Autobiographie oder Fiktion?

Reaktionen deutscher Leser auf den Fall "Binjamin Wilkomirski"

Von Barbara Mahlmann-BauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Barbara Mahlmann-Bauer und Waltraud StrickhausenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Waltraud Strickhausen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Artikel des Schweizer Schriftstellers Daniel Ganzfried in der ›Weltwoche‹ vom 27. August 1998 löste eine internationale Debatte über die Authentizität von Binjamin Wilkomirskis "Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939-1948" aus.(1) Die Fragen, die im September 1998 die Gemüter der Journalisten in Deutschland, der Schweiz und den USA erregten, sind ein knappes halbes Jahr später noch nicht geklärt. Wilkomirski hält sich mit Stellungnahmen seitdem zurück.

Wilkomirskis Buch ist 1995 im renommierten ›Jüdischen Verlag‹ in einem Programm mit Martha Keils "Jüdisches Städtebild Wien", Salomon Maimons "Lebensgeschichte" (hg. von Zwi Batscha), Alejchem Scholems "Eisenbahngeschichten" und Gershom Scholems "Tagebüchern 1913-1917", also Klassikern jüdischer Literatur in deutscher Sprache, erschienen und war auch noch auf der Frankfurter Buchmesse im Oktober 1998 kommentarlos auf den Regalen des Suhrkamp-Verlages ausgestellt. Seit seinem Erscheinen rangiert Wilkomirskis Buch auf Bestsellerlisten. Es ist in zwölf Sprachen übersetzt worden, erzielte renommierte Preise und diente als Ausgangspunkt dreier Filme über das Schicksal des kleinen Binjamin.

Auf einer internationalen Tagung "Für ein Kind war das anders", die ich im Mai 1997 mit Guy Stern (Detroit) und Waltraud Strickhausen in Marburg organisierte, spielte Wilkomirskis Buch "Bruchstücke" eine besondere Rolle, hatten wir uns doch das Ziel gesetzt, künstlerische Repräsentationen traumatischer Erfahrungen jüdischer Kinder und Jugendlicher mit dem NS-Terror zu analysieren und über die Botschaft von Erinnerungsbüchern, Filmen und Denkmälern mit Überlebenden und Angehörigen der dritten Generation zu diskutieren. Zwei Referenten präsentierten Wilkomirskis "Bruchstücke" als Beispiel für einen Erinnerungstext, in dessen Struktur sich besonders sinnfällig der Ich-Verlust eines im Lager traumatisierten Jungen abbilde. Die beiden Vorträge über Wilkomirskis Erinnerungsbuch(2) lösten im Marburger Publikum eine bewegte Diskussion aus, die vor dem Hintergrund der gegenwärtigen öffentlichen Debatte um die Echtheit von Wilkomirskis Kindheitserinnerungen zu erneutem Nachdenken Anlaß gibt. Es ist sicher kein Zufall, daß just nach diesen Referaten die Frage gestellt wurde, ob und wieso es denn sinnvoll sei, ausführlich Szenen unvorstellbarer Brutalität öffentlich zu zitieren, zumal in Anwesenheit von Betroffenen. Es bestand nämlich Einigkeit unter den Kennern der "Bruchstücke", daß dieses Buch alle anderen hinsichtlich der Drastik und Häufigkeit der Gewaltdarstellungen übertreffe. Freilich gingen im Mai 1997 noch alle Leser aufgrund der Erklärungen des Autors Wilkomirski am Anfang und Ende des Buches davon aus, daß die "Bruchstücke" von den authentischen Erfahrungen eines Lagerkindes handelten. Gerade im Lichte der späteren Enthüllungen von Daniel Ganzfried, welche die Schweizer Biographie des Autors Bruno Doessekker alias Binjamin Wilkomirski aufgezeigt und so die Echtheit seiner "Bruchstücke" als autobiographischen Text in Frage gestellt haben(3), ist unser Marburger Erfahrungsaustausch über die Art und Weise, wie die "Bruchstücke" gelesen und bewertet wurden, interessant. Einige Zuhörer erklärten, sie hätten das Buch nicht am Stück lesen können und hätten es weggelegt. Ein Tagungsteilnehmer stellte fest, daß es nur in Deutschland Menschen gebe, die immer wieder von brutalen Schilderungen fasziniert seien. Der Verdacht liege nahe, sie gäben sich ungestört der Lust am Grauenhaften hin, wobei sie die moraldidaktische Erklärung vorschöben, daß ihre Beschäftigung mit dem Thema doch der Abschreckung dienen solle. Ein Zeitzeuge empfand die zitierten Bilder des Grauens als provozierend und irritierend zugleich. Einerseits komme eine drastische Schilderung der Lagereindrücke dem Wunsch der Überlebenden nach wahrheitsgetreuer Aufklärung entgegen, andererseits ertrügen sie es nicht, erneut mit den Szenen des Grauens konfrontiert zu werden.

Grausame Lagerszenen öffentlich zu zitieren, hielt auch der Nestor der Trauma-Forschung, Hans Keilson,(4) für eine zu starke Zumutung. Sie sollten besser in einer Therapie mit dem Analytiker durchgesprochen werden.(5) Außerdem sei es eine Illusion zu glauben, daß die an Zeugnissen der Brutalität überreiche Schilderung des erwachsenen Autors die Eigenart seines kindlichen Erlebens getreu wiedergeben könne. Bei der privaten Lektüre bestehe immerhin die Möglichkeit, das Buch wegzulegen und mit den eigenen Emotionen allein zu sein. Cordelia Edvardson widersprach Hans Keilson: Es gebe keinen Grund, die deutschen Leser zu schonen. Sie müßten alles erfahren, auch und gerade in der Öffentlichkeit. Die Schilderung unvorstellbarer Grausamkeiten des Lageralltags reiche zur Aufklärung allerdings nicht aus, sondern ihr müsse - zumal in der Schule - die Analyse der Bedingungen folgen, die in Deutschland zur Errichtung der Konzentrationslager und zum Genozid führten.(6) Ich gab zu bedenken, daß es Aufgabe des Wissenschaftlers sei, Wilkomirskis "Bruchstücke" als ein Fallbeispiel unter anderen für ein traumatisiertes Kind zu analysieren, dessen Ich-Entwicklung durch die Lager-Eindrücke erheblich geschädigt worden sei und dessen spätere Orientierungsschwierigkeiten erklärt werden müßten. Eine Verlesung mehrerer Passagen, welche die Anlässe zur Depersonalisierung und Entgrenzung drastisch vorführten, erschiene mir jedoch als kollektive Bußübung im Rahmen einer Tagung zusammen mit Überlebenden unpassend. Lehrerinnen wandten ein, aus ihrer Erfahrung gewinne eine solche Rhetorik des Grauens Schüler und Schülerinnen nicht für das Thema. Vielmehr sähen sie die Gefahr, daß Schüler die Gewalt-Szenen des "man-made disaster" in den Todeslagern in ein fragwürdiges Lernprogramm aufnehmen könnten, brutale Bilder aushalten und dabei "cool bleiben" zu wollen. Binjamin Wilkomirskis "Bruchstücke" sei kein Jugendbuch und für die Klassenlektüre in der Mittelstufe sicher ungeeignet. Empathie sei eine Voraussetzung dafür, das Thema "Holocaust" anhand von Zeitzeugen-Dokumenten im Unterricht zu diskutieren und müsse nicht extra durch besonders drastische Schilderungen des Lageralltags erzeugt werden.

