilich schon mehr als zehn Jahre zurück. Damals war im Umkreis der Studentenbewegung gefordert worden, Literatur nach ihrer "gesellschaftlichen Bedeutung" zu befragen, sie aus der dünnen Höhenluft reiner Geistes- und Formengeschichte herunter zu holen in die realitätsnäheren Zusammenhänge politischer und sozialer Verhältnisse. Diese Forderungen sind in die damals neuen Literaturgeschichten prägend eingegangen - und sie sind noch heute charakteristischer Bestandteil einer Literaturwissenschaft, die sich als Kulturwissenschaft oder als Bestandteil der "Cultural Studies" begreifen will.

Auffallend war damals an den Literaturgeschichten, wie weitgehend sich ihre erklärten Ziele glichen, obwohl man sich um gegenseitige Abgrenzung bemühte. Ihre Programme und zum Teil auch die Praxis folgten Tendenzen, die von den kulturwissenschaftlich orientierten Literaturwissenschaften später radikalisiert und differenziert wurden.

Zum einen wurde der Literaturbegriff entschieden weiter gefasst als zuvor. Von "Gebrauchsliteratur" war die Rede, wenn man sich jenseits der schönen Literatur bewegte. Und die sich etablierende "Trivialliteraturforschung" hinterließ deutliche Spuren in den neuen Literaturgeschichten. Solche Entgrenzungen des Gegenstandsbereiches setzten sich auch in anderen Disziplinen fort. Die Semiotik hatte sich durch die Schriften nicht zuletzt von Roland Barthes zu einer Kultursemiotik ausgeweitet. Gerhard Neumann hat unlängst in einem Beitrag zu dem für die jüngeren Theorie- und Methodendiskussionen wichtigen Band "Verhandlungen mit dem New Historicism" (von Jürg Glauser und Annegret Heitmann im Fink Verlag herausgegeben) die Leistungen Barthes' zu einer "Semiologie der Kultur" hervorgehoben. Er verweist darauf, dass sich schon dessen frühes strukturales Konzept in den Kontexen der französischen Mentalitätsgeschichte bewegt: "Nicht wenige von Barthes' frühen Publikationen erscheinen in der Zeitschrift Annales - Économies / Sociétés / Civilisations der von Marc Bloch und Lucien Febre 1929 gegründeten Schule der Annales; einer Historiker-Schule, die sich der Erforschung von sozial- und mentalitätsgeschichtlichen Zusammenhängen anhand minuziöser alltagsgeschichtlicher Recherchen widmet; einer Form der historischen Anthropologie, die ihre Wirkungen bis in die gegenwärtige Kulturwissenschaft einer Mary Douglas oder eines Cliffort Geertz - und seines Konzepts der 'dichten Beschreibung' der Kultur - zeitigt."

Die Kultursemiotik Barthes' befasste sich nicht nur mit den Sprachen der Fotografie, der Malerei oder des Films, der Musik, der Mythen und der Moden, sondern auch mit den Codierungen der Kleider, der Körper oder der Reklame. Die umfassende "intellektuelle Biographie" von Ottmar Ette (in der edition suhrkamp) über den alle kulturellen Grenzziehungen überschreitenden Kritiker, Literaturwissenschaftler, Zeichentheoretiker, Maler, Philosophen und Romancier zeigt allerdings, dass das "kulturtheoretische Projekt" von Barthes in abstraktere Dimensionen vorstieß. Es konzentrierte sich, wie Ette schreibt, "auf sekundäre (oder tertiäre) Sinnbildungsprozesse, auf die Funktionen, die Bedeutungssysteme wie Nahrung, Kleidung, Bildern, Literatur, Kino, Mode usw. von der Gesellschaft im Kontext der Massenkultur zugewiesen werden." Roland Barthes ist im Übrigen ein Beispiel für Allianzen zwischen Semiotik und Psychoanalyse, denen die Kulturwissenschaften produktive Impulse verdanken. Die Psychoanalyse, die selbst schon früh im Umkreis der Zeitschrift "Imago" kulturanalytische Wege einschlug, hat Roland Barthes' Kulturanalysen stark geprägt. Das stellt Bettina Lindorfers bislang gründlichste Arbeit (im Fink Verlag) zu dem Thema dar. Die Nähe wie die Distanz Roland Barthes' zur Psychoanalyse wird hier in vielen Details aufgezeigt, wobei Freud ebenso berücksichtigt ist wie die strukturale Psychoanalyse Lacans. Das erklärte Anliegen Lindorfers, Barthes zu "übersetzten", ist allerdings eher metaphorisch gemeint. Ein Großteil des Buches besteht aus unübersetzten Zitaten in französischer Sprache.

Der linguistic turn in der Philosophie des 20. Jahrhunderts hatte seine Entsprechung in der semiotischen und strukturalen Wende der Geistes- und Kulturwissenschaften. "Kultur als Text" lautet denn auch der programmatische Titel eines wichtigen Bandes (Fischer Taschenbuch) zum Thema. Mit dieser Formel beschreibt die Herausgeberin Doris Bachmann-Medick in ihrer grundlegenden Einführung "Konvergenzen zwischen Literatur(wissenschaft) und Anthropologie" seit den sechziger Jahren.

Zum einen öffnete sich die Kulturanthropologie, insofern sie sich interpretativer Methoden bediente und hermeneutischen Reflexionen anschloss, hin zur Literaturwissenschaft. Bachmann-Medick verweist hier vor allem auf die "Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme" des Anthropologen Clifford Geertz und expliziert dessen Kultur-Begriff so: "Kultur ist das von den Mitgliedern einer Gesellschaft 'selbstgesponnene Bedeutungsgewebe', durch das Handlungen permanent in interpretierende Zeichen und Symbole übersetzt werden." In dieser Sichtweise kann ein Hahnenkampf auf Bali gleichsam zu einem interpretierbaren Text werden. Und in der Tat hatte Geertz ihn in einem bekannten Essay zu einem Schlüssel für das Verständis der balinesischen Kultur gemacht.

Auf der anderen Seite bewegten sich die Literaturwissenschaften sowohl mit der Ausweitung ihres auch die Massenkultur einschließenden Literaturbegriffs als auch durch ihre Erweiterung der historischen durch eine interkulturelle Hermeneutik auf Fragestellungen und Gegenstandsbereiche der Kulturanthropologie bzw. Ethnologie zu. Literarische Texte selbst werden dabei als gleichsam ethnographische Selbstbeschreibungen einer Kultur begriffen und dadurch zur erstrangigen Quelle ethnologischer Forschungen. In ihrer von dem sowjetischen Literaturtheoretiker Michail M. Bachtin herausgearbeiteten "Vielstimmigkeit" können sie freilich den Kulturwissenschaftlern lehren, dass Kulturen nicht einheitlich strukturierte und in sich geschlossene, sondern heterogene, in sich widersprüchliche Gebilde mit sehr differenten Deutungsperspektiven sind.

Solche Einsichten in die Inhomogenität von Kulturen decken sich zum Teil mit denen des französischen Kultursoziologen Pierre Bourdieu. Kulturelle Differenzen beschreibt er allerdings nicht als Dialoge konträrer Stimmen und Perspektiven, sondern als handfeste Kämpfe um die Durchsetzung divergenter Interessen. Kämpfe finden demnach nicht nur zwischen, sondern vor allem auch innerhalb von Kulturen statt. Was Bourdieu ansatzweise schon in den siebziger Jahren in seiner "Soziologie der symbolischen Formen" und in den achtzigern umfassender in seiner Untersuchung über "Die feinen Unterschiede", mit denen sich soziale Schichten und Gruppen voneinander abgrenzen, herausgearbeitet hatte, das wiederholt im Wesentlichen seine unlängst erschienene Schrift "Über die Regeln der Kunst". Der theoretische Teil des Buches trägt den Titel "Grundlagen einer Wissenschaft von den Kulturprodukten".

