Von weltliterarischem Rang

Das Œuvre des diesjährigen Literaturnobelpreisträgers Imre Kertész

Von Barbara Mahlmann-BauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Barbara Mahlmann-Bauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Imre Kertész hat für sein Œuvre den Literaturnobelpreis erhalten, weil er die Erfahrungen des Einzelnen im Totalitarismus auf neuartige Weise und mit abgründigem Tiefsinn in Literatur überführt hat. Die theoretischen Erörterungen über die Vergleichbarkeit von faschistischem, nationalsozialistischem und sowjetisch-kommunistischem Totalitarismus verblassen (da sie meist nicht durch eigenes Erleben imprägniert sind) vor dem Zeugnis eines Schriftstellers, der in der post-stalinistischen Erstarrung Ungarns nach den Wirren von 1956 das unreflektierte, unermüdliche Weiterwirken des totalitären Willens zu Nivellierung und Auslöschung sieht, der schon im Mythos Auschwitz zu sich selbst gekommen sei. Kertész' Figuren sind Brüder von Kafkas K., die sich als willenlose Rädchen in den Mühlen einer anonymen Maschinerie treiben lassen und sich dabei verausgaben, um auf den Grund ihres Hier- und So-Seins zu gelangen. Ein Unterschied zu Kafkas Figuren fällt allerdings auf und gibt Adornos Urteil über die Modernität von Kafka recht. Kafka imaginierte bloß die Welt, in der einen Prozess zu führen vergeblich wäre, weil der Angeklagte nur seinem eigenen Urteil entgegenliefe, und in der ein Schloss, von dem die Macht ausgeht, unerreichbar erschiene. Real war diese Welt noch nicht. Adorno bewunderte in Kafkas Romanen gerade seine hellsichtige Vorwegnahme des nationalsozialistischen Unterdrückungssystems mit seiner perfekten Mordmaschinerie. Kertész, der fünf Jahre nach Kafkas Tod geboren wurde, kann gar nicht anders als Kafkas phantastische Welt mit den eigenen Erfahrungen auszustaffieren, die ihm freilich so fremd vorkommen wie die Obsessionen von K. Dass ein Schrifsteller wie Kafka an seinem Werk leidet, seine Figuren widerlich findet, weil sie alle nur den Leidensweg zum notwendig erfolgenden Tod repräsentieren, ist Kertész aus eigener Erfahrung wohlbekannt. Über diesen Leidensprozess gibt Kertész im "Galeerentagebuch" Auskunft: Kafka "arbeitet gegen sich selbst, wie jeder wahre Künstler. In der Verdinglichung - die nichts anderes ist als die evidente Form, d. h. die sich im Werk manifestierende Freiheit - erblickt der Künstler sich selbst als ein aus purer Notwendigkeit hervorgegangenes Phänomen, ein Phänomen, das sich als Essenz der Gesetzmäßigkeit des historischen Weltaugenblicks erweist: dies sind die beiden K. s, der im ,Schloss' und der im ,Prozess', die beiden K. s, die Kafka anwidern, die er jedoch aus sich selbst herauskristallisiert hat [...]."

