Auf der Suche nach dem verlorenen Ich

"Erzählungen" aus vier Jahrzehnten von Wolfgang Hilbig

Von Christian SchneiderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christian Schneider

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wolfgang Hilbig ist ein Spurensucher. Seine Fundgrube ist die Innenwelt der Protagonisten seiner Erzählungen. Es sind die Spuren der Auseinandersetzung mit der Außenwelt, die das Leben so oft bestimmt, ganz gleich, wie sehr sich der Einzelne bemüht seinen eigenen Weg zu gehen. Draußen ist die DDR. Auch in den Erzählungen die nach seiner Emigration in die Bundesrepublik 1985 entstanden, ist der real existierende Sozialismus als Hintergrund für das Ausloten der eigenen Befindlichkeit stets präsent.

Der Blick in das in vier Jahrzehnten entstandene Werk seiner Erzählungen beleuchtet das schriftstellerische Selbstverständnis eines großen Dichters, der in diesem Jahr mit dem Büchner-Preis ausgezeichnet wurde. In Meuselwitz bei Leipzig aufgewachsen, arbeitete er zunächst als Stahlarbeiter, als Schlosser, als Heizer und begann als Arbeiter zu schreiben. Doch von Anfang an verweigern sich seine Erzählungen der realistischen Arbeiterprosa. Die real existierende Arbeitswelt dient lediglich als Folie für die radikale Subjektivierung des Blickwinkels. Das Ergebnis ist die oftmals verzweifelte Suche nach der eigenen Identität. Die Suche des arbeitenden Schriftstellers - nicht nur in der gleichnamigen Erzählung ist es ein "Heizer" - nach einer durch das Schreiben zu findenden Selbstbestimmung führt fast zwangsweise in die Entfremdung und den Bezugsverlust zu sich selbst, am radikalsten zelebriert in der Erzählung "Er, nicht Ich".

Die Themen wie auch die Figuren kreisen in Wolfgang Hilbigs Erzählungen immer wieder um sich selbst. Ob Heizer oder C., es sind alte Bekannte, die sich auf die Reise in die graue, kalte Welt voller Unwägbarkeiten wagen. Dabei kommt die Gefahr nicht nur von außen, sondern gerade die Unmöglichkeit, mit der eigenen Existenz zurecht zu kommen, lässt die Helden scheitern. Nicht von ungefähr kommt bei diesen Helden zwangsweise Kafka in den Sinn. Mit seiner klaren und präzisen Sprache führt Hilbig den Leser in eine unheimliche, entfremdete Welt, die immer wieder die Grenze zur Realität überschreitet. Wirklicher als die Welt eines realistischen Arbeiterschriftstellers ist sie aber allemal.

Titelbild

Wolfgang Hilbig: Erzählungen.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2002.
350 Seiten, 11,90 EUR.
ISBN-10: 3596158095

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