Solche Skrupel plagten allerdings nicht alle Deutsch- und Geschichtslehrer. Als die Frage der Authentizität von Wilkomirskis Überlebensbericht im September/Oktober zum Medienereignis avancierte, fragten Fernsehjournalisten auch Schüler, die eine Lesung Wilkomirskis miterlebt hatten, nach ihrer Meinung. Sie hatten, überwältigt von der Anwesenheit eines solchen Zeitzeugens, nicht an der Echtheit seiner Geschichte gezweifelt. Nicht nur sie, sondern auch Lehrer, Psychologen und Wissenschaftler hatten die "Bruchstücke" als Fallbeispiel einer lebenslangen Desorientierung gelesen, die als Folge unvorstellbar grausamer Kindheitseindrücke leicht erklärbar erschienen. Auf Wunsch unseres Berliner Verlegers, mit dem wir die Publikation der Marburger Tagungsreferate vereinbart hatten, verfaßte ich mit Waltraud Strickhausen eine Stellungnahme zum Fall Wilkomirski.(7) In erweiterter Form stelle ich unsere Erklärung hier den Lesern von "literaturkritik.de" zur Diskussion.

Daniel Ganzfrieds Nachforschungen

Nach einem "mehr als siebenstündigen Gespräch mit dem Autor", das für ihn allerdings viele Fragen offen gelassen hatte, stellte Ganzfried in Schweizer Archiven Recherchen zu einzelnen ungeklärten Aspekten von Wilkomirskis Lebenslauf an. Er trat 1995 selbst mit "Der Absender", einem Roman über die Folgen der Shoah aus der Sicht der zweiten Generation, an die Öffentlichkeit.(8) Sie brachten ihn zur Überzeugung, daß dieser die Geschichte seines Überlebens in nationalsozialistischen Konzentrationslagern frei erfunden habe. Wilkomirski, mit bürgerlichem Namen Bruno Doessekker, sei - so das Ergebnis von Ganzfrieds Nachforschungen - in Wirklichkeit das uneheliche Kind einer Schweizerin namens Yvonne Berthe Grosjean, am 12. Februar 1941 in Biel geboren, das nach anfänglichem Aufenthalt in einem Kinderheim dem Zürcher Ärzte-Ehepaar Doessekker in Pflege gegeben und 1957 von ihm adoptiert worden sei. Nach dem Tod von Yvonne Berthe Grosjean fiel ihr Erbe an Bruno. Alle vorhandenen Dokumente deuten, nach Ganzfrieds Auffassung, auf eine nahtlose Schweizer Biographie hin. Binjamin Wilkomirski sei das "Produkt eines kreativen Aktes von Bruno Doessekker"(9); der sei indes im Wohlstand und ohne besondere Schulprobleme groß geworden.

Am 3. September 1998 erklärte Ganzfried der ›Weltwoche‹ in einem Interview: "Der Faktengehalt unserer Recherche ist noch von niemandem explizit angezweifelt worden, am wenigsten von Wilkomirski selber. Er stellt ihnen nur seine Erinnerungen gegenüber und verweist im übrigen darauf, dass ihm ja niemand Glauben schenken muß. Dem Lesenden sei immer frei gestanden, sein Buch entweder als Literatur (sic!) oder als persönliches Dokument zu verstehen. Das ist nun wahrscheinlich der einig wahre Satz, den der Mann in diesem Zusammenhang je geäussert hat."(10)

Den Lesern, die bereitwillig die "Bruchstücke" für eine authentische Überlebensgeschichte gehalten hätten, ohne aufgrund historischer Ungereimtheiten Verdacht zu schöpfen, wirft Ganzfried "mangelnde Zivilcourage" vor: "Verlag, Feuilleton, Fernsehen und Radio haben in einer verhängnisvollen Tateinheit diese Verantwortung [für die kommenden Generationen, sich richtig zu erinnern] im Falle Wilkomirski aufs gröbste verletzt und mitgeholfen, das Publikum zu täuschen. Ihre Schludrigkeit, die nahezu vollkommene Absenz von Zivilcourage im Kulturbetrieb unserer Tage, hat mit verursacht, dass Auschwitz einmal mehr zur Glaubensfrage verkommt"(11) (ebd.).

Die Recherchen Daniel Ganzfrieds zur Schweizer Biographie des Autors der "Bruchstücke" - Binjamin Wilkomirski alias Bruno Doessekker - und die nachfolgende journalistische Kontroverse haben allerdings bis dato noch keine Gewißheit erbracht. Wir schließen uns daher nicht Ganzfrieds Verurteilungen an, die davon ausgehen, daß Doessekker und Wilkomirski nicht dieselben seien, sondern daß der Autor sich eine Lagerbiographie geliehen oder fälschlich angemaßt habe. Denn solange nicht erwiesen ist, ob Bruno Doessekker - entgegen den Annahmen Ganzfrieds - nicht doch eines jener jüdischen Kinder ohne Identität ist, über deren Schicksal in der Schweiz und anderswo man bisher wenig weiß, ist es unangemessen, ein Glaubensbekenntnis für oder gegen den Autor oder gar ein moralisches Werturteil über ihn und sein Buch zu fällen. Der Autor eines Wilkomirski-Films "Das gute Leben ist nur eine Falle" (3Sat 1997) wirft Ganzfried Einseitigkeit vor: "Warum sollte Binjamin Wilkomirski nicht ein jüdisches Flüchtlingskind gewesen sein, ohne amtliche Papiere, dem eine in sich stimmige Schweizer Identität verpasst wurde, damit es hier ein "normales" Leben führen kann? Alle von Ganzfried angeführten "Beweise" (Geburtsurkunde, Einschulung usw.) zeigen nur, dass es für einen Bruno Grosjean, geboren 1941 in Biel, eine lückenlose amtliche Schweizer Laufbahn gibt. Sie widerlegen aber nicht, dass es von einem bestimmten Moment weg, zum Beispiel nach dem (möglichen) Tod von Bruno Grosjean im Kinderheim, ein Lagerkind gewesen sein könnte, das unter diesem Namen weiterlebte."(12) Auch Hans Saner gibt zu bedenken, es könnte sein, "dass Binjamin Wilkomirski - selbst wenn er objektiv im Unrecht wäre - subjektiv dennoch glaubt , was er sagt. Er hätte sich dann eine Identität zugedacht, die er als fiktive auch geworden ist."(13) Schließlich habe sein Verleger ja zugegeben, "dass Teile der "Bruchstücke" nach der Methode der "wiedergewonnenen Erinnerungen" in psychotherapeutischen Sitzungen zustande gekommen" seien. Jean Picard, Mitglied der Unabhängigen Expertenkommission "Schweiz - Zweiter Weltkrieg", verweist auf Hunderte jüdischer Kinder, die "während des Zweiten Weltkriegs aus den Niederlanden, aus Belgien und Frankreich "illegal" in die Schweiz gelangt seien. "Ab 1942/43 wurden sie durch Hilfsorganisationen einzeln oder in Gruppen eingeschmuggelt. Sie lebten in Kinderheimen, in Jugendlagern oder bei Pflegefamilien, die sich ohne Entschädigung an Freiplatzaktionen beteiligten."(14)