Kulturanalyse betreibt Bourdieu als Analyse "sozialer Felder", die durch die Dynamik andauernder Kämpfe ganz heterogener Kräfte um Macht geprägt sind. "Die sozialen Felder sind Kampffelder, in denen um die Wahrung oder Veränderung der Kräfteverhältnisse gerungen wird." Den dort geltenden Mechanismen der Abgrenzung, Überbietung oder Überwindung folgen im Bereich der Kunst und Ästhetik gerade auch solche Konzepte, die sich als interesselos und zweckfrei ausgeben. Vor allem die alten, inzwischen zunehmend fragwürdig gewordenen Unterscheidungen zwischen E und U, zwischen künstlerischem Ernst und kommerzialisierter Unterhaltung sind in solche Kämpfe involviert.

Die Versuche zur Etablierung von Kulturwissenschaft selbst sind dafür kein schlechtes Beispiel. In einem Band mit neuen Beiträgen zum Thema (im Aisthesis Verlag), "Kulturwissenschaften. Positionen und Perspektiven", stellen die Herausgeber Johannes Anderegg und Edith Anna Kurz fest: "Kulturwissenschaften: Neueren Datums ist nicht der Name, wohl aber sein Gebrauch als Sammelbegriff für Disziplinen, die bisher als Geisteswissenschaften bezeichnet wurden." Der Begriff "Geist" ist diesen Disziplinen mittlerweile zu eng mit Formen der Elitekultur assoziiert, enger jedenfalls als "Kultur". Sogar im deutschsprachigen Bereich signalisiert der Name "Kulturwissenschaften" das "Bemühen um Offenheit" demgegenüber, was die ehemaligen Geisteswissenschaften als profan und minderwertig ausschlossen.

Heftiger als innerhalb der geisteswissensachlichen Disziplinen, so zeigt sich allerdings, sind die mit neuen Etiketten und zum Teil auch unter neuen Aspekten geführten Kämpfe zwischen Kultur- und Naturwissenschaften. In dem Band geht ein Beitrag des in Zürich lehrenden Philosophen Helmut Holzhey darauf ein. Die Diskrepanzen zwischen den "zwei Kulturen", der literarischen und der naturwissenschaftlichen Intelligenz, die der englische Schriftsteller C. P. Snow 1959 in seinem resonanzreichen Buch beschrieben hatte, entwickeln sich in der Auseinandersetzung um die Kulturwissenschaften zu regelrechten Kämpfen. "Eleganter Unsinn. Wie die Denker der Postmoderne die Wissenschaften mißbrauchen." Unter diesem Titel ist jetzt auch in deutscher Übersetzung (im C. H. Beck Verlag) der Angriff der Physiker Alan Sokal und Jean Bricmont auf Jaques Lacan, Julia Kristeva, Luce Irigaray, Paul Virilio und andere vornehmlich französische AutorInnen aus dem Umfeld der "Postmoderne" erschienen. Der Vorwurf inkompetenter, unseriöser oder sogar unsinniger Anleihen bei Mathematik und Naturwissenschaften mag berechtigt sein, doch ist das Buch unverkennbar vor allem gegen eine tief gehende Kränkung angeschrieben, die den Naturwissenschaften von den Kulturwissenschaften zugefügt wird. Denn zum besonders beliebten und ergiebigen Gegenstand der Kulturwissenschaften ist die Wissenschaftsgeschichte geworden, auch die Geschichte der Naturwissenschaften. Und es waren Wissenschaftshistoriker, die ein Bewusstsein für die historisch und kulturell begrenzte Geltung wissenschaftlicher Wahrheitsansprüche geschaffen haben. Dass auch naturwissenschaftliche Theorien nur kulturelle Konstrukte sein sollen, wird von Wissenschaftlern mitunter als Affront empfunden, gegen den sie sich, wie Sokal und Bricmont, heftig zur Wehr setzen. Ihren Erkenntnisansprüchen steht eine kulturwissenschaftliche Einstellung entgegen, die Holzhey, unter Berufung auf Gianni Vattimo, so umschreibt: "Wir bewegen uns auf der Suche nach Wahrheit in Interpretationen und müssen lernen, in den ausschließlich durch unsere Interpretationen geknüpften Bedeutungsnetzen zu leben."

In der Philosophie konstatieren und propagieren Dirk Hartmann und Peter Janich "Die Kulturalistische Wende" in einem von ihnen so betitelten Band mit einer Reihe von erhellenden Aufsätzen (suhrkamp taschenbuch). Zu dieser Wende gehöre die Einsicht, dass "Naturwissenschaften als gesellschaftliche Praxen Bestandteil unserer Kultur sind und in ihren Geltungsansprüchen kulturimmanenten Rationalitätsnormen unterworfen bleiben." Der Kulturalimus steht der von vielen Naturwissenschaftlern vertretenen "naturalistischen" These gegenüber, "daß alles Geschehen eigentlich Naturgeschehen ist in dem Sinn, daß es mit den Mitteln der Naturwissenschaften (wenigstens prinzipiell) vollständig beschrieben und erklärt werden kann - auch das Handeln des Menschen und seine Kultur." So erhebt die eine Seite gegenüber der anderen den Anspruch, sie zum Objekt wissenschaftlicher Untersuchungen zu machen. Die daraus resultierenden Konflikte eskalieren zu einem Kampf zwischen zwei heterogenen Wissenschaftskulturen.

Der jüngste Beitrag zu dessen Beschreibung, der auch auf Sokal und Bricmont eingeht, stammt von dem in Toronto lehrenden Philosophen und Wissenschaftshistoriker Ian Hacking und ist, in etwas gekürzter Form, bereits in deutscher Übersetzung nachzulesen. "Was heißt 'soziale Konstruktion'?" heißt das Taschenbuch (Fischer) mit dem vielsagenden Untertitel "Zur Konjunktur einer Kampfvokabel in den Wissenschaften". Das sprachkritische Buch, das ich jedem Kulturwissenschaftler empfehlen möchte, verdankt seine Entstehung erklärtermaßen den science wars und den cultural wars, wie sie vor allem in den USA geführt werden. Es enthält wunderbar einfache und doch sehr präzise Darlegungen der Voraussetzungen, Argumentationsweisen und Zielsetzungen jener wissenschaftlichen Diskurse, die mittlerweile alle möglichen Phänome als "soziale Konstrukte" bezeichnen: Geschlecht, Rasse oder Klasse ebenso wie Emotion, Körper, Krankheit, Alter oder Tod. Hacking verweist sowohl auf die befreienden Effekte als auch auf die Unschärfen solcher Redeweisen; und es gelingt ihm damit, die Missverständnisse, aber auch die entscheidenden Divergenzpunkte in den beschriebenen Kulturkämpfen klar herauszuarbeiten.

"Soziales Konstrukt" ist nach Hacking eine Art "Codewort" mit immer gleichen Bedeutungen und Effekten. Wer beispielsweise gesellschaftliche Klassen-, Rassen- oder Geschlechtsunterschiede als soziale bzw. kulturelle Konstrukte bezeichnet, signalisiert nach Hackings sprachanalytischer Aufschlüsselung folgende Botschaften: 1. Solche Unterschiede erscheinen vielen als selbstverständlich. 2. Sie müssen jedoch nicht unvermeidlich so sein, wie sie gegenwärtig sind. 3. An den bestehenden Unterschieden ist etwas Schlechtes. 4. Es wäre besser, wenn die bestehenden Unterschiede von Grund auf umgestaltet würden.

