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Mit Siegfried Unselds Tod ging ein erfülltes Leben für die Literatur zu Ende

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Er war ein leidenschaftlicher Verleger, er war die unermüdliche Triebfeder des einflussreichsten Verlages im deutschsprachigen Raum nach 1945, er war der Erfinder der Suhrkamp-Kultur, er hatte eine Mission und er verstand es, Dinge dringlich zu machen. Seinen Autoren und seinen Mitarbeitern kam es zugute: Kein anderer Verlag wuchs derartig schnell und umfassend wie der Suhrkamp Verlag in den sechziger und siebziger Jahren, keinem anderen Haus gelang es auch nur annähernd so gut und nachhaltig, anspruchsvolle Programme und Autoren von Rang durchzusetzen.

Nachhaltigkeit, derzeit ein Modewort in Politik und Wirtschaft, war auch die Stärke seiner Programm- und Unternehmenspolitik: Der ganze Autor musste es sein. Unseld setzte nicht auf einzelne Bücher, sondern auf Œuvres. Sein Ideal war eine Gesellschaft der Autoren, vom Verleger gestiftet, mit dem einzigen Ziel, schreibend die Welt etwas besser zu machen. Unseld trat ein für die Freiheit des Wortes, und er verteidigte sie selbst dann, wenn seine Autoren auf verlorenem Posten standen. Der wichtigste Freund und Berater war über viele Jahrzehnte Unselds ehemaliger Kommilitone Martin Walser. Unseld hielt selbst dann noch zu ihm, als es ihm zunehmend schwerer fiel - ähnlich übrigens wie bei Peter Handke, dessen politische Überzeugungen ihm nicht immer Freude machten. Gerühmt wird sein Engagement für Uwe Johnson, Thomas Bernhard und Wolfgang Koeppen. Junge deutsche Autoren zu entdecken und aufzubauen gehört mit zu seinen größten Verdiensten. In den letzten Jahren und Jahrzehnten waren dies unter anderem Josef Winkler, Rainald Goetz und Durs Grünbein. Mit Ulla Berkèwicz schloss er einen Bund fürs Leben.

Er war ein ungeheuer vitaler, tatkräftiger, gewinnender Mann. Privates gab es nur eingebunden in die große Aufgabe. Mit seinen wichtigsten Autoren verband ihn das Persönliche ebenso wie das Verlegerische. Gemeinsam fuhr er mit Martin Walser Ski, spielte mit Uwe Johnson Schach oder ging mit E. Y. Meyer in der Aare schwimmen. Das Kriegserlebnis und nach dem Krieg die Begegnung mit Hermann Hesses Werk gelten als die beiden Schlüsselerlebnisse in seinem Leben. Hatte es bis 1945 geheißen: "Führer befiehl, wir folgen", so hieß es nun: "Folge niemand. Sei du selbst. Werde, der du bist." Eine freie, aufgeklärte Gesellschaft war zu bilden, das hatte schon der Verlagsgründer Peter Suhrkamp erkannt. Siegfried Unseld führte dessen Werk auf seine Weise fort. Bertolt Brecht, den wichtigsten Autor des Verlages neben Hesse, setzte er offensiv gegen den Widerstand der westdeutschen Bedenkenträger in Politik, Kultur und Medien durch, indem er eine gewagte, doch überaus erfolgreiche Doppelausgabe seiner "Gesammelten Werke" herausbrachte. Er war von Ernst Bloch fasziniert wie von keinem anderen Philosophen, und er holte ihn nicht nur in seinen Verlag, sondern er sorgte auch dafür, dass Blochs Lebenswerk in einer Gesamtausgabe sichtbar und rezipierbar wurde. Der Re-Integration der deutsch-jüdischen Intelligenz galt ohnehin sein Hauptaugenmerk: Theodor W. Adorno, Leo Löwenthal, Herbert Marcuse, Hans Mayer, Ludwig Wittgenstein prägten das Suhrkamp-Wissenschaftsprogramm. Und seit Mitte der sechziger Jahre setzte Unseld verstärkt auf Gesellschaftstheorie: Jürgen Habermas wurde sein wichtigster Berater, später kam Niklas Luhmann als Berater und Mitherausgeber der Reihe Theorie hinzu. Mit Autoren wie Claude Lévi-Strauss, Michel Foucault oder Jacques Derrida wurde das Wissenschaftsprogramm zielstrebig ausgebaut..

All das ist bekannt und oft dargestellt und gewürdigt worden. Viel geschrieben wurde auch über den Lektorenaufstand 1968, der zur schwersten Krise des Suhrkamp Verlages in seiner Geschichte führte. Ein Teil des Lektorates wollte damals ein Mitbestimmungsmodell einführen, andere - darunter Martin Walser - forderten Unseld auf, den Verlag zu sozialisieren. Doch der Verleger setzte sich durch, er wollte sich durch sein Lektorat nicht dominieren lassen.