Von weltliterarischem Rang

Von Albert Camus und Sartre über Dostojewski und Nietzsche reicht Kertész' existentialistisch-skeptizistische Ahnenkette zurück zu Montaigne und Pascal. Sie kommen ihm wie gerufen als natürliche Zeugen dafür, dass sich der moderne Schriftsteller und Künstler als Moralist lächerlich machen würde. Die Unabhängigkeit des Moralisten, der sich durch Lektüre ein eigenes Urteil über die Welt bildet und seine Unparteilichkeit betont, hält Kertész für eine Illusion. Ein solcher Moralist würde geschwind, so fürchtet er, als engagierter Intellektueller vom totalitären System, als Rädchen im Kulturbetrieb, vereinnahmt werden. Der Glaube einiger Aufklärer an die Vervollkommnung der Menschheit und den Sieg der Vernunft dünkt ihm ein Ausrutscher in der Geschichte der Menschheit zu sein, welche dem Überlebenden von Auschwitz und Buchenwald ebendort ihr Wesen in dem Willen zur Vernichtung der Natur und der Menschheit offenbart habe. Der Normalfall ist im 20. Jahrhundert der, den Kertész als Jugendlicher erlebt hat, als er nach Auschwitz deportiert wurde. Die Erfahrung, dass eine höhere Macht mit ihm einen Plan verfolgte, der auf seine Vernichtung zielte und ihm genau im Augenblick seiner Ausführung bekannt wurde, wiederholte sich, als der Jugendliche 1945 nach Budapest zurückkehrte und sich in der kommunistischen Gesellschaft einzurichten versuchte. Das Leben nimmt keine Rücksicht auf sein Auschwitz-Trauma, aber die Auschwitz-Erfahrungen machen ihn gewitzt, so dass er versteht, dass die neuen Machthaber es darauf abgesehen haben, die Bildung eines eigenen Urteils und die Planung eigenen Lebens zu verhindern. Kertész wünscht sich im "Galeerentagebuch", aus diesem lebensunwerten Alltagsleben auszusteigen, um, entrückt wie ein Mystiker, eine Ahnung vom wahren Leben zu erhalten. Wäre das ein Leben, in dem Liebe und Vertrauen erstrebenswert wären? Einzelne plötzliche Ausblicke auf ein anderes Leben jenseits des katastrophalen Alltags, in dem das Ich bewusstlos-tierhaft um das eigene Überleben kämpft, offenbaren sich Kertész freilich nur in der negativen Theologie der mittelalterlichen Mystiker. Um zu erfahren, wie ein anderes Leben beschaffen sein könnte, muss er sich durch Musik und Literatur in einen Rauschzustand versetzen lassen. Einen Vorgeschmack auf den anderen Zustand gaben dem zwanzigjährigen Journalisten Wagners "Walküre" und Thomas Manns Bücher. Dies erfahren wir aus der Erzählung "Die englische Flagge".

Kertész' Romanfiguren verschwimmen mit dem Außenraum, in dem sie sich treiben lassen. Oder ist ihre Umgebung - in "Fiasko" trostlose zugige Plätze, Ruinen und Abfall, Redaktionsstuben hinter zweifach gepolsterten Türen und riesige Treppenhäuser, Kellerlokale, in denen Ersatznahrung und Ersatzmusik ausgegeben wird - lediglich das Phantasieprodukt seiner Figuren, die aus Budapest ausbrechen und doch dort, in der neu empfundenen Fremde, wieder landen? Der zwanzigjährige Journalist (der Held in "Die englische Flagge") bewegt sich selbstverständlich in seiner feindseligen Budapester Umgebung, in der er sich auskennt und wo er seinen Rausschmiss, die Kündigung, als das Normale erwartet. Die Erinnerungen des sechzigjährigen an seine journalistische Vergangenheit der Jahre vor 1956 haben die Objektivität eines Kamerablicks, obwohl die Bilder, die er seinen zwanzig Jahre jüngeren Zuhörern aus dem Gedächtnis reproduziert, die subjektivsten, d. h. unerheblichsten, am wenigsten repräsentativen Eindrücke vom Revolutionsjahr 1956 sind. Kertész' Monologe wechseln ununterscheidbar zwischen völliger Ichversenkung, bei der schon der eigene Körper das unverständlich fremde vor sich hin verwesende Fleisch ist, und völliger Exterritorialisierung, Verflüchtigung des Ichs. Die Kulturstadt Weimar, Buchenwald benachbart, wandelt sich im "Spurensucher" dem Besucher, der einem Auftrag zufolge Buchenwald und das Fabrikgelände Zeitz vergeblich nach Spuren seiner Erinnerungen abgesucht hat, zum apokalyptischen Schauplatz, zu dem ein Mann mit dem Schnauzbart Nietzsches sich als Führer erweist. Ein Jüngstes Gericht findet jedoch nicht statt, denn alle sind zum Untergang vorherbestimmt. Dieses Schreckensbild wird aber als Vision des Überlebenden von Buchenwald kenntlich gemacht, aus der er sich nur durch Flucht retten kann. Es ist die drohende Auslöschung der eigenen Erinnerungen, die Kertész als Apokalypse der Opfer, Täter und Mitläufer auf den provozierend spurenfreien Schauplätzen in Weimar und Buchenwald veranschaulicht.