Die gleichen Signale werden gegeben, wenn man den Unterschied zwischen Elite- und Massenkultur als kulturelles Konstrukt bezeichnet. Die Kulturwissenschaften haben das getan. Auch die Theorien und Forschungen Bourdieus haben Anteil an dem wohl wichtigsten Impuls zur Öffnung literaturwissenschaftlicher Grenzen hin zu kulturwissenschaftlichen Gegenstandsbereichen. Der Impuls ist inzwischen selbst zum Gegenstand literatur- und kulturhistorischer Überlegungen geworden: die in Kunst, Literatur und Wissenschaft der sechziger Jahre forciert betriebenen Anstrengungen, die Gräben zwischen Elite- und Massenkultur zu schließen. Die angloamerikanischen cultural studies bezogen aus diesem Impuls ihr kritisches Selbstverständnis. Die Kluft zwischen Massen- und Elitekultur war in ihren marxistischen Ursprüngen vor allem auch eine Frage des Klassenkampfes. Der Mitherausgeber der "Grundlagentexte zur Einführung" in die Cultural Studies (zu Klampen Verlag) Roger Bromley hebt hervor, dass deren Ursprünge im England der fünfziger Jahre sich Impulsen der Erwachsenenbildung außerhalb akademischer Sphären der Bildungselite verdankten. Das einem demokratischen Bildungsideal entsprechende Ziel sei es gewesen, "diejenigen historischen Entwicklungen und Erzählungen aufzuwerten, die an den Universitäten keinen Platz hatten." Die Cultural Studies bezogen ihre Energien vor allem aus der Analyse kultureller Differenzen: nach denen, die auf Klassenunterschieden beruhen, gerieten die, die auf ethnischen, und solche, die auf geschlechtlichen Unterschieden beruhen, in den Blick. Class, race und gender wurden in dieser gesellschaftskritischen Tradition zu den grundlegenden Kategorien der Kulturanalysen. Sich mit Kulturen unterdrückter oder unterprivilegierter Schichten, Rassen und Geschlechter zu befassen gehörte zum emanzipatorischen Impetus dieser Studien. Die sich aus diesen Motiven heraus entwickelnden Gender Studies hatten an der jüngeren Entwicklung der Kulturwissenschaften maßgeblichen Anteil.

Im deutschsprachigen Raum hat der Kulturbegriff (in Opposition auch zu Zivilisation) eine tendenziell exklusivere Bedeutung. Das Terrain der Hoch- oder Elitekultur wurde mit ihm nicht unbedingt verlassen. Wo heute allerdings in Deutschland "Kulturwissenschaften" propagiert und praktiziert werden, stehen die populären, massenhaft verbreiteten Ausprägungen von Kultur im Zentrum der Aufmerksamkeit. Oft sind sogar nur sie berücksichtigt. Die alte Arbeitsteilung, die den Literatur- und Kunstwissenschaften die Elitekultur und den Kulturwissenschaften die Massenkultur als Gegenstände zuweist, besteht, wie die Praxis zeigt, durchaus noch. Die Sozialgeschichten der Literatur blieben, wenn auch nicht mehr ganz so ausschließlich wie früher, am etablierten Kanon hochgeschätzter und bekannter Texte orientiert. Der sich in den achtziger Jahren verbreitende Dekonstruktivismus, der sich unaufhörlich an der Dekonstruktion kanonischer Texte abarbeitet, hat zur kulturwissenschaftlichen Öffnung der Geisteswissenschaften am wenigsten beigetragen. Aber sogar der New Historicism, der sich doch bereits mit der Namensgebung auf den New Criticism und seine immanenten Interpretationen (close reading) hochrangiger Texte kontrastiv bezog, stellt kanonische Texte ins Zentrum der Analysen und umgibt sie zu ihrem komplexeren historischen Verständnis (gleichsam nach dem methodisch undisziplinierten Prinzip der freien Assoziation) mit einer (oft sehr beliebig ausgeweiteten) Fülle von kulturhistorischen Kontexten.

Der New Historicism ist Anfang der achtziger Jahre aus den Forschungen zu einem der hochkanonisierten Autoren der Weltliteratur erwachsen: aus der Shakespeare-Forschung des an der University of California lehrenden Stephen Greenblatt. In einem 1990 erschienenen Sammelband mit dem Titel "Culture and New Historicism" veröffentlichte er den kompakten Artikel "Kultur". Er ist in deutscher Übersetzung nachgedruckt in dem von Moritz Baßler 1995 herausgegebenen Reader (Fischer Taschenbuch) "New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur". Da Texte unter Berücksichtigung ihrer Kontexte besser verstanden werden können, steht "die Analyse der Kultur im Dienste der Literaturwissenschaft". Doch ist es, so schränkt Greenblatt sogleich ein, "in einem weitgefaßten liberalen Bildungskonzept vielmehr die Literaturwissenschaft, die im Dienste des Verstehens von Kultur steht." Denn Literatur hat(te) einen gewichtigen Anteil an der Vermittlung sozialer Werte und Normen, an den Verhandlungen über Restriktionen und Spielräume, die den Menschen durch die Kultur auferlegt und eröffnet werden. Greenblatt schreibt dabei nach wie vor den "großen Künstlern" und den "großen Kunstwerken" einen privilegierten Status zu. Sie seien besonders befähigt, den "Symbolhaushalt" einer Kultur zu manipulieren. "Sie nehmen symbolisches Material aus einer kulturellen Sphäre und bewegen es in eine andere, vergrößern dabei seine emotionale Wirkungskraft, wandeln seine Bedeutung ab, verbinden es mit weiterem Material aus einem anderen Bereich und verändern so seinen Ort in einem umfassenden gesellschaftlichen Entwurf." Der im selben Band abgedruckte Beitrag von Anton Kaes beschreibt den Status kanonischer Texte im Umkreis des New Historicism zutreffend, wenn er ihm einerseits zugesteht, im Rekurs auf "Filme, Photographien, Gemälde, Denkmäler, Rituale, Alltagsmythen, Gebräuche und symbolische Handlungen" die (Kon-)Textbasis literaturgeschichtlicher Forschungen erheblich zu erweitern, doch zugleich feststellt: "Der New Historicism wendet sich nicht grundsätzlich gegen kanonisierte Texte, re-kontextualisiert sie aber durch Vernetzung mit anderen gleichzeitig entstandenen Dokumenten, so daß sie wieder mit jenen Bedeutungen aufgeladen werden, die durch die unvermeidlich selektive Überlieferung verlorengegangen sind."

Auch im Namen des New Historcism bleibt Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft also weiterhin vorrangig mit kanonischen Texten befasst. Umgekehrt zeigt die von Ethnologen ausgeübte Praxis der Kulturgeschichtsschreibung, dass hier in der Regel die Elitekultur wenig Beachtung findet. Wohl aus der Absicht heraus, einen kulturwissenschaftlichen Beitrag zur Förderung eines europäischen Identitätsgefühls zu erbringen, haben die am Hamburger Museum für Völkerkunde arbeitenden Ethnologen Wulf Köpke und Bernhard Schmelz unter dem gemeinschaftsstiftenden Titel "Das gemeinsame Haus Europa" (Deutscher Taschenbuch Verlag), parallel zur Neugestaltung einer Dauerausstellung, ein über 1200 Seiten umfassendes "Handbuch zur europäischen Kulturgeschichte" herausgegeben. Da die Autorinnen und Autoren größtenteils selbst aus Europa kommen, kann man das Buch als eine ambitionierte ethnologische Selbstbeschreibung europäischer Kultur lesen. Ein Stück europäische Literaturgeschichte wäre im letzten Teil des Buches zu erwarten. Es trägt den Titel "Sprache, Ausdruck und Kommunikation". Unter der Zwischenüberschrift "Sprache und Schrift" informiert es zwar in jeweils eigenständigen Beiträgen über Märchen, über Mythen und über Witze, über Sprichwörter oder auch über eine Volksbuchfigur wie den "Eulenspiegel", nicht jedoch über Epochen, Autoren oder Werke, die zum Grundbestand jeder Literaturgeschichte gehören. Unter den Überschriften "Musik und Tanz" oder "Kunst" stößt man auf das gleiche Phänomen. Der Blick ist auch dort ganz auf Massenkultur gerichtet: auf "Volksmusik" und "Volkstanz", auf Kirchen- und auf Rockmusik, auf "Ländliche Kunst" und "Kunstgewerbe". Unter "Theater" findet sich zwar immerhin ein Beitrag über "Klassisches Theater" (das populär genug zu sein scheint, um zum ethnologischen Gegenstand zu avancieren), doch steht er gleichberechtigt neben Aufsätzen über "Religiöses Theater im Volksbrauch", "Zirkus" und "Stierkampf".