Ende der siebziger Jahre entstand ein weiteres programmatisches Standbein des Verlages, die lateinamerikanische Literatur. Bestsellerautorin Isabel Allende trug dem Suhrkamp-Haus ungeahnte Gewinne ein. Unseld machte Suhrkamp auch zum wichtigsten Schweizer Verlag, was erneut zu einer Zerreißprobe führte. Die Verbindung zu Georg Reinhart, dem Schweizer Gesellschafter, war früh durch Hermann Hesse gestiftet worden und hatte dem Unternehmen in den ersten Jahren nach der Gründung 1950 das Überleben gesichert. 1973 beschlossen Unseld und Balthasar und Peter Reinhart, auch in Zürich eine Dependance zu gründen. Die Hauptmotive: das deutsche Depotgesetz, das jeden ausländischen Geldgeber zwang, den gegebenen Geldbetrag noch einmal zinslos in derselben Höhe bei der Bundesbank zu hinterlegen, sowie die starke Präsenz Schweizer Autoren im Programm, allen voran Max Frisch. Das Büro im Zürcher Zeltweg 25 bekam ein eigenes Lektorat und einen eigenen Vertrieb, sogar an ein ›suhrkamp taschenbuch schweiz‹ war gedacht. Als erstes Buch wurde im Februar 1974 Adolf Muschgs Roman "Albissers Grund" aus der Taufe gehoben. Für viele Autoren war diese Neugründung ein Signal: Gertrud Leutenegger beispielsweise, die es "nie gewagt hätte", ein Manuskript nach Frankfurt zu schicken, fasste sich ein Herz und schickte es nach Zürich. Ihr Erstling "Vorabend" erschien 1975.

Die Zürcher Verlagsgründung hatte jedoch keinen glücklichen Start: Sie führte zu einem tiefen Zerwürfnis zwischen dem Verleger und seinen Autoren, als sie erfuhren, dass er das Startprogramm durch sein Veto verhindern wolle. Zur Disposition standen Sachbücher "kontroversen Inhalts", darunter eine Dokumentation über die Schweizer Arbeiterbewegung. Adolf Muschg fürchtete ein amputiertes, aufs Unverbindliche reduziertes Programm und führte Unselds Veto auf einen Einspruch der Familie Reinhart zurück. Er und Max Frisch wollten den "Maulkorb" nicht dulden und solidarisierten sich mit der Zürcher Belegschaft. Sogar von Jürgen Habermas kam Kritik.

Unseld warb lange vergeblich für seine ablehnende Haltung: Als Gast in der Schweiz wollte er sich nicht gleich mit seinem ersten Programm in "innerschweizer Angelegenheiten" einmischen. Er tauschte die Zürcher Belegschaft aus, hoffend, dass er eines Tages an den realisierten Büchern und Programmen gemessen werden würde. Im September 1985 feierte der gesamte Verlag, einschließlich der Frankfurter Belegschaft, auf dem Zürichsee den letztlich doch noch geglückten Schritt.

Viele Jahre bemühte sich Unseld vergeblich um die Rechte an Robert Walsers Werk. Zum hundertsten Geburtstag erst gelang es ihm, sie zu erwerben und dem Autor die 100.000 Leser zuzuführen, die Hermann Hesse für Walser gefordert hatte. Mit größerem diplomatischen Geschick als zuvor konnte er die verschiedenen Parteien mit ihren konkurrierenden Konzepten zu einer gemeinsamen Anstrengung für Walsers Werk bewegen.

Unseld war kein Intellektueller und dennoch als Verleger genial. Er las nicht nur die Manuskripte seiner Autoren, sondern sorgte auch dafür, dass sie Suhrkamp-like verpackt wurden. Mit dem Graphiker Willy Fleckhaus revolutionierte er in den sechziger Jahren das Erscheinungsbild des Programms. Die "Bibliothek Suhrkamp" bekam ein modernes, gleichwohl klassisches Gewand, die "edition suhrkamp" erschien im Regenbogen, das "suhrkamp taschenbuch" und das "insel taschenbuch" entwickelten sich zu lebendigen Reihen.

In der täglichen Postkonferenz wurden die wichtigsten Entscheidungen besprochen. Oft saß Unseld sinnend in seinem Stuhl am Kopfende des Tisches, und mit einem Blick, einer Handbewegung, einem Kopfnicken erteilte er den Leitenden das Wort. Er hörte konzentriert zu, die Lesebrille im Schoß, mit beiden Daumen über die Gläser reibend. Oder er blickte aus dem Fenster, durch seine schiere Präsenz den Raum erfüllend, bis eine Idee ihn traf wie ein Blitz. Noch in den letzten Jahren, als seine Beine schon taub waren und die Stimme brüchig, spürte man seine Kraft, seinen Willen. Geboren 1924 in Ulm, begann sein eigentliches Leben mit Hesses "Siddhartha", seiner Offenbarung. Entschlossen Literatur zu studieren und Verleger zu werden, promovierte er über Hesse, korrespondierte mit ihm, wurde durch ihn mit Peter Suhrkamp bekannt und trat 1951 als "junger Hund" in den Verlag ein. Suhrkamp bestimmte ihn 1958 zu seinem Nachfolger. Am Anfang eines Lebens gäbe es noch Zufälle, sagte Unseld oft, dann nur noch Kettenreaktionen. Sein verlegerisches Ethos ist in zahlreichen Publikationen deutlich geworden, die wichtigste vielleicht sein Goethe-Buch von 1991: "Goethe und seine Verleger". Es ist, auch typisch für Siegfried Unseld, seiner langjährigen Mitarbeiterin Burgel Zeeh gewidmet und damit allen, die ihn auf seinem Weg unterstützt und begleitet haben.