Kertész beerbt mit einem einzigen, ungeheuren Thema - dem Auschwitz-Mythos - große europäische Erzähltraditionen, eine westliche, die wir mit den Namen von Joyce, Proust, Camus verbinden, sowie eine östliche, für die Dostojewski steht, und hält als Übersetzer und Romancier überdies der reichen kakanischen Erzähltradition die Treue. Der ,Mann ohne Eigenschaften' wird als ungarischer Jugendlicher, der in Auschwitz entdeckt, dass eine perfekte Vernichtungsmaschinerie nur auf sein Eintreffen gewartet habe, vom Kopf auf die Füße gestellt. György Köves alias Steinig, Felsen und Sisyphos setzen in "Fiasko" die somnambülen Zustände von Pasenow, Esch, Bertrand, Hanna Wendling und dem verschütteten Schützengrabenopfer Gödecke in einer Zeit fort, die Hermann Broch in seiner "Schlafwandler"-Trilogie nur ahnen konnte. Ins Unerträgliche gesteigert sind Ohnmacht und Willenlosigkeit der Figuren von Kertész, und diese Charaktereigenschaften werden im stalinistischen und post-stalinistischen Totalitarismus Ungarns konditioniert. Die Musik Richard Wagners eröffnete dem Erzähler in "Die englische Flagge" einen Ausweg in den Sinne und Geist erfassenden Rausch, den er Jahre später in Thomas Manns Erzählung "Wälsungenblut" genau so geschildert findet, als wäre sie einzig für ihn geschrieben. Kertész lebte in der Musik Wagners, Neuerscheinungen von Thomas Mann begleiteten ihn auf seinen journalistischen Wegen. Er denkt in den Quartensprüngen der ersten Kammersymphonie Schönbergs und schreibt nach einer Poetik, die er zum einen in der befreienden Atonalität der zweiten Wiener Schule und noch rigoroser, unerbittlicher in Schönbergs Reihentechnik vorgebildet sieht. Musikalisch ist das Prinzip von Wiederholung und Variation, das dem Leben seiner Romanfiguren und den Erzählungen ihres Autors zugrundeliegt. Darin ist Kertész ein Verwandter Thomas Bernhards, den er übersetzt hat. Nur: an welch nichtigen Themen der österreichischen Nachkriegsmisere arbeitet sich der musikalische Geist Bernhards ab im Vergleich mit Kertész, dem sich in Auschwitz und Buchenwald das musikalische Strukturgesetz enthüllt hat, nach dem unbegreiflich mächtige Spieler individuelle Schicksale wie Steine auf einem Spielbrett hin- und herschieben. Dies absurde Strukturgesetz der Weltgeschichte gelte es auch als Struktur des Erzählens wiederzugeben. Daher begreift Kertész seine Rettung nicht als Resultat eines heroischen Überlebenskampfes, sondern ist überzeugt, dass Gefangennahme und Rettung, Lebensbedrohung und Überleben dieselbe Reihe variieren. Der Erzähler appliziert im "Roman eines Schicksallosen" also Schönbergs Methode, ein und dieselbe vorgegebene Reihe in vielen, aber abzählbaren Variationen nach dem Muster von Krebs, Umkehrung und Krebs der Umkehrung zu wiederholen, auf seinen Stoff:

"So wird der Akt der Rettung strukturell gesehen ebenso zur Absurdität wie der Akt der Gefangennahme und der Einlieferung ins KZ und ist als solcher, musikalisch gesprochen, nichts weiter als ein Krebsgang der Reihe, jedoch (bzw. also) im wesentlichen aus dem gleichen Stoff."

So zu schreiben wie Kertész wurde erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts möglich. Er beerbt europäische Erzähltraditionen und kämpft damit, sie sich so anzuverwandeln, d. h. hinter sich zu lassen, da seine Erfahrungen, die er im Rückblick kopfschüttelnd immer wieder als die eines anderen - eines bloßen Ersatzteils in einer seelenlosen Maschinerie - apostrophiert, zum literarischen Zeugnis gerinnen.