An dem Handbuch lässt sich exemplarisch zeigen, wie weit Ethnologie und Literaturwissenschaft trotz aller postulierten Konvergenzen in der Praxis oft noch voneinander entfernt sind. Näher zusammengerückt sind sie allerdings in Hermann Glasers erstaunlichem Buch "Deutsche Kultur 1945-2000", das 1997 bei Hanser und jetzt bei Ullstein in einer aktualisierten Taschenbuchausgabe erschienen ist. Sie ist geschrieben von einem, der an der beschriebenen Geschichte teilgenommen und sie gleichzeitig (und nachträglich) beobachtet hat. Die Gruppe 47 oder die Frankfurter Schule finden hier ebenso Beachtung wie die Eigenheime und die Autos, die Sexuelle Revolution oder New Age wird ebenso behandelt wie das Grundgesetz oder der Terrorismus, die Schulreform kaum weniger als die Postmoderne. Ein Abschnitt handelt von dem in den sechziger Jahren kreierten Slogan "Kultur für alle". Das damit gekennzeichnete Konzept einer neuen Kulturpolitik hat Hermann Glaser selbst mitgetragen. Sein Konzept der Kulturgeschichtsschreibung, das wirklich beinahe alle Bereiche der Kultur umfasst, hat dazu deutlich erkennbare Entsprechungen.

Kulturgeschichte versteht sich in jüngerer Zeit zumeist auch als Geschichte kollektiver Mentalitäten, Einstellungen oder psychischer Dispositionen. Hier gibt es vielfältige transdisziplinäre Interessen- und Kompetenzüberschneidungen. Einen großen Einfluss auf die jüngeren Literaturwissenschaften und ihre Entfaltung zu Kulturwissenschaften hatte die Zivilisationstheorie des Soziologen Norbert Elias. In dem von Renate Glaser und Matthias Luserke herausgegebenen Band "Literaturwissenschaft - Kulturwissenschaft" (Westdeutscher Verlag) geht vor allem der Beitrag von Reiner Wild darauf ein. Die Zivilisationstheorie von Elias hat inzwischen in dem Ethnologen Hans Peter Duerr einen ungemein hartnäckigen Gegner gefunden. Als Taschenbuchausgabe (Suhrkamp) ist seit kurzem der zwei Jahre alte Band 4 des Großprojektes mit dem Titel "Der Mythos vom Zivilisationsprozeß" zu haben. Duerr scheint es sich zur Lebensaufgabe gemacht zu haben, die Thesen von Elias, die zu einer Art kulturwissenschaftlichem "Mythos" geworden seien, zu bestreiten. Worum es geht, lässt sich mit einem Satz sagen. Mit ihm beginnt der Band: "Das ist der vierte und vorletzte Band eines Buches, in dem ich nachzuweisen versuche, daß die Vorstellung, die modernen Menschen hätten ihre 'animalische Natur' auf bessere Weise gezähmt als die vormodernen, auf einem falschen Bild sowohl der 'westlichen' als auch der traditionellen Gesellschaft beruht." Der These von Elias, dass die evolutionäre Entwicklung der Menschheit langfristig durch eine Zunahme zivilisatorischer Zwänge und durch eine zunehmende Verinnerlichung solcher Zwänge gekennzeichnet sei, hält Duerr eine Fülle von Beobachtungen zu Kulturen aus ganz verschiedenen Zeiten und Regionen entgegen. Der vierte Band trägt den Titel "Der erotische Leib", der Autor befasst sich auf den über sechshundert Seiten allerdings nur mit einem Detail davon: der weiblichen Brust. Geschichten der Lüste und der Schamgefühle, der Verhüllungen und Enthüllungen, der Kleidermoden und Körperhaltungen werden da erzählt. Keine Geschichte wohlgemerkt, sondern Geschichten oder Einzelbeobachtungen, die zeigen sollen, dass von einer zielgerichteten Höherentwicklung von vorzivilisierten zu zivilisierten Verhaltensformen und Mentalitäten nicht die Rede sein kann. Schon in "primitiven" Kulturen gab es vielmehr ausgeprägte Schamschwellen und Disziplinierungsformen, während in der westlichen Zivilisation die Anonymität zwischenmenschlicher Beziehungen das ungehemmte, "unzivilisierte" Ausleben von Affekten und körperlichen Bedürfnissen vielfach fördere. Duerr hat dem Band einen Anhang hinzugefügt, in dem er auf die zahlreichen und oft scharfen Kritiken an seiner Elias-Kritik ausführlich antwortet. Literaturwissenschaftler sollten den Streit nicht ignorieren. Die Schriften von Elias wie die von Duerr enthalten nämlich eine Fülle von Anregungen für kulturwissenschaftlich orientierte Forschungen.

Auch Greenblatt verwendete in dem zitierten Aufsatz den Begriff "Kultur" im Sinne einer Kultivierung roher Natur, als "Verinnerlichung und Ausübung eines Sittencodes", als "eine Reihe ethischer Restriktionen gegen die Bedrohungen durch Anarchie, Rebellion und Chaos". Die Geschichte solcher Kultivierungsprozesse, das zeigen sowohl Elias als auch Duerr, gehen einher mit der Veränderung von Gefühlen wie Scham, Angst, Ekel, Hass oder Lust. Zu einer Kulturgeschichte der Gefühle hat die Literaturwissenschaft bereits einiges beitragen können, und sie hat im Zuge ihrer kulturwissenschaftlichen Umorientierung auch sonst die für sie typischen Themen gewechselt. Zwar sind die "Sozialgeschichten der Literatur" und was ihnen an literaturgeschichtlichen Überblicken folgte mit frappierendem Beharrungsvermögen nach wie vor auf gattungspoetologische Fragen konzentriert und entsprechend strukturiert. Doch sieht man sich die Themen der laufend erscheinenden Monographien und Aufsätze an, so zeigen sich erhebliche Interessenverschiebungen. Dabei fällt auf, dass sich literaturwissenschaftliche Themenschwerpunkte denen der Ethnologie oder Kulturanthropologie (bzw. Historischen Anthropologie) stark angeglichen haben. Was das für Themen sind, zeigt beispielsweise das sehr empfehlenswerte, von Christoph Wulf unter dem Titel "Vom Menschen" herausgegebene "Handbuch Historische Anthropologie", an dem bezeichnenderweise viele Literaturwissenschaftler mitgeschrieben haben. Hier geht es um "Körper" und "Geschlecht", "Medien" und "Bildung", "Nahrung" und "Kleidung", Familie, Arbeit oder Schule, Spiel und Ritual, Phantasie und Wissen, Gesundheit, Krankheit und Tod, Glück, Liebe, Leid oder Angst. Das sind die Stoffe, mit denen sich literaturwissenschaftliche Arbeiten der achtziger und neunziger Jahre zunehmend befassen und dabei dem Fach innovative Impulse geben. Die Literatur selbst war damit schon immer befasst, sie war selbst eine Art Ethnographie. Auch das ethnologische und anthropologische Interesse an Riten und Ritualen traf sich mit literarischen Interessen. Ein klassisches Werk der französischen Ethnographie dazu hat der Campus Verlag jetzt als Studienausgabe neu zugänglich gemacht: Arnold van Genneps "Übergangsriten (Les rites de passage)". Der hier vermittelte Blick auf fremde Kulturen, auf die dortigen Riten im Umfeld von Geburt, Heirat oder Tod, beim Wechsel der Altersgruppe, der religiösen Konfession oder des Berufes schärft den Blick für analoge Vorgänge im Alltag der eigenen Kultur oder auch in literarisch dargestellten Welten erheblich.

Die Historikerin Ute Frevert, die 1984 eine umfassende Schrift über die "Krankheit als politisches Problem 1770-1880" veröffentlichte und später den Literaturwissenschaften mit weiteren wichtigen kulturwissenschaftlichen Arbeiten wertvolle Anregungen gab, konstatierte 1987, dass "sich deutsche Historiker mit der Geschichte von Gesundheit, Krankheit und Tod" erst in neuerer Zeit beschäftigt haben. "Die seit den sechziger Jahren auch in der Bundesrepublik florierende Sozialgeschichte hatte medizin- und gesundheitsgeschichtliche Themen lange Zeit völlig ausgespart. Verglichen mit der internationalen Forschung tastete sie sich hierzulande relativ spät an Gegenstände heran, die der alltäglichen Lebenswelt von Menschen angehören. Erfahrungsdimensionen wie Krankheit und Tod, von französischen Historikern seit Beginn der siebziger Jahre intensiv bearbeitet, rückten östlich des Rheins erst zehn Jahre später in den Blick." Über die sozialgeschichtlich orientierte Literaturgeschichtsschreibung der siebziger und achtziger Jahre lässt sich Ähnliches sagen. Vornehmlich auf gattungs-, politik- und ökonomiehistorische Gesichtspunkte fixiert, hat sie alltags-, mentalitäts- und auch wissenschaftsgeschichtliche Fragestellungen eher am Rande oder überhaupt nicht aufgegriffen. Das lag wohl unter anderem an Ressentiments gegenüber geisteswissenschaftlichen Traditionen, in denen die Motiv- und Problemgeschichte einmal von zentraler Bedeutung war. Diese lässt sich jedoch heute unter interdisziplinären Aspekten auf einem neuen Niveau mit Gewinn regenerieren.