Wir stimmen also mit Eric Bergkraut und Hans Saner, ferner mit Jean Picard, Lorenz Jäger und Ruth Klüger(15) in der Forderung überein, daß das Schicksal der jüdischen Kinder ohne Identität, die nach dem 8. Mai 1945 in der Schweiz und anderswo eine neue Identität erhielten, der historischen Klärung bedarf und daß insbesondere untersucht werden muß, ob Bruno Doessekker alias B. Wilkomirski ein solcher Fall ist, wie es seine Erinnerungsbruchstücke suggerieren.

Der Fall "Wilkomirski" interessiert uns vor allem als Phänomen, das über die merkwürdigen Gesetze der Rezeption von Shoah-Erinnerungsbüchern Aufschluß gibt. Drei Fragen sind in diesem Zusammenhang von Belang.

1.)Welche Folgen haben Ganzfrieds Enthüllungen über Doessekkers Schweizer Biographie für künftige Versuche, die Erinnerungsdokumente überlebender Opfer des Nazi-Terrors aus interdisziplinärer Perspektive zu analysieren?

Verständlich ist der Wunsch der Überlebenden, die von ihren Leiden unter dem Nazi-Terror Zeugnis abgelegt haben, daß doch darüber deutsche Wissenschaftler, Lehrer und Künstler anders reden sollten als über fiktionale Texte, die gewöhnlich zu einer literarästhetischen Wertung herausforderten. Wäre es wahr, daß Doessekker sich die Rolle des jüdischen Lagerkindes angemaßt hätte, hätte er die Leser getäuscht und die jüdischen Zeitzeugen verletzt. Die Leser hätten von nun an einen Grund, künftigen Erinnerungsbüchern Überlebender mit Skepsis und Mißtrauen zu begegnen. Sie könnten sich dem Angebot des autobiographischen Paktes mit dem Argument verweigern, zuerst müßten sie anhand der historischen Fakten und des Stils die beanspruchte Authentizität überprüfen. Ihr Zugang zu Zeugnissen Überlebender unterschiede sich dann nicht mehr von den üblichen kritischen Standards eines Historikers oder Literaturwissenschaftlers. Ein solches Leseverhalten wäre für die Zeitzeugen ein Affront und würde den von ihnen gewünschten Dialog erheblich erschweren. "Mißtrauen wurde dort gesät, wo es gerade darauf ankommen würde, Glaubwürdigkeit zu vermitteln. [...] Die Zeugnisse der Überlebenden gelten nicht mehr als Zeugnisse, sondern nur noch als Texte, die man nach literarischen Kriterien prüft".(16) Wäre es wahr, daß sich Doessekker in die Rolle des Holocaust-Opfers hineingesteigert hätte, weil vor allem dessen Leiden gesellschaftlich anerkannt werde, würde sich einmal mehr bestätigen, daß der Holocaust als Metapher für alle möglichen Formen individueller Verfolgung und Unterdrückung Geltung hat und dabei die Singularität dieses Zivilisationsbruchs nivelliert zu werden droht: "Seien es die "Hühner-KZs" von denen Tierschützer jammern, sei es der "atomare Holocaust" zu Zeiten der Nachrüstung, seien es Bosnier in Berlin, die Asyl wollen und das damit unterstreichen, daß sie sich gelbe Sterne anheften ... Insofern ist "Binjamin Wilkomirski" nur die brutale Karikatur eines allgemeingesellschaftlichen Zustands."(17)

Die Kontroverse um den Fall Wilkomirski bekräftigt zudem die Einsicht, daß "Erinnerung auch immer Konstruktion ist", zumal eine späte Erinnerung, in die indirekt die früher publizierten Zeugnisse von Überlebenden mitverwoben sind. Volkhard Knigges Verdacht, daß die "Bruchstücke" nicht wirklich erlebt sein könnten, wurde besonders durch den Umstand geweckt, daß sie rhetorisch genau den Anforderungen genügten, die kundige Leser an eine ›gute‹ Holocaust-Geschichte stellen würden.(18) Die "Bruchstücke" gehorchten demnach als typisches Spätzeiterzeugnis einer Überbietungsrhetorik. Allerdings billigt Volkhard Knigge heutigen Sechzehnjährigen das Recht zu, die Historiker nach Beweisen für Zeugenaussagen zu fragen. Eine zuverlässigere Möglichkeit, den Wahrheitsgehalt von Erinnerungen zu prüfen, bestünde darin, sie nicht nur mit anderen Gedächtnisdokumenten, sondern mit archäologisch rekonstruierten Fakten zu vergleichen.

2.) Wie ist die breite Resonanz der "Bruchstücke" nicht nur im deutschen Sprachgebiet zu erklären und welche Schlüsse sind aus dem Bestsellererfolg der "Bruchstücke" auf das Geschichtsbewußtsein des deutschen Publikums zu ziehen?

Wilkomirskis Text lieferte den Stoff für drei Filme und ein Theaterstück, sein Autor wurde zu zahlreichen Lesungen und Vorträgen eingeladen und trat mit seinem Verleger oder seinem Therapeuten zusammen auf.

