Politik und Polizei

Jacques Rancière denkt die Logik des Konflikts

Von Johan Frederik HartleRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johan Frederik Hartle

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Für die politische Philosophie kann das Jahr 2002 im deutschen Sprachraum als ein besonderes gelten. Mindestens drei entscheidende Texte, die in anderen Ländern bereits nachhaltig für Furore gesorgt hatten, haben nun auch hier ihren Weg in die Bücherregale gefunden. "Empire" von Michael Hardt und Antonio Negri (2000), "Homo Sacer" von Giorgio Agamben (1995) und nun auch "La Mésentente" von Jacques Rancière (deutsch: "Das Unvernehmen"), dessen französische Erstveröffentlichung bereits sieben Jahre zurückliegt. Die jeweiligen Verspätungen - vor allem von "Homo Sacer" und "La Mésentente" sprechen ein deutliches Urteil über die politische und philosophische Kultur hierzulande - eine Blamage, gelinde gesagt. Hinsichtlich des "Homo Sacer" wurde in der Kritik zu Recht darauf hingewiesen.

"Empire" und "Homo Sacer" haben hohe Wellen geschlagen, "Das Unvernehmen" von Jacques Rancière darf kaum damit rechnen, obwohl es dieser Text ebenso verdient hätte. Anstatt einer leidenschaftlichen Perspektive des Widerstands im globalen Kapitalismus ("Empire"), statt einer apokalyptischen Theorie der Moderne vor dem Hintergrund biopolitischer Szenarien ("Homo Sacer") bietet "La Mésentente" einen sachlichen philosophischen Essay, der die grundlegenden Strukturen des Politischen erörtert - in feiner Begriffsarbeit, mit philologischem Rückgriff auf die antike Philosophie. Soviel zu den Unterschieden - gemeinsam ist den drei philosophischen Projekten sowohl eine postmarxistische Perspektive - ein streitbarer theoriepolitischer Ort jenseits des Liberalismus - als auch der gezielte Rekurs auf Michel Foucault, den wohl bedeutendsten französischen Ahnherren der gegenwärtigen Philosophie.

Wie Hannah Arendt hatte Michel Foucault entschieden dagegen protestiert, der Politik einen Wahrheitscharakter zuzusprechen und damit ihre spezifische Logik zu verdecken. Mit Foucault stellt sich auch Rancière gegen die harmonistische Vorstellung vom Politischen als einem universellen Diskurs, der auf friedliche Konsense hinauslaufe. Verfrühte Konsense, die administrativ umgesetzt werden, seien keineswegs das Wesen der Politik, sondern gerade deren Gegenteil. Sie generiere sich als Konflikt und Widerspruch und werde von der Verwaltung von Konsensen eher eingefroren.

"Das Unvernehmen" eröffnet eine scharfe Gegenthese zur politischen Philosophie des Liberalismus, der seine Hoffnungen in institutionelle und formale Rationalitäten setzt. Jacques Rancière begreift die Logik des Politischen aus der Opposition zu den Dispositiven der Verwaltung, der polizeilichen Repression und der bloßen, institutionellen Reglementierung. Das Ensemble dieser Strategien - in wessen Dienst und unter welchen "universalistischen" Vorzeichen sie auch stehen mögen - nennt Rancière "Polizei". Die Verwaltung der "Ordnung des Diskurses" - das wäre ihre Logik. "Die Polizei" schreibt Rancière "ist eine Ordnung des Sichtbaren und des Sagbaren", innerhalb derer zugeteilt und angeordnet wird und innerhalb derer die legitimen Sprecherpositionen knapp bemessen sind. Politik finde dagegen genau dann statt, "wenn die natürliche Ordnung der Herrschaft" unterbrochen werde. Auf diese Weise bilden die Begriffe von Politik und Polizei das Spannungsfeld seiner Schrift.

Politik wird vor diesem Hintergrund als der Widerstand jener sozialen Akteure begriffen, für die in der "symbolische[n] Ordnung der Gemeinschaft der sprechenden Wesen" keine Stimme vorgesehen ist. Dies ist der "Anteil der Anteillosen", wie Rancière die "ungezählten Namenlosen" auch nennt. Ihre Stimme, die sich nicht in die hegemonialen Formen des Diskurses fügt, erscheine als bloßer "Lärm". Politik finde dagegen genau dann statt, wenn sich der Lärm derer, die keine Stimme haben, Gehör verschafft, wenn er sich auf die Logik des Allgemeinen, die symbolische Ordnung der politischen Rede bezieht. Sofern sich Namenlose ohne Stimme in den universalen Diskurs einschließen, aus dem sie zuvor ausgeschlossen waren, dann - und nur dann - gebe es Politik in einem "wahrhaftigen" Sinn. Es ist eine Politik der Gleichheit - Gleichheit als Widerstand gegen konkrete Ungleichheit - und als solche ist sie die "Begegnung zwischen der polizeilichen Logik und der Logik der Gleichheit."

Der Anteil der Anteillosen bestehe unweigerlich; er sei das immanente Andere des Volkes. Denn Rancière denkt die menschliche Gemeinschaft radikal in ihrer Kontingenz, sie sei konstitutiv durch das Fehlen einer arche, eines Ursprungs und einer Wahrheit bestimmt. Es gibt keine "wahre Gemeinschaft", die die Dynamik der Politik einzufrieren in der Lage wäre. "Das Volk", schreibt Rancière "ist immer zugleich mehr oder weniger als es selbst" - es ist sowohl die Anmaßung einer legitimen Repräsentation und die exklusive Stimme derer, die es definieren, als auch der Anspruch auf Universalität, den es in concreto verrät. Gerade deswegen bestehe die "Politik der Gleichheit" nur als Konflikt und als Zerstreuung des politischen Raumes. Die historischen Beispiele zeigen eine solche Zerstreuung des politischen Raumes durch eine Vielzahl von Orten an: mit der Arbeiterbewegung wird die Fabrik, mit der Frauenbewegung werden Küche und Kinderzimmer, mit der Studentenbewegung die Universität und mit ihnen allen die Straße zu politischen Orten.