Auf welches öffentliche und fächerüberreifende Interesse solche literaturwissenschaftlichen Themenverlagerungen stoßen können, zeigt beispielsweise Elisabeth Bronfens material- und ideenreiche Habilitationsschrift über Tod, Weiblichkeit und Ästhetik ("Nur über ihre Leiche"). Oder Peter von Matts jetzt wieder als Taschenbuch (dtv) lieferbarer Meisteressay "Verkommene Söhne, mißratene Töchter" zur Geschichte der, so der Untertitel, "Familiendesaster in der Literatur". Beide Bücher sind, wie die Schriften Roland Barthes oder vor allem auch die Zivilisationstheorie von Norbert Elias, nicht ohne die Psychoanalyse zu denken. Deren Beitrag zur gegenwärtigen Entwicklung der Kulturwissenschaft kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Fragt man nach den Ahnherrn der Kulturwissenschaften im deutschsprachigen Bereich, dann sieht man sich allerdings nicht nur auf Freud und seine Schüler verwiesen. Zur gleichen Zeit arbeiteten Max und Alfred Weber an wegweisenden Arbeiten zur Kulturgeschichte. In neueren Publikationen über Konzepte der Kulturwissenschaften finden sie erstaunlich wenig Beachtung (Das in literaturkritik.de 1999-05-43.html, bereits mit Recht hoch gelobte "Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie" beweist dagegen auch mit dem Weber-Artikel seine Qualität). In dem 1996 von Hartmut Böhme und Klaus R. Scherpe herausgegebenen Taschenbuch "Literatur und Kulturwissenschaft" (rowohlts enzyklopädie) handelt ein fundierter Beitrag Barbara Naumanns allerdings von Ernst Cassirer. Dessen "Philosophie der symbolischen Formen" entwirft in den zwanziger Jahren ein Denkmodell, das, so Naumann, "erkenntnistheoretische Fragestellungen" aus dem Umkreis des Neukantianismus "in einer kulturorientierten Symboltheorie aufgehen läßt". Weitere Gründerfiguren der Kulturwissenschaft nennt Linda Simonis in ihrer Dissertation "Genetisches Prinzip. Zur Struktur der Kulturgeschichte bei Jacob Burckhardt, Georg Lukács, Ernst Robert Curtius und Walter Benjamin" (Niemeyer Verlag). Die analytische Philosophie, der Simonis verpflichtet ist, hat der Literaturwissenschaft nahe gelegt, ihr textanalytisches Instrumentarium auf die eigenen Darstellungsformen anzuwenden, auf die Strukturen und Stilfiguren literaturgeschichtlichen Erzählens beispielsweise. Historische Forschungen werden dann wie Romane analysiert. Wie erhellend und produktiv das sein kann, zeigen Linda Simonis' gründliche, sorgfältige, manchmal etwas umständliche Analysen der ausgewählten kultur- und literaturgeschichtlichen Texte. Sie alle folgen, auch wenn sie es nicht immer wollen, einem zählebigen Muster, einem "genetischen Prinzip", das Geschichte als einheitlichen, universalen, sinnvollen und zielgerichteten Entwicklungsprozess konzipiert und diesem einen bestimmten Ursprung unterstellt. Das Prinzip ist kennzeichnend für das historistische Geschichtsdenken, lebt aber in unterschiedlichen Ausprägungen auch bei jener Geschichtsschreibung fort, die den Historismus hinter sich zu lassen versuchte. Der analytische Ansatz, wie ihn Simonis praktiziert, hat den Vorzug, die kulturwissenschafltiche Praxis gegen den Strich ihrer eigenen Absichtserklärungen zu lesen. Und wenn er an der kulturhistorischen Praxis die Widersprüche und Paradoxien herausarbeitet, gerät er in die Nähe dekonstruktivistischer Lektüren. So macht Simonis unter anderem an Walter Benjamins "Trauerspiel"-Buch deutlich, dass die rhetorischen Mittel der Kulturgeschichtsschreibung "zu einem Teil noch im Zeichen jenes Pathos der ganzheitlichen Bewegung und der kulturellen Erneuerung [stehen], wie es für die genetische Blickrichtung auf den Gang der Geschichte charakteristisch ist. Daneben macht sich jedoch - gleichsam auf der Kehrseite jener totalisierenden Geste - ein anderer Stileffekt bemerkbar, der die kontingenten, auf zufälligen Berührungen basierenden Aspekte dieser historischen Darstellungsweise in den Blick rücken läßt." Da bietet sich über das von Simonis Erarbeitete hinaus manches zur weiteren Untersuchung an. Elias' große Erzählung vom Zivilisationsprozess beispielsweise wäre nach den Kategorien von Simonis dem genetischen Prinzip verpflichtet. Und was viele Kritiker an Duerrs Elias-Kritik so stört, hängt wohl auch damit zusammen, dass dieser ein derart ordnendes Prinzip zumindest tendenziell hinter sich lässt.

Die von Simonis nur unter eingeschränkten Aspekten untersuchten Beziehungen der Kulturwissenschaften zum Historismus sind ein Kapitel für sich. In der Tendenz zur positivistischen Anhäufung historischen Materials hat der New Historicism trotz aller Unterschiede gewisse Affinitäten zum alten Historismus. Der historistische Relativismus, der jeder geschichtlichen Epoche ihren Eigenwert und ihr Eigenrecht einräumte, ist vom Kulturalismus beerbt worden, doch über diachrone Kulturunterschiede hinaus auf zeitgleiche und nur räumlich differente Kulturen ausgedehnt worden. Die Wahrnehmung kultureller Unterschiede, die zu den Errungenschaften historischen Denkens gehört, nimmt der eigenen gegenwärtigen Kultur ihre Selbstverständlichkeit, schafft ein Bewusstsein von der Kulturabhängigkeit und damit auch Veränderbarkeit des scheinbar Natürlichen, jener Gewohnheiten, die uns zur "zweiten Natur" geworden sind, doch nicht Natur sind, sondern permanent von uns selbst hervorgebracht werden. Roberto Simanowski, Mitherausgeber des aus einem Sonderforschungsbereich der DFG hervorgegangenen Bandes "Kulturelle Grenzziehungen im Spiegel der Literatur", bemerkt, dass die von den Kulturwissenschaften heute forcierte Hervorhebung kultureller Differenzen zu ganz unterschiedlichen Konsequenzen führen kann: zu Ethnozentrismus wie zu Toleranzgewinn, aber auch zu Gleichgültigkeit und zur Orientierungslosigkeit des Relativismus: "Die Wahrnehmung von Unterschieden kann dazu führen, die eigenen Verhaltensmuster und Überzeugungen in Frage zu stellen. Dies ist die relativistische Hypothek des Historismus". Schon Herder hat sie, wie Simanowski belegt, mit deutlichem Unbehagen reflektiert: "Ist nicht die Wahrheit, die Schönheit, die moralische Güte zu allen Zeiten einerlei? Ja, und doch sieht man's, daß Sätze, für die zu gewissen Zeiten ein Jeder seinen letzten Blutstropfen würde hingeopfert haben, zu anderen Zeiten von eben der Nation zum Feuer verdammet werden [...]. Beinahe sollte uns dieser Skepticismus irre machen, unseren eignen Geschmack und Empfindung nicht zu trauen."

