Außenseiter der Gesellschaft

Manfred Luckas verfolgt die Mythen des Boxens

Von Anne FleigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Fleig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Den Mythen des Boxens und ihrer literarischen Inszenierung geht die Dissertation von Manfred Luckas mit großem Elan nach. Von der ersten Zeile an trägt sie der Impuls, dass die akademische Debatte der sozialen und gesellschaftlichen Bedeutung des Boxens keineswegs gerecht werde und insbesondere die Literaturwissenschaft den Faustkampf bislang "fast völlig vernachlässigt" habe. Es versteht sich von selbst, dass die vorliegende Arbeit diesem Mangel abhelfen will. Hauptanliegen der Untersuchung ist es denn auch, "die bis heute auffällig gering rezipierten Texte über das Boxen angemessen aufzuarbeiten und zu würdigen". Worin die angestrebte Würdigung aber genau bestehen soll, wird nicht recht deutlich. Die Bedeutung des Boxens wird mehr behauptet als belegt. Dafür hat der Verfasser eine beeindruckende Vielzahl an Texten über das Boxen - vorwiegend aus dem anglo-amerikanischen und deutschsprachigen Raum - zusammengetragen, die die Grundlage der Arbeit bilden. In einem Anhang, der fast ein Viertel des gesamten Seitenumfangs ausmacht, werden diese und weitere Texte noch einmal genau dokumentiert. Seine verschiedenen Verzeichnisse können geradewegs als Fundgrube bezeichnet werden. Theoretisch vermag die Arbeit nicht in gleicher Weise zu überzeugen. Für die Missachtung der Boxliteratur wird ein normativer Literaturbegriff verantwortlich gemacht, der inhaltlich aber unbestimmt bleibt. Dass diffus von einer "vielschichtigen Problematik" und dem "komplexen kulturhistorischen Horizont des Themas" die Rede ist, macht die Sache nicht besser. Klar wird, dass ein Überblick über die Vielzahl der Texte gegeben werden soll, der es erlaubt, "spezifische Motive und Mythen" herauszuarbeiten, wobei ein komparatistischer Ansatz gewählt wird.

Die Studie im Stil der älteren Motivforschung schlägt zunächst einen weiten, aber knapp gehaltenen Bogen von der Entstehung des Faustkampfs in der Antike bis hin zur Etablierung von Preiskämpfen im England des 17. Jahrhunderts. Das moderne Boxen setzte Ende des 19. Jahrhunderts mit dem Tragen von Handschuhen ein, die die Technik des Boxkampfes nachhaltig veränderten. Statt auf die Wucht des Schlages kommt es nun vielmehr auf die Schnelligkeit und Geschicklichkeit beim Boxen an. War die Öffentlichkeit bis zu diesem Zeitpunkt geneigt, Boxen für eine Art Naturschauspiel zu halten, so gewann mit der neuen Technik die Überzeugung an Boden, dass es sich beim Boxen um eine Kunst oder Wissenschaft handelt. Dieser Wandel in der Anschauung des Boxens ist nach Luckas' Ansicht eine der entscheidenden Gründe für die zunehmende Akzeptanz des Boxens um die Jahrhundertwende - das Boxen wurde 1904 olympische Disziplin - und die Faszination, die das Boxen seitdem auf die Literaturproduktion ausgeübt habe. Inwiefern hier aber beispielsweise mit den Attributen Jugendlichkeit, Dynamik und Technik als Kennzeichen des Boxens gleichzeitig die wichtigsten Schlagworte der Diskussionen um die Moderne aufgerufen wurden, bleibt leider - wie an vergleichbaren anderen Stellen der Arbeit auch - unerörtert. Zu groß ist die Fülle des Materials, um etwa eine Einordnung einzelner Texte in zeitgenössische Diskurse zu leisten.

Der Bedeutung des Boxens in den sportbegeisterten Jahren der Weimarer Republik widmet der Verfasser ein eigenes Kapitel. Die kaleidoskopartige Beleuchtung einzelner Texte aus dem tatsächlich immensen Fundus der zwanziger Jahre führt zu einer zufälligen Bestandsaufnahme, die Textauswahl bleibt beliebig. Auch ergeben sich durch dieses Verfahren immer wieder Ungenauigkeiten bzw. Allgemeinplätze, etwa wenn der Verfasser konstatiert, in Siegfried Kracauers Schriften mache sich "ein gewisses Unbehagen" am Körperkult bemerkbar oder der Erfolg der Tillergirls mit der "Freude an der neu gewonnenen Körperlichkeit" begründet wird. Dass die literarische Beschäftigung mit dem Faustkampf diesem eine dezidiert "kulturkritische Komponente hinzugefügt" habe, so Luckas' Resümee der zwanziger Jahre, gelangt über bestehende Erkenntnisse nicht hinaus.

