Da kleben Geschichten dran

In David Wagners Erzählband "Was alles fehlt" fehlt das Wesentliche

Von Torsten GellnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Torsten Gellner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein junges Mädchen mit künstlerischen Ambitionen und Namen Hanna hat sich umgebracht. Hanna "hat Tabletten aus der Apotheke ihres Vaters geschluckt, hat Wasser getrunken und sich in den großen Kleiderschrank ihrer Eltern gesetzt." Dort ist sie gestorben, unter den Röcken der Mutter, unweit der Anzüge des Vaters. Dem Ich-Erzähler präsentiert sich dieses tragische Geschehen selbst nur aus zweiter Hand, seine Cousine berichtet ihm im Auto davon, und das erste, das dem Erzähler einfällt ist, dass er nun wohl ein kleines Kreuz hinter ihren Namen malen muss.

Doch dann setzt die Erinnerung ein: an einen Motorrollertrip mit der Cousine und ihrer Freundin Hanna nach Tschechien, an das Kentern des Paddelbootes in der Moldau, an die Brustwarzen, die durch die nassen Mädchen-Shirts schauten, an das Klackern der Sturzhelme, wenn sich Hanna auf dem Roller vorbeugte, um ihm, dem sich jetzt Erinnernden, etwas ins Ohr zu flüstern. Er denkt daran, wie Hanna plötzlich vor der Tür seiner Pariser Studentenbude stand und - sie war zum Zeichnen gekommen - auf der Kloschüssel balancierend den Eifelturm durch das kleine Toilettenfenster abmalte. Er erinnert sich auch, dass sie auf der Schaumstoffmatratze liegend aussah wie "eine Tote, die noch zappelt und spricht". Auch wenn die Nachtigall aus dem Schreiblabor hier etwas zu laut trapst, zählt "Der Wasserschaden" zu den schönsten der insgesamt zwölf Geschichten in David Wagners neuem Buch.

Erinnerung, das ist das zentrale Leitmotiv seiner Erzählungen. Triviale Alltagshandlungen und -gegenstände evozieren - ganz nach Proust'scher Manier - kurze Erinnerungsmomente und dienen so als Rahmen und Träger uneigentlich erzählter Geschichten. Heute verkauft Papa Käse aus Deutschland - früher hat er Minen verkauft. Und das Messer, mit dem die hiervon berichtende Tochter Architekturmodelle aus Balsaholz bastelt, hat Papa weiland in Afrika für ganz andere Zwecke gebraucht. Wagner ist geradezu besessen von solchen eigentlich banalen Objekten. "Da kleben Geschichten dran", erklärt der Autor seine Faszination am spröden Ding.

Spöttisch könnte man Wagners literarische Methode - die oft nur vage Andeutung durch das Ding - auch so beschreiben: Wenn da Geschichten dran kleben, muss man sie ja nicht mehr erzählen. So wird das Wesentliche der Texte nicht verbalisiert. Gelegentlich nachgerade penetrante Andeutungen sorgen jedoch zuverlässig dafür, dass man auch merkt, dass da was fehlt.

An einer nüchtern protokollierten Einzelheit klebt in der Tat bisweilen die ganze Tragik einer nur bruchstückhaft rekonstruierbaren Lebensgeschichte. Eine Entwicklerwanne etwa kann ein derart substanzielles wie verstörendes Detail sein. Die Entwicklerwanne aus der gleichnamigen Geschichte diente einem lebensmüden Sohn als postmortales Urinal. Aus Filmen wusste er, dass sich Blase und Darm beim Strangulieren entleeren würden. Deshalb die große Entwicklerwanne unter den Füßen des Erhängten. Der Vater, in dessen Büro sich der Sohn das Leben nahm, soll sich nicht noch über den verdorbenen Teppichboden ärgern müssen.

Ein gewöhnliches und für Außenstehende unpersönliches Utensil wird zum literarischen Fetisch erhoben und fungiert als Zeichen für das nicht Erzählte, für das nicht Aussprechbare. Das kann, wie in den oben genannten Beispielen völlig überzeugen, ja mitunter überwältigen. Jedoch gerät das ständige Referieren auf Konsumgüter, Haushalts- und Hygienerituale bisweilen zum leicht durchschaubaren, kalkulierten Symbolismus.

Titelbild

David Wagner: Was alles fehlt. Zwölf Geschichten.
Piper Verlag, München 2002.
150 Seiten, 15,90 EUR.
ISBN-10: 349204476X

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