Kennzeichnend für die historistische Geschichtsschreibung war allerdings auch, dass sie zu weiten Teilen die Geschichte jener "großen Männer" erzählte, die angeblich die große Geschichte machen. Von dem unakzeptablen Androzentrismus einmal abgesehen, haben sich die gegenwärtigen Kulturwissenschaften von dieser historistischen Hypothek gründlich befreit. Roland Barthes' und Michel Foucaults provozierende, missverständliche und oft missverstandene Rede vom "Tod des Autors" ist in diesem Zusammenhang besser zu begreifen. Wenn Ethnologen sich mit Witzen, Märchen oder Volksliedern befassen, haben sie es mit literarischen Gattungen zu tun, für die individuelle Autoren kaum eine Bedeutung haben. Man kennt sie zumeist gar nicht. Wer eine Kulturgeschichte des Schachspiels schreibt, wird nur begrenztes Interesse für die individuelle Persönlichkeit einzelner Schachspieler aufbringen. So ändert sich unter gleichsam ethnologischer Perspektive auch der Blick auf Werke aus der "Elitekultur". Schon die Sozialgeschichten der Literatur aus den siebziger Jahren zeigten in diesem Punkt eine deutlich veränderte Einstellung. So schrieb etwa der Herausgeber der bei Athenäum erschienenen und nun auf CD ROM vorliegenden Literaturgeschichte Victor Zmegacs : "Es kommt allein darauf an, den Autor über das Private hinaus als Produzenten im gesellschaftlichen Kontext zu begreifen und dabei im historischen Sinne repräsentative Züge seiner Persönlichkeit ins Gesamtbild seiner Epoche einzufügen [...], die Lebensumstände eines Autors nachzuzeichnen, wenn dabei exemplarische Merkmale einer Gruppe, eines Standes oder gar eines Zeitalters abgelesen werden können."

Mit der "Entindividualisierung" der Autoren und ihrer Dichtungen ging in den Sozialgeschichten die verstärkte Hinwendung nicht nur zu den Kontexten, sondern auch zu den Kommunikationsprozessen einher, in die literarische Texte eingebettet sind. Die Literaturwissenschaft wurde in solchen Untersuchungszusammenhängen zur Kommunikationswissenschaft. Sie stellt die Literatur in den Zusammenhang eines sozialen und ökonomischen Prozesses, an dem Autoren (-Gruppen), literaturvermittelnde Institutionen und Leser gleichermaßen beteiligt sind.

Versucht man, die sich seit Ende der sechziger Jahre vollziehende Entwicklung der Literaturwissenschaft auf eine Formel zu bringen, dann könnte sie lauten: Vom Text zum Literatursystem. Lange Zeit verstanden sich Literaturwissenschaftler bzw. Philologen, und viele verstehen sich noch heute so, als Textwissenschaftler. Textkritik und Textinterpretation standen und stehen zum Teil immer noch im Zentrum literaturwissenschaftlicher Bemühungen. Seit den späten sechziger Jahren haben sich allerdings innerhalb der Literaturwissenschaft erhebliche Interessenerweiterungen und -verschiebungen ergeben. Die Konstanzer Schule der Rezeptionsästhetik hatte das Interesse ganzer Scharen von Literaturwissenschaftlern auf die Leser literarischer Texte gelenkt. Der geschärfte Blick auf die Beziehungen zwischen Text und Leser erweiterte sich im Verlauf der siebziger und achtziger Jahre ständig. Da Texte nun einmal nicht nur gelesen, sondern geschrieben werden, bezog man über den Leser hinaus bald auch wieder den Autor mit ein, die Rezeptionsästhetik wurde also ergänzt durch eine Produktionsästhetik, und beides zusammen ließ sich auch unter den Begriff "Kommunikationsästhetik" subsumieren. Ein Autor kommuniziert über das Medium eines literarischen Textes mit einem Leser. Doch damit nicht genug. Da literarische Kommunikation heute selten mündlich stattfindet, sondern eines technischen Mediums bedarf, wurde die Notwendigkeit erkannt, das literaturwissenschaftliche Interesse auch auf dieses zu richten: auf die Medien Buch und Zeitschrift vor allem und damit auch auf die Institutionen, die diese Medien herstellen: auf die Verlage also; außerdem auf solche Institutionen, die diese Medien verbreiten: auf Buchhandlungen also oder Bibliotheken. Wer einen gut lesbaren Überblick über das von der sozialgeschichtlichen Forschung bis zu Beginn der neunziger Jahre angesammelte Wissen darüber bekommen möchte, den verweise ich auf Reinhard Wittmanns einschlägige "Geschichte des deutschen Buchhandels". Sie ist im Umkreis der an der Universität München schon seit geraumer Zeit intensiv betriebenen "Buchwissenschaft" entstanden, 1991 erschienen und jetzt endlich auch als Taschenbuch (in der Beck'schen Reihe) zu haben. Was hier mit souveräner Kompetenz über den Buchhandel vor Gutenberg, über die mit dem Buchdruck eingeleitete dritte Medienrevolution, über die Expansion und Ausdifferenzierung des Buchmarktes im 18. Jahrhundert, über die Geschichte des Lesens oder über den Strukturwandel des Buchhandels nach 1945 bis hin zur Gegenwart ausgeführt ist, sollte in das geschichtliche Grundwissen eines jeden Literatur- und Kulturwissenschaftlers eingehen.

Was eine Bibliothek an aufschlussreichen Spuren kulturgeschichtlicher Entwicklungen in sich gespeichert hat, kann exemplarisch die von Michael Knoche herausgegebene "Kulturgeschichte" der berühmten Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar zeigen. Das so informativ wie ansprechend illustrierte Buch stellt den Anspruch, "die Gesamtentwicklung der Bibliothek im Kontext der Weimarer Kulturgeschichte neu und für die jüngere Zeit erstmals zu erzählen". Etlichen Beiträgen gelingt es vorzüglich, die kulturgeschichtliche Symptomatik bestimmter Veränderungen herauszuarbeiten. Dass die Bibliothek zum Beispiel in den sechziger Jahren des 18. Jahrhunderts unter der Herzogin Anna Amalia in einem eigenen Gebäude untergebracht wird, kann durchaus, wie Ulrike Steierwald überzeugend darstellt, als raumsymbolische Vorwegnahme klassischer Autonomieansprüche der Literatur interpretiert werden. Die Bibliothek wird "jetzt zum Baustein eines neuen, aufgeklärten Staatsmodells: Literatur und Bildung bekommen ihren eigenen Ort, der nicht nur höfische Macht repräsentiert, sondern auch realer wie ideeller Treffpunkt der gelehrten Hofgesellschaft und des wachsenden bürgerlichen Beamtenapparates ist." Bärbel Raschke weist in einem kleinen Exkurs über die Privatbibliothek der Herzogin auf eine bemerkenswerte Besonderheit hin: "Der Katalog verzeichnet überraschend viel Literatur von Frauen, über Frauen und für Frauen." Über damals kursierende Theorien, dass die Lektüre für Frauen eine gefahrvolle Verwirrung und Ablenkung von weiblicher Bestimmung sei, hat sich Anna Amalia souverän hinweggesetzt. Ihre Sammlung enthält gerade auch jene Schriften, die damals als für Frauen besonders schädlich geschmäht wurden.

Das alte Medium Buch verliert mittlerweile gegenüber den neueren Medien an Bedeutung. Durch die Öffnung zu einer Kulturwissenschaft, die in ihrem angestammten Interesse an massenkulturellen Phänomenen selbstverständlich auch den Hörfunk, den Film oder das Fernsehen in ihre Forschungen mit einbezieht, hat auch die Literaturwissenschaft dieser Entwicklung zu entsprechen versucht. In einer Zeit des wahrhaft dynamischen Wandels der Medien wuchs ganz offensichtlich der Bedarf an historischem Wissen über deren Geschichte. Kulturwissenschaftler sehen hier eines ihrer wichtigsten Forschungsgebiete. Es wird als so zentral erachtet, dass mancher an die Stelle einer Kulturwissenschaft eine "Medienkulturwissenschaft" gerückt haben möchte. Dass dahinter nicht zuletzt ganz pragmatische Gedanken an die Berufsaussichten von Studierenden der Literaturwissenschaften stehen, zeigt der Beitrag von Jörg Schönert in dem genannten Band "Literaturwissenschaft - Kulturwisssenschaft" (Westdeutscher Verlag) mit wünschenswerter Deutlichkeit.

