Tadzio

Gilbert Adair über Thomas Manns Objekt der Begierde in Venedig

Von Laslo ScholtzeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Laslo Scholtze

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Samuel Fischer, der berühmte Verleger, sollte mit seiner ersten Einschätzung 1913 Recht behalten: Thomas Manns "Tod in Venedig" stehe eine "Einreihung in die Menschheitsgeschichte" bevor. Die Novelle war in Deutschland gleich nach ihrem Erscheinen erfolgreich und erlangte nach kurzer Zeit Weltachtung. Darüber hinaus wirkte der von Mann erschaffene Stoff in nahezu allen Gebieten der Kunst fort: Luchino Visconti adaptierte Manns Novelle für seinen gleichnamigen, preisgekrönten Film, in dessen Fahrwasser auch Mahlers Sinfonie Nr. 5 als Filmmusik von "Tod in Venedig" berühmt wurde. Nicht ganz so bekannt und gefeiert dürfte die Bearbeitung für die Oper von Benjamin Britten sein. Neben den Genannten erteilten noch viele andere Künstler und Schriftsteller, Forscher und Kritiker dem "Tod in Venedig" ihre Reminiszenz; und huldigten damit gleichzeitig der Figur, die - vergleichbar etwa mit Werthers Lotte - das Gravitationszentrum der Geschichte ist: Tadzio, der bildhübsche, engelsgleiche polnische Knabe, dem Aschenbach in unheilvollem Begehren verfällt.

Die Schönheit des nahezu Unbeschreiblichen durfte und musste jeder Leser zunächst in seiner Phantasie den Worten Manns nachbilden. 1971 bekam Tadzio dann ein Gesicht, nämlich das des fünfzehnjährigen Björn Andrésen, den Luchino Visconti in Schweden entdeckte, nach irrwitzig aufwendigem Casting, das er in verschiedenen Ländern Europas durchführte. Nach einhelliger Meinung der Kritik war dies eine außerordentlich schwierige und entscheidende Besetzung, die Visconti hervorragend gelang. Björn Andrésens Erscheinung vermochte die sinnlich-ästhetischen Erwartungen an die Rolle zu erfüllen und verankerte sich im kollektiven Gedächtnis als Tadzio.

Durch Thomas Manns Tagebücher und seine Aussagen zur Entstehung von "Tod in Venedig" ist belegt, dass die Geschichte erstaunlich eng an den tatsächlichen Erlebnissen Manns während einer Reise nach Venedig entworfen ist. Nicht zuletzt für die Gestalt des Tadzios gab es ein reales Vorbild. Die faszinierende Idee von Gilbert Adairs Essay "Adzio und Tadzio", der letztes Jahr in England erschien, besteht nun darin, diesen "echten Tadzio", Wladyslaw Moes mit Namen, zu porträtieren, der unversehens und ohne eigenes Zutun zu einem Stück Weltliteratur wurde. Das klingt zunächst derart reizvoll, dass man geneigt ist zu fragen, wieso sich nicht schon früher jemand dieser scheinbar naheliegenden Aufgabe angenommen hat, den doppelten Mythos aus Buch und Film zu enthüllen?

Vielleicht wäre dieser jemand erfolgreicher gewesen als Adair, sehr wahrscheinlich sogar für den Fall, dass er sein Projekt vor 1986 angegangen wäre, dem Todesjahr von Wladyslaw Moes. Vielleicht hätte jener Autor dann von Moes erfahren, was jeden "Tod-in-Venedig"-Fan eigentlich interessieren müsste, nämlich: Wie war es damals 1911 auf dem Lido, wie hat es Moes später als junger Mann empfunden, das weltberühmte Buch zu lesen, in dem er und die Leidenschaft, die er hervorrief, verewigt wurde, was ist es für ein Gefühl, sich in einem Visconti-Film zu sehen? Wie hat seine Frau reagiert, wie seine Familie, seine Freunde, haben sich plötzlich alle das Buch gekauft, wurde er damit aufgezogen oder darum beneidet? Gilbert Adair jedenfalls hat all das nicht erfahren. Moes selbst konnte es ihm nicht mehr sagen, dessen Tochter Maria anscheinend auch nicht und seine Recherchen, die Adair offensichtlich ausgiebig und gründlich betrieben hat, bringen eine Menge Informationen zum Vorschein, nur nicht so sehr die, die man sich gewünscht hätte. Ihm fehlt ganz offensichtlich die authentische Quelle, die ein Thema mit solchem Anekdotenpotenzial nötig hat, um all die kleinen, kuriosen Auswirkungen der unfreiwilligen Berühmtheit aufzuzeigen.

"Durch ein umgedrehtes Fernrohr betrachtet" (so Adair über sein eigenes Vorgehen) verliert das Projekt seinen Reiz und reduziert sich zu einer Kurzbiographie eines Unbekannten. Das eigentliche bzw. vorgebliche Zentrum des Essays, die Verbindung zwischen dem "echten" und dem "literarischen" Tadzio, bleibt unbestimmt. Da hierin aber die Rechtfertigung des Essays liegt, konstruiert Adair - eloquent und geradezu kreativ - Verknüpfungen, wo es keine gibt. Das führt stellenweise zu spekulativen Plaudereien der Art "man könnte sich vorstellen" oder "es ist nicht ausgeschlossen". Es scheint recht deutlich, dass Adair beim Schürfen nach den verborgenen Schätzen im Leben Moes' schlicht nicht das fand, was er erhoffte. Das ist bedauerlich, denn ähnlich geht es dem Leser jetzt mit Adairs Buch.

Die Stärken des Essay sind recherchierte Hintergründe, die herzlich wenig mit der Person Moes' zu tun haben: Beispielsweise, dass es einen Film über Viscontis Casting gibt (die möglichen, letztendlich aber verhinderten Tadzios!), daß Visconti, als er sich in Polen aufhielt, Moes vorsätzlich nicht besuchte, weil er das Bild eines alten Mannes von seiner Phantasie fernhalten wollte (wie er diesem auch ohne Umschweife in einem Brief mitteilte), dass er dafür - wie zum Scherz für Kenner - den Familienamen, eben "Moes", im Soundtrack seines Films versteckte. Oder dass Thomas Mann schon vor seiner Venedigreise eine Novelle mit ähnlichem Inhalt und Goethe als Hauptfigur geplant hatte, und die brisante Tatsache, dass Manns echtes Objekt der Begierde gerade einmal elf Lenze zählte.

Überzeugend, wenn auch zu kurz, ist die Analyse von "Tod in Venedig" innerhalb der "soziokulturellen Geschichte der Homoerotik": Manns Werk kröne abschließend eine lange Tradition, nach der homosexuelle Vorlieben in "Archetypen klassischer Poesie" verschlüsselt werden, und demaskiere jedoch ironisch im selben Atemzug diese Mythologie, indem er die ihr zugrunde liegende Lüsternheit zur Schau stelle.

Dass Wladyslaw Moes 1911 in Venedig Thomas Mann unter die Augen und bald darauf in dessen Novelle gelangte, mag als Glück der Literatur gelten; dass ihm nun die Ehre einer Biographie zuteil wurde, schmälert das nicht.

Titelbild

Gilbert Adair: Adzio und Tadzio. Wladyslaw Moes, Thomas Mann, Luchino Visconti: Der Tod in Venedig. Mit 15 Abbildungen.
Übersetzt aus dem Englischen von Thomas Schlachter.
Edition Epoca, Zürich 2002.
116 Seiten, 17,00 EUR.
ISBN-10: 3905513285

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