Versuchen wir zuerst, die Erfolgsgründe in Wilkomirskis Text selbst zu finden. Die "Fakten" der Verfolgung und Vernichtung der Juden sind längst bekannt und Gegenstand des Schulunterrichts. Details des Lageralltags, die andauernde Todesgefahr und das Funktionssystem des Terrors glauben wir aus den berühmten Schilderungen von Primo Levi bis Ruth Klüger zu kennen. Gleichwohl oder gerade deswegen wecken neue Publikationen von Erinnerungsbüchern hohe Erwartungen beim deutschen Lesepublikum, das durch Mediendebatten über das Berliner Mahnmal oder über die Notwendigkeit eines deutschen Holocaust-Museums sowie durch die Diskussionen über Goldhagens Buch für Nervenpunkte und Tabuzonen des Holocaust-Diskurses äußerst sensibel geworden ist. Das Ungewöhnliche und Neuartige an Wilkomirskis "Bruchstücken" ist die Perspektive des Kleinkindes auf die Phänomene seiner Umwelt, die es erst allmählich zu interpretieren und in Sinnzusammenhängen zu ordnen lernt und die es in diesem Fall, da es sich um eine brutale und unmenschliche Welt handelt, in einer Weise deutet, die der Logik und den Regeln des zivilisierten menschlichen Zusammenlebens zuwiderläuft. Diese Erzählperspektive, die allerdings an manchen Stellen überzogen scheint und in der sich die Bewußtseinslagen des Kindes und des sie zurückrufenden Erwachsenen-Ichs mitunter merkwürdig zu überlagern scheinen, macht die besondere Faszination des Textes aus. Welcher Erwachsene hat noch nie in seinem Gedächtnis nach Spuren aus jener frühesten Phase der eigenen Existenz gesucht, die sich der bewußten Erinnerung weitgehend entzieht? Hier werden solche scheinbar authentische Spuren präsentiert. Der "fremde Blick" des Kindes stellt überdies die selbstverständlichen Koordinaten unseres Welt- und Alltagsbewußtseins in Frage und rührt damit an die insgeheimen Unsicherheiten und Zweifel des Lesers, ob denn Realität tatsächlich das ist, was er dafür zu halten gelernt hat. Die narrative Strategie, das "Kind selbst" sprechen zu lassen, appelliert darüber hinaus an menschliche Urinstinkte und ruft eine verstärkte Empathie mit dem Protagonisten hervor. Diese ist vermutlich mitverantwortlich für die "Urteilsunfähigkeit", die Ganzfried den Rezipienten von Wilkomirskis Buch unterstellt.

Fragen wir nun nach der Rezeptionshaltung, den Bildungsvoraussetzungen und den Erwartungen deutscher Leser, um die Bestsellerwirkung der "Bruchstücke" zu erklären: Den Vorwürfen an den Verleger, die Kritiker und die Leser der "Bruchstücke", sie alle seien unkritisch auf eine Fälschung hereingefallen, haben sich mehrere deutsche Journalisten angeschlossen. Der Umstand, daß eine individuelle Überlebensgeschichte leichter zu lesen sei als eine komplexe abstrakte historische Darstellung, und die Neigung deutscher Leser, durch die Identifikation mit den Opfern belastende Fragen nach der Schuld ihrer Vorfahren wegzuschieben, dürften für den Bestsellererfolg der "Bruchstücke" wahrscheinlich mitverantwortlich sein. Im Anschluß an Ganzfried mutmaßte Andreas Breitenstein in der ›Neuen Zürcher Zeitung‹, daß die Demonstration von Betroffenheit und die Bereitschaft, dem pauschalen Verschwörungsvorwurf, den Wilkomirski an die Schweizer Behörden gleichsam stellvertretend für alle, die am Leiden der Lagerkinder eine Mitverantwortung trügen, vorbehaltlos zuzustimmen, der bequemen moralischen Entlastung dienten.(19) "Denkfaul" sei die Kritik und "naiv" die Öffentlichkeit insgesamt, die Wilkomirski erfolgreich düpiert habe. "Schwächen" einer KZ-Erinnerung wie z.B. "das oft übersteigerte Pathos", würde "eine politisch überkorrekte Kritik" kaum zu benennen wagen (ebd.). Diese Art der wohlfeilen Trauerarbeit - "reflexhafte Angerührtheit" - sei, so die Meinung von Jörg Lau, eine besonders subtile Form der Abwehr.(20) Ein "in falscher Pietät erstarrter Kulturbetrieb, der es als Zeichen guten Willens mißversteht, bei einem heiklen Thema nicht so viele Fragen zu stellen," habe Wilkomirski darin unterstützt, "das Andenken der wahren Opfer" zu mißbrauchen.(21) Mit brutalen Geschichten dieser Machart, welche die Unmenschlichkeit der Täter und Mitläufer in die Welt hinausschrien, werde in Deutschland ein blühender "Ablaßhandel" betrieben.(22) "Die statistische Wahrheit hat noch jeden überfordert. Aber solange dem Menschen die Wahrheit noch nicht zumutbar ist, braucht er offenbar solche unwirklichen Geschichten wie die des gepeinigten Kindes Binjamin Wilkomirski" (ebd.).

Die Überlebensgeschichte eines jüdischen Jungen konnte zum Kassenschlager des "Kulturbetriebes" werden, weil sie den Wunsch nach Aufarbeitung der historischen Schuld scheinbar wohlfeiler bedient als historische Darstellungen eines komplizierten Funktionssystems, das auf die völlige Entmenschlichung der Opfer und die radikale Ausschaltung natürlicher Tötungshemmungen bei seinen Erfüllungsgehilfen zielte. Der Umstand, daß ein wehrloses Kind ein Höchstmaß an Brutalität überlebte, mag auf manche Leser so beruhigend wirken wie Märchen, in denen ja auch wunschgemäß die ausgleichende Gerechtigkeit am Ende wieder hergestellt wird. Der Verdacht liegt nahe, daß Angehörige des Kulturbetriebs in der Vermarktung dieser an Dramatik anderen Erzählungen überlegenen Überlebensgeschichte eine kommerzielle Chance sahen. "In fact, all publishers of the book are still supporting Mr. Wilkomirski's account, largely because of assurances from Suhrkamp. So too are groups like the United States Holocaust Memorial Museum and the New York-based Jewish Book Council, which discussed its award for the book at a recent board meeting and decided to take no action and adopt a ›no comment‹ policy."(23)

Damit kommen wir zu den besonderen Rezeptionsbedingungen, welche die Leser dazu disponierten, sich die "Bruchstücke" zu kaufen. Hier offenbart sich ein Dilemma, das bis zu einem gewissen Grade kaum lösbar erscheint. Das Recht der Überlebenden, dem eigenen Leiden und dem der Millionen von Menschen, die nicht überlebt haben, Gehör zu verschaffen, ist unbestreitbar. Ebenso haben die Nachgeborenen das Recht und die Pflicht, sich mit den Ereignissen der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Die Herstellung eines öffentlichen Bewußtseins für diese Geschichte ist jedoch zwangsläufig auch mit kommerziellen Erwägungen von Seiten der Verlage und Redaktionen verknüpft, bei denen eine "Vermarktung" des Holocaust oder eine höhere Stufe der Verdrängung der schwer zu verarbeitenden Fakten durch eine unangemessene Form der Aneignung - nämlich vorschnelle Identifikation mit den Opfern - von vorneherein nicht völlig auszuschließen ist. Umso mehr bedarf es, wie Ganzfried zurecht anmahnt, angesichts des Faktums Auschwitz eines besonderen Verantwortungsbewußtseins, das ein Verschwimmen von Faktizität und Fiktion nicht zuläßt. Zudem wäre eine permanente Selbstreflexion der Leser zu wünschen, die sich über ihre Motive, sich mit den Greuelszenen der "Bruchstücke" auseinanderzusetzen, Rechenschaft geben müßten.

