Liebes Tagebuch

Julian Schuttings Aufzeichnungen "Gezählte Tage"

Von Walter WagnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Wagner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Fast dreieinhalb Jahre, von April 1997 bis September 2000, führt Schutting Tagebuch. Stenogrammartig notiert er, zeichnet auf, entreißt dem Alltag Kuriositäten, die er als Dichter schreibend in reine Poesie verwandelt. Oft präsentiert er sich Zeitung lesend oder fernsehend, wobei er, wenn er nicht gerade bei Prinzessin Dianas Begräbnis oder dem Lassinger Grubenunglück verweilt, neugierig Ausschau nach Stilblüten hält, die er gnadenlos dekuvriert und bisweilen um einen Kalauer bereichert: "bereits im Flugzeug Erhellendes, in der Kronen-Zeitung: Schwarzafrikaner fänden in Österreich keine Schwarzarbeit, weil sofort an der Hautfarbe erkannt."

An seinen ungewöhnlichen Stil hat sich die Leserschaft freilich zu gewöhnen. Liebevoll bedient sich Schutting Alliterationen wie dieser: "Döbling schon schön grün." Übermütig gießt er das Füllhorn seiner Sprachlust über dem Leser aus, der mit des Meisters Akrobatik allerdings vertraut sein muss, um sie nicht als irritierend zu empfinden. Über die Blätterpracht einer Forellenbegonie staunend, befindet er etwa: "wohl mir zum Lohn, daß ich ihre Transferierung aus dem Stiegenhaus in den Keller hintertrieben habe." Oder, anlässlich eines Spaziergangs durch einen Wald, bemerkt er nachdenklich: "das Gekrächze der Häher ob solcher Störung möchte dich ausschauen machen nach Menschen, die da oben in den Fichten Rabenvögel imitieren". Das riecht nach selbstgefälliger Umstandsmeierei, die Schuttings zurückhaltende Prosa manieristisch durchwirkt.

Befremdlich auch sein Hang, das Subjekt des Ich-Erzählers hinter einem sperrigen Infinitiv zu verbergen: "auf der Heimfahrt, bei heftigem Schneien ab Augsburg, in den Feldern Schneetreiben entstehen zu sehen." Nicht minder eigenwillig eine in "Gezählten Tage" häufig gebrauchte, für diesen Text typische Frageform. So wundert sich der Verfasser des Tagebuchs über einen mittels Ultraschall sichtbar gemachten Fötus: "daß es aus diesem ewigen Dämmer auf Meeresgrottengrund ein Erwachen gäbe ans Tageslicht?" Selbst in einer extrem verkürzten Prosa wie dieser stört derlei poetischer Wildwuchs, weil er eine im Deutschen nicht vorgesehene Syntax kreiert, die weder Verständnis noch Lesegenuss befördert.

Dass der Autor trotz mehrmaliger Italienaufenthalte und eines von ihm zitierten Italienischlehrbuchs "Uszita" als Übersetzung von "Ausgang" anführt, mag den Rezensenten der Beckmesserei überführen, zeigt indessen einmal mehr, dass nicht sorgfältig genug lektoriert werden kann.

Doch kommen wir von der Sprache zu den Dingen. Wer sich Schuttings Eintragungen bedächtig wie ein Brevier zu Gemüte führt, verliert sich in einem Mikrokosmos der gedämpften Leidenschaften, hinter denen der Dichter ähnlich wie auf dem Buchumschlag vorsichtig hervorlugt. Eine Hummel, die er aus dem Altausseer See rettet, eine Fleischfliege, die, auf dem TV-Bildschirm gelandet, in Ferrero-Waldners Augenwinkel sitzt, eine Amsel vor dem Haus, darüber der stille Mond: Stifters "Sanftes Gesetz" feiert in dieser Schrift Auferstehung, und die Rosen im Garten von Rosa, der Kärntner Freundin, gemahnen an das Rosenhaus in "Nachsommer". Morgens der Blick auf das Goldeck hinauf, mit vier Füßen unter der Decke, beschauliche Spaziergänge, bisweilen Reisen - Herz, was willst du mehr!

Allein der Schein trügt. In Nachbars Garten wird als mahnendes Vorzeichen eines bevorstehenden Umbruchs der geliebte Birnbaum gefällt. "Gezählte Tage - gezählt ab der Zeit, wo für mich alles hätte so bleiben können und sollen, Glück in der Arbeit, Glück in der Liebe, wäre nicht manchmal Beschwerde geführt worden, mit mir zu leben heiße alleingelassen zu sein, mehr allein als gleich ganz allein?"

An dieser Stelle vollzieht sich die entscheidende Wende. Sie rettet das Tagebuch zum Nachteil von Schuttings Beziehung. Letztere muss in die Brüche gehen, um den harmlosen Umtrieben des Dichters zwischen Wien, Kärnten und Salzburg einen Schuss Blut zu injizieren. Er fühlt sich vernichtet wie die Matrosen der gesunkenen "Kursk", als er seine Habseligkeiten packt und Abschied von der Geliebten nimmt. In Wien, an den Nachwehen der Trennung leidend, tritt er eines Nachts schlaflos ans Fenster, und siehe da: "Vor mir liegt ein nie zuvor gesehener Himmel, voll der Endlichkeit." So wird aus dem stillen, selbstvergessenen Beobachten im Fluss der Zeit die Brüchigkeit unserer conditio humana offenbar. "Gezählte Tage" paraphrasiert mithin nicht nur die Dauer einer Liebesgeschichte, sondern erweist sich als bittere Chiffre für das Dasein, dem ein unscheinbarer Nachsatz gleichsam als Epilog ein wenig die Schärfe nimmt: "25. September 2000, nach Kärnten retour."

Titelbild

Julian Schutting: Gezählte Tage. Notizen.
Residenz Verlag, Salzburg 2002.
256 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-10: 3701713057

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