Medientheorien werden in kulturwissenschaftlicher Perspektive heute gerne auch als Gedächtnistheorien entwickelt. Kultur ist ohne kollektive Gedächtnisleistungen nicht denkbar. Das Staunen über die riesige Speicherkapazität der elektronischen Medien hat das Interesse an Speichermedien geschärft, die früher die Funktion eines kulturellen Gedächtnisses hatten. "Das Gedächtnis der Universalbibliothek: die neuen Medien und der Buchdruck" und "Texte, Spuren, Abfall: die wechselnden Medien des kulturellen Gedächtnisses" - das sind die Titel der instruktiven Aussätze von Jan-Dirk Müller und von Aleida Assmann in dem von Böhme und Scherpe herausgegebenen Band. Die neuen Entwicklungen der Medien wie der Medientheorien haben das Vokabular und die Perspektiven der historischen Medienforschung erheblich verändert. Der Untertitel von Michael Gieseckes in jeder Hinsicht großem Buch über den "Buchdruck in der frühen Neuzeit" ist dafür bezeichnend. Er lautet: "Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien". Die neuen Informationstechnologien haben Giesecke zusammen mit der Systemtheorie ein Erkenntnis- und Beschreibungsinstrumentarium an die Hand gegeben, das mit eigentümlich verfremdenden, doch stets erkenntnisfördernden Effekten von Stilfiguren des Anachronismus auf ferne Vergangenheiten angewendet wird. Forschungen zur frühen Neuzeit wie die von Giesecke haben in den letzten Jahrzehnten vielfach Vorbildcharakter für die Kulturgeschichtsschreibung gewonnen. Nicht nur die Shakespeare-Forschung Greenblatts, sondern eine Fülle einschlägiger kulturwissenschaftlich orientierter Monographien belegen das. Barbara Bauers zweibändiger Katalog zu einer Melanchthon-Ausstellung in Marburg (siehe die Anzeige in der Mitarbeiter-Rubrik dieser Ausgabe von literaturkritik.de) ist in seiner wissenschaftsgeschichtlichen Akzentsetzung eines der jüngsten Beispiele dafür. Gieseckes Nachwort zur Taschenbuchausgabe von 1998 resümmiert, was sein opus magnum sich vorgenommen hatte. Seine Forschungen "entwickeln Kategorien für eine informationstheoretische Betrachtung sozialer, technischer, mentaler, sprachlicher und anderer Vorgänge und erproben sie am historischen Material." Die Kombination von theoretischem Niveau und historiographischer Anschaulichkeit macht denn auch die Qualität dieses für die Medienkulturwissenschaften grundlegenden Buches aus.

Es gibt inzwischen kam noch eine Schrift über den Buchdruck, die nicht auf die Übereinstimmungen zwischen der Medienrevolution um 1500 und jener verweist, deren Zeitzeugen wir heute sind. Der Inhaber des Gutenberg-Lehrstuhls der Universität Mainz, Stephan Füssel, beschreibt in dem technisch noch ganz nach dem Gutenbergschen Verfahren hergestellten, sich jedoch inhaltlich den neusten Entwicklungen der Medientechnik und des Medienmarktes nicht verweigernden Buch "Gutenberg und seine Wirkung" die Digitalisierung der Druckprozesse als konsequente Fortentwicklung von Gutenbergs Technik: "Gutenberg teilte die Texte in die vom Alphabet vorgegebene kleinste Einheit, nämlich in die 26 Buchstaben, die sich dann wiederum beliebig zusammensetzen ließen. Konsequent weitergedacht, gehen digitale Satz- und Drucksysteme auf eine noch weitergehende Atomisierung zurück, indem sie mit ihren binären Codes die Zeichen der Information auf zwei elektronische Impulse reduzieren."

Die "Wechselwirkung zwischen Technikgeschichte und Geistesgeschichte" mache das "Faszinosum der Beschäftigung mit der frühen Druckgeschichte aus." Eben das gehört zum Faszinosum der Kulturgeschichtsschreibung, die Füssel hier betreibt, ohne sie so zu nennen. Wo sein Buch sich allerdings in der gelehrten Aneinanderreihung historischen Materials erschöpft, geht diese Faszination verloren.

Literatur- und Kulturgeschichtsschreibung verweist uns heute in ihrer Kritik tradierter Vorstellungen über eine lineare Abfolge literarischer Epochen und Bewegungen nachdrücklich auf die "Gleichzeitigkeit des Ungleichen", auf die Pluralität zeitlich koexistierender und zum Teil miteinander konkurrierender Stilrichtungen, literarischer Gruppierungen, Diskurse, Kulturen. Der Blick auf die eigene Wissenschaftsgeschichte vermag Ähnliches zu entdecken. Zwar gab es in den letzten zwanzig Jahren Wandlungen in Form von Aufmerksamkeits- und Interessenverschiebungen, doch von einer linearen Abfolge literaturwissenschaftlicher Positionen bzw. der Ablösung der einen durch eine neue kann nicht die Rede sein. Das von Thomas S. Kuhn konzipierte Entwicklungsschema von moderner Wissenschaftsgeschichte, die man sich als "Übergang von einem Paradigma zum anderen auf dem Wege der Revolution" vorzustellen habe, greift zumindest für die neuere Geschichte der Literaturwissenschaft zu kurz. Die Rede vom "Paradigmawechsel" in den Geistes- bzw. Kulturwissenschaften (der Begriff wird inzwischen gerne durch "turn" oder "Wende" ersetzt) ist oft nicht viel mehr als Reklame, mit der die eine oder andere Fraktion von Literaturwissenschaftlern ihre innovative Qualität und zukunftsträchtige Durchsetzungskraft anpreist. Statt von Paradigmawechsel sollte man heute, was die ehemaligen Geistes- und Sozialwissenschaften angeht, eher von der Entfaltung eines Paradigmenpluralismus sprechen, und man tut dies im Grunde auch, wenn man vom "Methodenpluralismus" spricht.

Doch auch die Rede vom "Methodenpluralismus" ist ungenau und problematisch. Die "Verwendung des Begriffs der 'Methode'", schreibt Michael Titzmann in seinem Buch "Strukturale Textanalyse" (die in Titzmanns Konzeption kulturelles Wissen stets berücksichtigt), "ist derzeit inakzeptabel heterogen; gerade in den 'Geisteswissenschaften' neigt man dazu, alles und jedes mit diesem Namen auszuzeichnen und von verschiedener 'Methode' zu sprechen, wo man allenfalls von verschiedenen 'Fragestellungen' sprechen könnte. Wenn etwa der eine Literaturwissenschaftler behauptet, man müsse den 'Stil' des Werkes untersuchen, der zweite eine soziologische Analyse des Werkes verlangt, der dritte auf der Erforschung geistesgeschichtlicher Zusammenhänge besteht, so handelt es sich offenbar um abweichende Hypothesen über die Relevanz verschiedener Fragestellungen: von verschiedenen Methoden zu sprechen, wäre hier deutlich Sprachmißbrauch. Denn Methode heißt doch wohl 'Verfahren': und über das Verfahren sagt die Bevorzugung bestimmter Fragestellungen noch gar nichts aus. Erst innerhalb derselben Fragestellung kann man sich sinnvoll über die Methode streiten, ein Problem zu lösen; verschiedenen Fragestellungen mag hingegen sehr wohl dieselbe Methode zugrunde liegen." Dem bleibt nichts hinzuzufügen.

Mann sollte "Methodenpluralismus" also in Anführungszeichen setzten. Was man mit dem Begriff in der gegenwärtigen Literaturwissenschaft meint, lässt sich unterschiedlich kommentieren. Man kann es rechtfertigen als eine Art Methodendemokratie, als eine Form von Wissenschaftlichkeit, die, im Sinne des Philosophen Odo Marquard, nicht einem Gott gehorcht, sondern vielen Göttern und deren unterschiedliche Erzählungen zur Literaturgeschichte sich gegenseitig zu relativieren vermögen. Man könnte das bunte Nebeneinander literaturwissenschaftlicher "Methoden" und Sprachspiele unter Berufung auf Paul Feyerabends prominente Schrift "Wider den Methodenzwang" auch als eine Art fröhliche Anarchie im Wissenschaftsbetrieb begrüßen, nach dem Motto "anything goes", und dies sogar wissenschaftstheoretisch rechtfertigen. Von hier aus ist es nicht mehr weit zu der Behauptung, dieser "Methodenpluralismus" sei ein "postmodernes" Phänomen, das die Autorität moderner Meisterdiskurse und den modernen Mythos des sinn- und einheitsstiftenden Vernunftssubjekts unterlaufe. Wie das meiste von dem, was unter dem diffusen Etikett "Postmoderne" angesprochen wurde, ist jedoch auch der Pluralismus ein Phänomen der Moderne selbst.