Die Empfänglichkeit und Beeindruckbarkeit heutiger Leser, aber auch ihre Scheu, mit Zeitzeugenberichten nach ähnlichen ästhetischen Kriterien ins Gericht zu gehen wie mit dichterischen Texten anderer Autoren, ist mit den besonderen Entstehungsbedingungen einer Erinnerungs- und Gedenkkultur zu erklären, welche endlich die Defizite der Dialogkultur zwischen der ersten Generation der Täter und Mitläufer und ihren Kindern kompensieren soll. Einige dieser Entstehungsfaktoren möchten wir erwähnen, um zur Diskussion darüber anzuregen, inwiefern das Auftauchen eines Bestsellers wie der "Bruchstücke" denn nach Jörg Lau tatsächlich unvermeidlich gewesen sei.

a.) James E. Young hat den Verfassern und Lesern von Holocaust-Memoirenbüchern die Problematik vor Augen geführt, bei der sprachlichen Rekonstruktion von persönlichen Erinnerungen zwischen facts und fiction zu unterscheiden.(24) Gewachsen ist seitdem die Sensibilität für die Rhetorizität, mithin für die Konstruiertheit von Erinnerungsmanifesten, die den Anspruch der Autoren vermitteln wollen, authentische, einmalige, aber nicht nachvollziehbare Erfahrungen darzulegen. Gabriele Rosenthal und Dan Bar-On haben die Hermeneutik beschrieben, die nötig sei, um den Realitätsgehalt der Erzählungen von Zeitzeugen, die unter einem Trauma leiden, zu eruieren. Dabei haben sie auf die Unschärfe hingewiesen, die für den Analytiker ebenso wie für das Subjekt des Erlebten im Grenzbereich zwischen Erlebtem und Erinnertem waltet.(25) Hayden Whites geschichtstheoretische Beobachtungen sind inzwischen Lektürestoff für historische und auch literaturwissenschaftliche Proseminare.

b.) Die schon älteren Ergebnisse amerikanischer Psychiater und Psychoanalytiker aufgrund ihrer Therapie-Erfahrungen mit traumatisierten Überlebenden der Todeslager sind im Erscheinungsjahr von Wilkomirskis "Bruchstücken" dem deutschen Lesepublikum erstmals in deutscher Sprache präsentiert worden. Unter dem Titel "Kinder der Opfer - Kinder der Täter" werden in den Fallbeschreibungen von Judith und Milton Kestenberg und anderen die Symptome der Überlebenden analysiert und Therapien geschildert.(26) Die Überlebenden der Shoah werden inzwischen auch von israelischen Psychoanalytikern sowie von Keilson und denen, die ihm folgen, als eine Gruppe von Patienten, die in früher Kindheit traumatisiert wurden, neben anderen Gruppen von Kindern und Jugendlichen wahrgenommen, die durch das Miterleben von Terrorakten, in denen Unbeteiligte getötet werden, durch die Beteiligung an Militäreinsätzen oder den täglichen Umgang mit Waffen traumatisch vorbelastet sind(27); eine weitere Gruppe von Opfern eines für sie unfaßbaren Verhaltens, das traumatische Spuren hinterlassen muß, hat in den letzten Jahren die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich gezogen, die der sexuell mißbrauchten Kinder. "Depersonalization" und "post traumatic stress disorder" sind inzwischen gängige klinische Bezeichnungen für typische Defekte dieser Patientengruppe. Die Orientierungsschwierigkeiten des etwa neunjährigen Jungen Binjamin noch mehrere Jahre nach der Befreiung kann auch Laien leicht durch vergleichbare Fälle von "post traumatic stress disorder" plausibel gemacht werden. Das lückenlose Weltbild des Jungen Binjamin, der alle neuen Begebenheiten gemäß dem, was er im Lager gelernt hat, in einen totalen Bedrohungs- und Vernichtungszusammenhang integriert, muß einem Leser, der die psychoanalytischen Neuerscheinungen zum Thema "Holocaust-Opfer" und die Diskussionen in den Medien kennt, geradezu wie ein Lehrbuchfall eines traumatisierten Patienten vorkommen. Wiederum weist die Lückenlosigkeit des Wahnsystems Binjamins, in dem auch noch die Skilifthaken und die Holzgestelle für die Winteräpfel scheinbar schlüssig gedeutet werden, auf die Überbietungsrhetorik hin, die uns typisch für die "Bruchstücke" als spätes Glied in der Kette der jüngsten Holocaust-Memoiren zu sein scheint.

c.) Die jahrelange Diskussion über angemessene Weisen des Gedenkens an die Opfer der Shoah und den Sinn von Monumenten als kollektiven Symbolen ist inzwischen von Zeitzeugen und Historikern kontrovers kommentiert worden. Entsprechend groß ist auch die intellektuelle Unsicherheit bei den Vertretern verschiedener Generationen im Umgang mit den Aussagen und Dokumenten Überlebender. Die Haltung, die die Rezipienten trotz ihrer verschiedenen Ansichten am ehesten miteinander verbindet, ist die der kollektiven Anteilnahme. In diese Phase fiel die Publikation der "Bruchstücke" - und die Resonanz war in dieser Szenerie der Memorialdiskurse nicht wirklich unvermeidbar, vielleicht aber von Verlegern erwünscht und sogar gesteuert.

d.) Die große Beachtung, die Goldhagens Buch "Hitlers willige Vollstrecker" beim deutschen Lesepublikum fand, und die geschichtstheoretische Debatte über die Funktion und den Sinn rhetorischer Mittel, die zur Identifikation mit den Opfern bzw. zur Entrüstung über die "willigen Vollstrecker" einladen, beeinflußten sicher auch die Aufnahmebereitschaft für Wilkomirskis "Bruchstücke".(28) Sander Gilman zog die Bilanz, daß besonders Angehörige der dritten Generation Goldhagens Buch als gültige Darstellung der Geschichte deutscher Verbrechen an den Juden und anderen Minoritäten akzeptiert hätten.(29) Goldhagens Methode ist die des Kulturanthropologen. Er betrachtet "Hitlers willige Vollstrecker" aus der Perspektive der Opfer und stellt eben die Fragen nach dem Grund für sinnlose Grausamkeit, die auch viele Überlebende der Shoah in ihren Erinnerungsberichten variieren. Goldhagen interessiert sich weniger für das, was geschehen ist, da es ohnehin ausreichend erforscht sei, als vielmehr für die mentalen Bedingungen, unter denen sich Deutsche dazu entschlossen, mitzumachen und Unschuldige zu quälen, sowie dafür, wie diese Greueltaten von anderen wahrgenommen wurden. Er verlagerte die Aufmerksamkeit von den wichtigsten politischen Entscheidungsträgern des Nazi-Terrors auf die Mentalitäten Tausender, auf deren Vorhandensein als Ergebnis einer langfristigen Konditionierung nur ex post geschlossen werden könne. Wer seine Rekonstruktion von Mentalitäten im Sinne von Wertungs- und Handlungsstereotypen, die durch den Antisemitismus langfristig konditioniert worden seien, als historische Erklärung für eine Disposition Tausender zum Genozid akzeptiert, wird auch dazu motiviert sein, Wilkomirskis "Erinnerungsbruchstücke" als legitime, glaubwürdige Perspektive eines traumatisierten Opfers auf die Vernichtungslogik des "univers concentrationnaire" (D. Rousset) zu lesen.