Erst nach diesem historischen Überblick wird das Textkorpus genauer beschrieben. Unter "Boxliteratur" will der Verfasser die "Gesamtheit all dessen" verstehen, "was zum Thema Boxen geschrieben worden ist". Sportwissenschaftliche Arbeiten werden allerdings von der Untersuchung ausgenommen. Während das Boxen - anders als vielleicht zu erwarten wäre - gerade im Drama kaum vertreten sei, besitze es vor allem im anglo-amerikanischen Raum große Bedeutung für Short Stories und Essays. Mit der Boxer-Autobiographie habe sich ein eigenes Genre herausgebildet, welches eng an die Mythen vom Boxen gebunden sei. Die Geschichte der Boxmythen zeige sich auch darin, dass sehr viele der Texte auf historische Boxereignisse Bezug nehmen. Dieses "Moment des Nicht-Fiktionalen" wohne den Texten selbst als bewusstes Stilisierungsmittel inne und reproduziere die Auffassung vom Faustkampf als hart und lebensnah.

Die Auseinandersetzung mit diesen Mythen bildet den Hauptteil der Arbeit, wie es ihr Titel nahe legt, und sie gewinnt dabei deutlich an Klarheit. Unter Mythos wird sowohl die "tradierte Überlieferung" als auch das Mythenreservoir des Alltags im Sinne von Roland Barthes verstanden. Zu diesen Mythen zählen die Verbindung von Boxern und Schreibern durch die selbstgewählte Einsamkeit, mithin der Kampf gegen sich selbst, die Geschichte vom sozialen Aufstieg und vom Ruhm, aber auch die Niederlage und das Boxen als Scheitern, der Kampf um Leben und Tod, das Boxen als kriminelles Abenteuer oder gar organisiertes Verbrechen sowie der politische Kampf der Ethnien, und zwar insbesondere als Kampf von Weißen und Schwarzen. Hinzu kommt die Einbindung des Boxens in rituelle oder magische Praktiken, die Figuration des Boxers als Erlöser. Abgerundet wird diese Mythengeschichte durch ein eigenes Kapitel zum "Mythos Mann", das die verschiedenen Inszenierungsformen des Boxens sinnvoll ergänzt, aber auch kritisch konterkariert. Dies gilt ebenfalls für den letzten Abschnitt zum Thema "Frauen und Faustkampf". Ein Großteil der Mythenproduktion beruht offensichtlich auf dem Motiv des Kampfes, das im Boxsport in Reinform gegeben ist. Als zentraler Komplex erweist sich das Scheitern und die Mystifizierung des Verlierers. Inwiefern hingegen etwa die religiöse Motivation nicht auch in anderen Konstellationen eine Rolle spielt, in der Sportler zu Erlöserfiguren stilisiert werden, müsste ein Vergleich von Sporttexten zeigen. Um die genannten Mythen zu illustrieren, liefert Luckas eine Vielzahl von Textbeispielen, die die anhaltende Faszination von vorwiegend männlichen Autoren durch das Boxen belegen und auf ihre spezifischen Gemeinsamkeiten hin befragt werden. Dabei sind die reale gesellschaftliche Akzeptanz des Boxens und die literarische Produktion stets aufeinander bezogen, das Textkorpus wird deutlich durch die anglo-amerikanische Tradition bestimmt. Über die Beschreibung und eine durchaus gelungene Zusammenschau der Texte gelangt der Verfasser indes nicht hinaus, denn der Beleg der Quantität führt fast notwendig zu einer Vernachlässigung der Qualitäten einzelner Texte. Das ist schade, denn ein vergleichender Blick auf andere Sportarten oder zeitgenössische Diskussionen hätte ebenso wie ausführliche Einzelinterpretationen die behauptete Vielschichtigkeit der Texte erst genauer erweisen müssen. So liegt das wesentliche Verdienst der Arbeit in der gründlichen Erhebung der Texte.

Luckas kommt zu dem Ergebnis, dass sich Autoren und Boxer in ihrem Selbstverständnis als "Außenseiter der Gesellschaft" treffen, das er als männlichen Authentizitätskult deutet. Entsprechend ist festzuhalten, dass die analysierten Texte fast durchweg mythenbildend wirken; kritische Darstellungen fänden sich allenfalls im Bereich krimineller Machenschaften und "dunkler Geschäfte". Worin also die "Komplexität des Phänomens Boxen" besteht, die der Verfasser noch bis zur letzten Seite betont, bleibt angesichts der skizzierten theoretischen und methodischen Defizite der Untersuchung unklar. Statt dessen wird die Rezensentin den Eindruck nicht los, dass sich auch dieses Stück "Boxliteratur" in die beschriebene Tradition der Mythenbildung einfügen könnte.

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Manfred Luckas: So lange du stehen kannst, wirst du kämpfen. Die Mythen des Boxens und ihre literarische Inszenierung.
Dissertation.de Verlag im Internet, Berlin 2002.
396 Seiten,
ISBN-10: 3898253546

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