Sozialwissenschaftliche Systemtheorien haben gesellschaftliche Modernisierungsprozesse als Formen der Ausdifferenzierung sozialer Systeme beschrieben. Versteht man unter dem, was als "Methodenpluralismus" bezeichnet wird, nicht nur die mehr oder weniger friedliche Koexistenz verschiedener Verfahrensweisen, sondern auch Formen der wissenschaftlichen Spezialisierung und Arbeitsteilung, der Entfaltung unterschiedlicher Interessenschwerpunkte, Untersuchungsbereiche und Fragestellungen, so scheint es angemessen, im Hinblick auf die Geschichte der Literaturwissenschaft seit den späten sechziger Jahren in systemtheoretischer Perspektive von einem "Modernisierungsschub" zu sprechen.

Ausdifferenzierungen des Wissenschaftssystems müssen in systemtheoretischer Perspektive allerdings mit wachsenden Integrationsleistungen einhergehen. Zu den Krisensymptomen der gegenwärtigen Literaturwissenschaft gehört, dass es an solchen Integrationsleistungen mangelt. Die Konjunktur des Begriffs "Kulturwissenschaft" scheint eine Reaktion darauf zu sein. Der Begriff legitimiert einerseits die fortschreitende Pluralisierung von Fragestellungen und Interessen in den sozial- und geisteswissenschaftlichen Fächern, andererseits entspricht er dem Bedürfnis, die Pluralisierung und Spezialisierung der Interessen nicht nur unter einen einheitlichen Begriff zu subsumieren, sondern sie auch zu integrieren. Ähnlich haben es die Herausgeber des Bandes "Literatur und Kulturwissenschaften" (Rowohlt) gesehen, wenn sie in ihrer Einleitung bemerken, die "zunehmende Spezialisierung und Ausdifferenzierung der Philologien" führe tendenziell zum "Verlust der Fähigkeit, übergreifende Fragestellungen [zu] erkennen, zwischen den Einzelwissenschaften gemeinsame Problemfelder [zu] identifizieren sowie transdisziplinäre Verfahren und Verständigungsformen entwickeln zu können. Hierfür wie auch für die Moderation des abgerissenen, unterdessen aber immer dringlicheren Dialogs zwischen den Geistes- und Naturwissenschaften wird Kulturwissenschaft als Forum von Diskursen empfohlen, welche die übersehenen Problemgemeinsamkeiten zu entdecken und die Kommunikationsbrüche zu heilen aufgerufen sind."

Das ist sicher nur eine mögliche Erklärung und, was das Verhältnis zu den Naturwissenschaften angeht, wohl keine zutreffende. Es gibt etliche andere. Zu den kulturwissenschaftlichen Standardformeln der letzten Jahrzehnte gehört die Rede von den Begegnungen zwischen dem "Eigenen und dem Fremden". In modernen Gesellschaften mit ihren beschleunigten Entwicklungsprozessen und ihrer zunehmenden Mobilität in den globalen Bewegungen zwischen verschiedenen Kulturen scheint es einen gesteigerten Bedarf nach Fremderfahrungen zu geben. Denn durch sie werden die Verfestigungen kultureller Selbstverständlichkeiten, kollektiver und persönlicher Identitäten für permanente Umorientierungen, Perspektivenwechsel und Innovationen offen gehalten. Historisches Denken bzw. eine Form von Bildung, die permanent mit Erfahrungen kultureller Differenzen konfrontiert ist, vermag den Umgang mit den eigenen kulturellen Prägungen zu flexibilisieren. Wer die mentale Beweglichkeit, die durch die kulturwissenschaftliche Gymnastik des Geistes gefördert wird, nicht hat, wird es in den mobilisierten und globalisierten Gesellschaften der Moderne zunehmend schwer haben.

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Viktor Zmegac: Geschichte der deutschen Literatur. CD.
Beltz Verlagsgruppe, Weinheim
50,60 EUR.
ISBN-10: 3932544366

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Peter von Matt: Verkommene Söhne, mißratene Töchter.
dtv Verlag, München 1995.
391 Seiten, 15,30 EUR.
ISBN-10: 3423306475
ISBN-13: 9783423306478

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Doris Bachmann-Medick: Kultur als Text.
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt 1996.
302 Seiten, 12,70 EUR.
ISBN-10: 3596127815

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Hartmut Böhme / Klaus R. Scherpe: Literatur und Kulturwissenschaften.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1996.
347 Seiten, 12,70 EUR.
ISBN-10: 3499555751

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Renate Glaser / Matthias Luserke: Literaturwissenschaft - Kulturwissenschaft.
Westdeutscher Verlag, Opladen Wiesbaden 1996.
215 Seiten, 0,00 EUR.
ISBN-10: 353122171X

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Michael Giesecke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1998.
944 Seiten, 29,70 EUR.
ISBN-10: 3518289578

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Dirk Hartmann / Peter Janich: Die kulturalistische Wende.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1998.
420 Seiten, 14,20 EUR.
ISBN-10: 3518289918

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Linda Simonis: Genetisches Prinzip.
Verlag?, Tübingen 1998.
325 Seiten, 67,50 EUR.
ISBN-10: 3484630183

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Bettina Lindorfer: Roland Barthes - Zeichen und Psychoanalyse.
Wilhelm Fink Verlag, München 1998.
290 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-10: 3770532929

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Hans Adler / Jost Hermand: Concepts of Culture.
Peter Lang Verlag, Frankfurt a. M. 1999.
211 Seiten, 42,90 EUR.
ISBN-10: 0820441414

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Roger Bromley: Cultural Studies.
zu Klampen Verlag, Lüneburg 1999.
388 Seiten, 24,50 EUR.
ISBN-10: 3924245657
ISBN-13: 9783924245658

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Wulf Köpke / Bernhard Schmelz (Hg.): Das gemeinsame Haus Europa. Handbuch zur europäischen Kulturgeschichte.
dtv Verlag, München 1999.
1248 Seiten, 24,50 EUR.
ISBN-10: 3423307226

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Hans P. Duerr: Der erotische Leib.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1999.
670 Seiten, 15,20 EUR.
ISBN-10: 351839536X

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Hermann Glaser: Deutsche Kultur 1945 - 2000.
Propyläen Verlag (Ullstein), Berlin 1999.
896 Seiten, 17,80 EUR.
ISBN-10: 3548265626

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Stephan Füssel: Gutenberg und seine Wirkung.
Insel Verlag, Frankfurt 1999.
192 Seiten, 32,70 EUR.
ISBN-10: 3458169806

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Ingrid Arnhold: Herzogin Anna Amalia Bibliothek. Kulturgeschichte einer Sammlung. (Stiftung Weimarer Klassik).
Carl Hanser Verlag, München 1999.
261 Seiten, 19,40 EUR.
ISBN-10: 3446197249

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Horst Turk: Kulturelle Grenzziehungen im Spiegel der Literaturen. Nationalismus, Regionalismus, Fundamentalismus.
Wallstein Verlag, Göttingen 1999.
384 Seiten, 29,70 EUR.
ISBN-10: 3892443270

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Johannes Anderegg / Edith Kunz: Kulturwissenschaften. Positionen und Perspektiven.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 1999.
208 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3895282243

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Ottmar Ette: Roland Barthes.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1999.
320 Seiten, 11,70 EUR.
ISBN-10: 3518120778

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Jürg Glauser / Annegret Heitmann (Hg.): Verhandlungen mit dem New Historicism. Das Text-Kontext-Problem in der Literaturwissenschaft.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 1999.
305 Seiten, 29,70 EUR.
ISBN-10: 3826014367

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Ian Hacking: Was heißt "soziale Konstruktion"? Zur Konjunktur einer Kampfvokabel in den Wissenschaften.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 1999.
207 Seiten, 13,80 EUR.
ISBN-10: 3596144345

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