3.) Wie ist es möglich, daß auch Wissenschaftler Wilkomirskis Buch als authentisches Zeugnis ernst nahmen, obwohl der Text historische Ungereimtheiten enthält?

Wissenschaftliche Stellungnahmen zu Wilkomirskis Text wurden in der Mediendiskussion nicht eigens berücksichtigt. Die Frage ist, ob das pauschale Bild des leichtgläubigen, mitleidssüchtigen und historisch ungebildeten deutschen Wilkomirski-Lesers, das einige Journalisten im Anschluß an Ganzfried entwarfen, auch auf eine akademisch gebildete Leserschaft oder gar auf wissenschaftliche Leser zutrifft. Die Literaturwissenschaftlerin Ruth Klüger, die mit den Methoden der Diskursanalyse und Dekonstruktion von Texten vertraut ist, nimmt die Leser in Schutz, denen keine Zweifel an der Authentizität von Wilkomirskis Buch gekommen seien. "Der Grund jedoch, warum so viele Leser, die von den "Bruchstücken" beeindruckt waren, sich jetzt fragen, wo sie ihren kritischen Verstand hingetan hatten, ist der, daß wir mit vollem Recht ein Buch anders lesen, das wir als Geschichte betrachten, als eines, das uns als Fiktion vorgesetzt wird."(30) Die Annahme, daß man einen autobiographischen Text vor sich habe, führt tatsächlich zu einem anderen ästhetischen Werturteil als das Wissen, ein Autor habe aufgrund seiner historischen Recherchen einen zeitgeschichtlichen Roman geschrieben, oder gar die Anschuldigung, dieser Autor habe sich den Status des Zeitzeugen nur angemaßt. Zum "autobiographische[n] Pakt" gehört die Versicherung, daß der Autor zugleich der Ich-Erzähler und daß das in der ersten Person Geschilderte mit dem Erleben des Autors identisch sei.(31) Nun gibt es aber in der Tradition der Autobiographie bestimmte Wendungen und Sprechakte, in denen der "autobiographische Pakt" den Lesern angetragen wird. Der Autor der "Bruchstücke" erklärt zum Beispiel im ersten Kapitel, er sei kein Dichter, sondern versuche lediglich, "mit Worten das Erlebte, das Gesehene so exakt wie möglich abzuzeichnen - so genau, wie es eben mein Kindheitsgedächtnis aufbewahrt hat".(32) Damit wehrt der Autor den Verdacht ab, seine mit so vielen zuvor nie geschilderten Details angereicherte Geschichte sei etwa eine Erfindung oder Übertreibung. In einem Nachwort, zu dem der Suhrkamp-Verlag Wilkomirski aufgrund von Bedenken gegenüber seiner Glaubwürdigkeit als vermeintlichen Zeitzeugen genötigt hatte, bekräftigte dieser, daß er aufgrund eigener Recherchen und Reisen zu den möglichen Stätten seiner Kindheit allmählich die Bilder in seinem Gedächtnis habe konkreten Schauplätzen zuordnen und seine Kindheitseindrücke in einen historisch verbürgten Kausalzusammenhang einbetten können. Sein Dank gelte all jenen, die ihm auf diese Weise zu einer realen Bestätigung seiner Identität als jüdisches Lagerkind verholfen hätten.(33)

Eine Prüfung der Echtheit der Geschichte Binjamins, die der Suhrkamp-Verlag bei Forschern in Yad Vashem vor der Veröffentlichung in Auftrag gegeben hatte, habe außerdem die Zweifel an der Glaubwürdigkeit Wilkomirskis ausgeräumt.(34) Was haben literaturwissenschaftlich und historisch geschulte Leser auf die Vorwürfe zu entgegnen, sie wenigstens hätten doch die ästhetischen Mängel, Wilkomirskis Strategie der Überwältigungsrhetorik, die kausalen Ungereimtheiten, ja die groben historischen Unstimmigkeiten registrieren müssen, auf die Ganzfried und besonders Raul Hilberg hinwiesen? Unter der Voraussetzung, daß die "Bruchstücke" tatsächlich den Aufschreibe-Akt eines durch die Brutalität des Lageralltags in früher Kindheit schwer traumatisierten Zeitzeugen wiedergäben, lassen sich etwaige Ungereimtheiten, Stilbrüche, Zeitsprünge, Rückfälle in der Ich-Entwicklung und scheinbare Geschmacklosigkeiten einfach erklären. Gehen sie nicht alle auf das Konto eines dissoziierten, in seiner Entwicklung gestörten Ichs, sind sie nicht psychologisch aus der verständlichen Not des Autors, sich mitzuteilen und seine Gedächtnisinhalte in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen, entschuldbar? Wieso hätte jemand - ein deutscher Leser gar - an jener Voraussetzung von sich aus Zweifel anmelden sollen? Daß sie Raul Hilberg kommen(35), spricht für seine Gewissenhaftigkeit als Historiker, der im Lichte seiner Quellenkenntnis die Wahrscheinlichkeit der erinnerten Kindheitsszenen prüfen muß.

Wenn denn die Voraussetzung stimmte, daß die Bruchstücke Fiktion wären, oder wenn es sich gar um eine gefälschte Biographie des Autors handelte, wären literarisch gebildete Leser sogleich bereit, nach stilistischen und rhetorischen Indizien zu suchen, die dafür zu sprechen scheinen. Dabei würden einige vielleicht wie Ganzfried oder Saner zum Schluß kommen, daß das Buch schlecht geschrieben, geschmacklos erzählt und voller Stereotypen sei, die eben ein gebildeter Leser 1995 von einer "guten Holocaust-Geschichte" erwarten konnte. Andere würden hingegen vielleicht Doessekker attestieren, mit besonders raffinierten literarischen Mitteln den Anschein von Authentizität erweckt zu haben, und deswegen den hohen ästhetischen Wert seines Buches weiterhin verteidigen. Erst wenn sich der Vorwurf der Fiktionalität oder gar die Anschuldigung der Geschichtsklitterung als stichhaltig erwiesen hätte, wäre es die Aufgabe der Literaturwissenschaftler, aufgrund einer Stilanalyse die rhetorischen Strategien aufzudecken, die dazu geführt haben, daß so viele Leser der Darstellung Glauben schenkten.