Das Modell der politischen Sprechergemeinschaft, die durch den Aufstand ihrer eigenen Exklusionen dezentriert wird, hat einen sprachphilosophischen Rahmen. In gewisser Weise verbindet die Idee einer humanen Gemeinschaft von sprechenden Wesen Rancière sogar mit der Tradition der analytischen Philosophie und dadurch mit der politischen Philosophie des Liberalismus - etwa von Rorty, Rawls oder Habermas. Weil die Vermittlung der sprechenden Wesen im Sinne Rancières jedoch bereits im "Konflikt über das Dasein einer gemeinsamen Bühne" beginne, die keineswegs transzendentalpragmatisch oder kulturalistisch als gesichert erscheint, steht eben der Konflikt an der Stelle des Konsenses. Bereits hier hat das "Unvernehmen" seinen Ort. Denn das "Unvernehmen" ist ein "Aneinandervorbeireden". Radikal geschiedene Lebenssituationen - so denkt Rancière den von Wittgenstein eröffneten Zusammenhang von Sprachspiel und Lebensform - führen zu radikal verschiedenen Begriffsverwendungen. Somit enthalten die universellen Begriffe, somit spiegelt die "symbolische Ordnung der sprechenden Wesen" immer nur die halbe Wahrheit: es sind kontingente, hegemoniale Ordnungen.

Der Kampf der Ausgeschlossenen mit der "symbolischen Ordnung der Gemeinschaft der sprechenden Wesen" sei die Politik selbst. Anschlüsse an die politische Philosophie des Marxismus sind dabei deutlich erkennbar. Im Geiste des Marxismus begreift Rancière das Politische aus den Kämpfen sozialer Gruppen um ihren Anteil sowohl an den materiellen als auch symbolischen Ressourcen und bemüht dabei mitunter die Rhetorik des Klassenkampfes. Zugleich bleibt der Konflikt der symbolischen Ordnung der sprechenden Wesen mit den "ungezählten Namenslosen" auf keine Wahrheit jenseits der Politik bezogen. In einem doppelten Sinn sucht Rancière die "wahrhafte" Politik bei ihr selbst. Ihm zufolge ist die Politik einerseits nicht bloß Appendix einer eigentlichen "Gesellschaftsstruktur". Politik sei eben nicht bloßer Ausdruck der gesellschaftlichen Verhältnisse, die sich in den "Schauspielen" der Politik verstecken würden. Andererseits verheißt Rancière auch keine Abschaffung der Politik in einem "wahren sozialistischen Himmelreich" - eine Anmaßung, die die Geschichte zu fürchten gelehrt hat. Das "Unvernehmen" verzichtet auf die utopistische Perspektive einer Abschaffung des Klassenkampfes in einem zukünftigen ganz Anderen. Universalität, Gleichheit, Demokratie und Politik hätten ihr Leben nirgends sonst als in ebendiesem Konflikt. Damit pointiert "Das Unvernehmen" den Geist der postmarxistischen politischen Philosophie in größtmöglicher Klarheit: der Marxismus besteht als Gespenst und Unruheherd fort, ein Gespenst, das nicht einfangen lässt, sich aber auch gar nicht einfangen lassen will.

Die Veröffentlichung von "Das Unvernehmen" öffnet in grundsätzlicher Weise die Pforten zur französischen Philosophie. Jacques Rancière steht inmitten von Auseinandersetzungen, die in der deutschen Diskussion kaum weiter zur Kenntnis genommen wurden. In der französischen Philosophie sind seine Gedanken in ein Netz von Traditionen und Diskussionen eingespannt, von denen gehofft werden kann, dass sie langsam auch hierzulande bemerkt werden. Insbesondere der politischen Philosophie von Alain Badiou und dessen Idee von den "politischen Wahrheitsereignissen", Pierre Bourdieus Kritik des abstrakten Universalismus, aber auch den Überlegungen Claude Leforts zur Kontingenz und "Unbestimmtheit" des Politischen, das ohne feste Grenzen besteht und sich fortwährend selbst aktualisieren muss, ist Rancières politische Philosophie verbunden.

Wo symbolische - polizeiliche - Ordnungen gefrieren, so lässt sich resümieren, da ist Politik nicht fern. Ausgerechnet von den Repräsentanten der Ordnung sollte das Ausbleiben der Politik allerdings nicht beklagt werden. Wer bisher über die Larmoyanz der politischen Klasse angesichts einer sogenannten "Politikverdrossenheit" müde gelächelt hat, darf nach Lektüre dieses Buches etwas lauter lachen. Mit Jacques Rancière kann darauf beharrt werden, dass Politik in Zeiten, in denen sie nicht stattfindet, die Vielzahl ihrer Orte zurückerobern möge, damit der Lärm der Straße von neuem zur Sprache werde. Jacques Rancière eröffnet einen Begriff des Politischen, der subversiv, sperrig und alles in allem durchaus optimistisch ist. Ça ira!

Titelbild

Jacques Rancière: Das Unvernehmen. Politik und Philosophie.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2002.
160 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-10: 3518291882

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