Im Falle eines Vorwurfs, ein Gemälde, das Rembrandt zugeschrieben werde, sei in Wirklichkeit eine Fälschung, werden gewöhnlich Kunsthistoriker mit einer Expertise beauftragt, aufgrund einer minutiösen Stilanalyse und des Vergleichs mit authentischen Rembrandt-Gemälden den Echtheits- oder Falschheitsbeweis zu führen. Liegt der mutmaßliche Fälschungsakt weit genug zurück und fehlen historische Quellen, die über den wahren Maler des Bildes und dessen Entstehungs- und Wirkungsgeschichte Auskunft geben können, wird man die Stilanalyse von Experten zur hauptsächlichen Basis des Urteils über die in Frage stehende Authentizität machen. Niemand käme indes auf die Idee, einem durchschnittlich gebildeten europäischen Museumsbesucher vorzuwerfen, er hätte es doch merken müssen, daß aufgrund der Farbe, der Linienführung, der Komposition, des gewählten Sujets etc. ein bestimmtes Gemälde unmöglich von Rembrandt stammen könne, obwohl es noch im Katalog als solches ausgegeben sei.

Mit anderen Worten, Ganzfried überfordert die Leser der "Bruchstücke", nicht nur diejenigen, die in ihrer Freizeit zum Zweck der historischen Weiterbildung oder zur Unterhaltung lesen, sondern auch professionelle Literaturwissenschaftler. Der Appell an die "Zivilcourage" der Leser und Kritiker geht in die falsche Richtung. Ganzfried kann doch nicht im Ernst von deutschen Lesern verlangen, den Beteuerungen Wilkomirskis zu Anfang und zu Ende der "Bruchstücke" allein aufgrund von Stilkriterien und Indizien für historische Ungereimtheiten zu mißtrauen und den Suhrkamp-Verlag alsbald zu verdächtigen, er sei wohl einer groben Fälschung aufgesessen oder habe diesen Text ohne gründliche Prüfung als bestsellerverdächtiges Buch auf den Markt bringen wollen. Die mögliche Reaktion auf eine derartige Entlarvung und Autor-Schelte, die sich nach Ganzfried ein mißtrauischer deutscher Leser mit Zivilcourage hätte anmaßen sollen, läßt sich leicht vorhersehen, wenn man die vielsagende Erklärung des Filmproduzenten Eric Bergkraut vom 10. September 1998 liest, daß fatalerweise "in deutschen Zeitungen [...] Wilkomirskis gefälschte Auschwitz-Biographie bereits als Fakt gemeldet" werde.(36)

Literaturwissenschaftler werden sich also erst dann zu einer stilkritischen Expertise bereit erklären, wenn sich die Zweifel an der Authentizität verdichten und sie von Historikern den Auftrag dazu erhalten. Solange Wilkomirski aber noch unwidersprochen als Zeitzeuge auftrat und sich als schwer traumatisiertes Opfer vorstellte, geboten es die oben skizzierten Regeln für Respekt und Taktgefühl gegenüber den Zeitzeugen deutschen Lesern, den vom Autor angebotenen autobiographischen Pakt einzugehen und den individuellen Darstellungswillen, in dem sich Spätfolgen des Holocaust-Traumas zeigen, zu respektieren.

Anmerkungen:

1. Daniel Ganzfried, Die geliehene Holocaust-Biographie, in: Die Weltwoche Nr. 35, 27. Sept. 1998, S. 45f..

2. Eines der zwei Referate wurde inzwischen zurückgezogen, das andere wurde für den Druck so geändert, daß die Analyse der "Bruchstücke" darin nicht mehr vorkommt.

3. S. Anm. 1 und unten, Anm. 9.

4. Hans Keilson, Sequentielle Traumatisierung bei Kindern. Stuttgart 1979.

5. Wilkomirski hat, Zeitungsberichten zufolge, u.a. im November 1997 auf einem Kongreß über Holocaust-Traumata in Wien zusammen mit dem israelischen Psychologen Elibur Bernstein über ein Therapiekonzept referiert, das darauf abziele, die belastenden und daher verdrängten Erinnerungen an die schrecklichen Orte der Kindheit wieder zurückzugewinnen. Vgl. Jörg Lau, Ein fast perfekter Schmerz. Die Affäre um Binjamin Wilkomirski zieht weitere Kreise. In: DIE ZEIT, Nr. 39, 17. Sept. 1998, S. 66; Ganzfried, Die geliehene Holocaust-Biographie, S. 45; ähnlich Nea Weissberg-Bob, Auschwitz als Phantasieland. Die Lust, Opfer zu sein: Der "Fall Wilkomirski". In: Allgem. Jüdische Wochenzeitung, 53. Jg., Nr. 19, 17. Sept. 1998, S. 6.

6. Dieser vernünftige Appell, neben den individuellen Zeugnissen, die zur Empathie einlüden, die ausführlichen historischen Darstellungen von Raul Hilberg und anderen nicht zu vergessen, wurde auch in der publizistischen Kontroverse im Anschluß an Ganzfrieds Darstellungen in der ›Weltwoche‹ wiederholt formuliert. Mehrere Journalisten äußerten den Vorwurf, viele Leser zumal in Deutschland, seien rasch zu einer völligen Identifikation mit dem Opfer bereit, schwelgten in Mitleidsbekundungen, seien aber unfähig oder unwillig zu einem differenzierten, kritischen historischen Urteil. Es sei allemal bequemer, eine persönliche Leidensgeschichte zu lesen, als sich mit abstrakten Statistiken und dem umfangreichen Quellenmaterial der Historiker auseinanderzusetzen. Vgl. Volkhard Knigge, Heute weiß man, was eine gute Holocaust-Geschichte ausmacht. In: Die Weltwoche, Nr. 36, 17. Sept. 1998; Ein Trauerarbeitsunfall, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 203, 4. Sept. 1998, S. 13, Andreas Breitenstein, Auschwitz als Therapie? Wie Binjamin Wilkomirski zu sich selber fand, in: Neue Züricher Zeitung, Nr. 208, 9. Sept. 1998, S. 33; Ruth Klüger, Kitsch ist immer plausibel. Was man aus den erfundenen Erinnerungen des Binjamin Wilkomirski lernen kann, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 225, 30. September 1998, S. 17; Lau, Ein fast perfekter Schmerz, S. 66; zur "Leserschelte" s. Epilog.

7. Barbara Bauer/ Waltraud Strickhausen (Hg.): "Für ein Kind war das anders." Literarische und künstlerische Repräsentationsformen traumatischer Kindheitserfahrungen im nationalsozialistischen Terrorsystem. Akten der internationalen Tagung in Marburg 1997. Berlin: Metropol 1999 (im Druck).

8. Erschienen im Rotpunktverlag Zürich 1995; als Taschenbuch bei Fischer Frankfurt a.M. 1998.

9. Ganzfried, Die geliehene Holocaust-Biographie; ders., Fakten gegen Erinnerung. Der Fall Wilkomirski zieht Kreise. Eine zweite Klärung der Tatsachen. In: Die Weltwoche Nr. 36, 3. Sept. 1998; ders., Bruchstücke und Scherbenhaufen. Warum eigentlich bleiben im Fall Wilkomirski Verlag, Behörden und Lehrerschaft so passiv? In: Die Weltwoche 39, 24. Sept. 1998.

10. Ganzfried, Fakten gegen Erinnerung. Der Fall Wilkomirski zieht Kreise. Eine zweite Klärung der Tatsachen. In: Die Weltwoche Nr. 36 (1998),

11. Ebd.

12. Eric Bergkraut, Der andern Hypothese eine Chance. Zur Debatte um Binjamin Wilkomirski: ein Vorschlag zur Differenzierung. In: Die Weltwoche Nr. 37, 10. Sept. 1998.

13. Hans Saner, Wilkomirskis Wahl. In: Die Weltwoche Nr. 40, 1. Oktober 1998.

14. Jean Picard, Recht haben genügt nicht. In: Tages-Anzeiger (Zürich) vom 7. Okt. 1998, S. 61.

15. Bergkraut, Der andern Hypothese eine Chance; Hans Saner, Wilkomirskis Wahl. In: Die Weltwoche Nr. 40, 1. Okt. 1998; Picard, Recht haben genügt nicht; Lorenz Jäger, Hystorie. Wilkomirskis Erinnerung, Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 207, 7. Sept. 1998, S. 45; Klüger, Kitsch ist immer plausibel. Was man aus den erfundenen Erinnerungen des Binjamin Wilkomirski lernen kann. In: Süddeutsche Zeitung Nr. 225, 30. Sept. 1998, S. 17.

16. Julius Schoeps, Der Holocaust als Sprungbrett zum Ruhm. Zum Fall Wilkomirski: Opferphantasien verdrängen die Frage nach den wirklichen Opfern, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 252, 30. Okt. 1998, S. 43.

17. Nea Weissberg-Bob, Auschwitz als Phantasialand. Die Lust, Opfer zu sein: Der "Fall Wilkomirski". In: Allgem. Jüdische Wochenzeitung, 53. Jg., Nr. 19, 17. Sept. 1998, S. 6. Auch Picard wertet das Phänomen der "Bruchstücke" als Zeichen dafür, daß "die Shoah zur Metapher persönlicher Verlustängste wird." Jean Picard, Recht haben allein genügt nicht.

18. Volkhard Knigge, Heute weiß man, was eine gute Holocaust-Geschichte ausmacht. In: Die Weltwoche, Nr. 36, 17. Sept. 1998.

19. Vgl. Andreas Breitenstein in Neue Züricher Zeitung, Nr. 208, 9. September 1988, S. 33.

20. Jörg Lau, Ein fast perfekter Schmerz. In: DIE ZEIT Nr. 39, 17. Sept. 1998, S. 66.

21. Jörg Lau, Lebensroman. Vom Wunsch, ein Opfer zu sein: Der Fall Wilkomirski. In: DIE ZEIT, Nr. 38, 10. Sept. 1998.

22. Ein Trauerarbeitsunfall, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 203, 4. Sept. 1998, S. 13.

23. Doreen Carvajal, A Holocaust Memoir in Doubt. Swiss Records Contradict a Book on Childhood Horror. In: New York Times, 3. Nov. 1998 (The Arts E 1).

24. White, Beschreiben des Holocaust, bes. S. 18 und 36.

25. Gabriele Rosenthal, Erlebte und erzählte Lebensgeschichte. Frankfurt a. M. 1995; Dan Bar-On, Hoffnung bis zu den Enkeln des Holocaust. Hamburg 1997, S. 27-65.

26. Martin S. Bergmann/Milton E. Jucovy/Judith S. Kestenberg (Hgg.), Kinder der Opfer - Kinder der Täter. Psychoanalyse und Holocaust. Frankfurt a. M.: Fischer 1995.

27. Roberta J. Apfel/Bennett Simon (Hgg.), Minefields in their Hearts. The Mental Health of Children in War, and Communal Violence. Yale University 1996.

28. Daniel Jonah Goldhagen: Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust. Berlin 1996; zur Goldhagen-Diskussion vgl. Jürgen Habermas: Geschichte ist ein Teil von uns. Warum ein "Demokratiepreis" für Daniel J. Goldhagen? In: DIE ZEIT Nr. 12, 14. März 1997, S. 13; zum Zusammenhang zwischen Goldhagens Geschichtsinterpretation und der Sicht der jüdischen Überlebenden s. Barbara Bauer, Drama-Märchen-Gleichnis-Parabel. Wie Kinder den Holocaust erlebten und wie sie ihre Erfahrungen als Erwachsene darstellten. In: Viktoria Hertling (Hg.), Mit den Augen eines Kindes - Children in the Holocaust, Children in Exile, Children under Fascism. Amsterdam 1998 (Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur, S. 51-85.

29. Sander Gilman, Dem Andenken halberinnerter Erinnerungen. Zweierlei Vergangenheit: Deutsche und israelische Ansichten vom Holocaust nach Moshe Zuckermann. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23. Okt. 1998, S. 47.

30. Klüger, Kitsch ist immer plausibel, S. 17.

31. Philippe Lejeune, Der autobiographische Pakt. Aus dem Französischen von Wolfram Bayer und Dieter Hornig. Frankfurt a. M. 1994, S. 14f.

32. Wilkomirski, Bruchstücke, S. 8.

33. Ebd., S. 143.

34. Diese Information des Suhrkamp-Verlags wurde in der Sendung von Simone Bucher in 3SAT (17. Oktober 1998) zitiert.

35. Zitiert von Jörg Lau, Ein fast perfekter Schmerz, DIE ZEIT, Nr. 39, 17. Sept. 1998, S. 66.

36. Eric Bergkraut: Der andern Hypothese eine Chance. Zur Debatte um Binjamin Wilkomirski: ein Vorschlag zur Differenzierung. In: Die Weltwoche Nr. 37, 10. Sept. 1998.

Titelbild

Binjamin Wilkomirski: Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939-1948.
Jüdischer Verlag, Frankfurt 1995.
150 Seiten, 16,40 EUR.
ISBN-10: 3633541004

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