Vergleichen wir: Die Bedingungen der Möglichkeit der nationalsozialistischen Regression wurden in Romanen freigelegt, die für die nach 1945 Geborenen längst klassischen Rang haben. Franz Kafka hat in seinen Romanen die reale Vernichtung des Indivduums im totalitären Staat antizipiert. Robert Musils "Mann ohne Eigenschaften" repräsentiert das dekadente Schicksal des kakanischen Vielvölkerstaats vor 1918 schon nach Ansicht der Zeitgenossen und erst recht der nach 1945 Geborenen auf unvergessliche Weise. Hermann Brochs "Schlafwandler"-Trilogie zeigt die Relativierung, Aufsplitterung und den Zerfall christlich-abendländischer Werte vor 1933 paradigmatisch auf. Elias Canettis Roman "Die Blendung" legt in einer Kaskade absurder Dialoge, in denen inkompatible Wahnbilder zum Scheitern von Verständigung führen, die Wurzeln des autoritären Charakters und paranoiden Machthabers frei. Thomas Manns "Doktor Faustus" leitet die unheimliche Nachbarschaft von sublimster Musikkultur und regressiver Barbarei aus der Geschichte deutschen Geistes seit der Reformation ab und erklärt sie zum Schlüssel für das Verständnis der Deutschen und ihres "Bruder Hitler".

Literatur, die Auschwitz zur Signatur des 20. Jahrhunderts erklärt und im Massenmord an den europäischen Juden das offenbarte Wesen des Antisemitismus erkennt, entstand jedoch erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sie stammt von Zeitzeugen des Naziterrors und übertrifft kraft der poetischen Mimesis die vorhandenen Werke der Geschichtsschreibung an analytischer Schärfe. Die Schriftsteller, die bereits im Zenit ihrer Lebenszeit um die Darstellung ihrer Erinnerungen rangen, sind in der Hoffnung auf Katharsis durch Erinnerung an solcher Schärfe zugrunde gegangen: Tadeusz Borowski, Paul Celan, Jean Améry und Primo Levi. Bei denen, die als Kinder und Jugendliche Augenzeugen des Massenmords wurden und die Vernichtungslager überlebten, dauerte es länger, bis aus ihren traumatischen Erinnerungen Literatur wurde. Notgedrungen: Denn die Sehnsucht nach all dem, was in ihrer Sozialisation gefehlt hatte und worum sie betrogen worden waren - Bildung, Liebe, Familie und Weltkenntnis -, schob belastende Erinnerungen beiseite. Die Gefühle der Ohnmacht, Geringfügigkeit, des Überflüssig-Seins blieben als jüdische Kollektiverinnerung jedoch unauslöschlich. Sie verstärkten sich nach dem Zeugnis von Kertész im Alltag des bolschewistischen Totalitarismus. Dass eine unerreichbare, unfassbare Partei die inviduelle Karriere maßregelt, Konformismus erzwingt und selbständiges Planen und Handeln unterbindet, entsprach für den aus Buchenwald Heimkehrenden lückenlos der vertrauten Erfahrung, dass es Mächte gebe, die es auf die Auslöschung jüdischer Kinder und Jugendlicher abgesehen hätten. Aber sein Überleben verdankt Kertész, wie er 1989 unter dem Eindruck der Wende-Ereignisse aus Budapest schreibt, just dieser ungarischen "Gesellschaft". Sie bewies ihm, "dass von Freiheit, Befreiung, großer Katharsis usw., von allem also, wovon die Intellektuellen, die Denker und die Philosophen in glücklicheren Weltgegenden nicht nur redeten, sondern woran sie offenkundig auch glaubten, überhaupt nicht die Rede sein konnte. Diese Gesellschaft garantierte mir die Fortsetzung des Lebens in Knechtschaft und sorgte so dafür, dass viele Irrtümer gar nicht erst möglich wurden." Borowski, Celan, Levi und Améry dagegen, die in "freien Gesellschaften" lebten, unterlagen der erst dort erzeugten Illusion der Freiheit.

Wie aus der Auschwitz-Erfahrung Weltliteratur wird.

Das "Galeerentagebuch" gibt Auskunft

Wie kann nur unter den trostlosen Bedingungen einer von sowjet-hörigen Parteikommunisten unterjochten und fremdbestimmten Gesellschaft anderes als ideologisch wohlfeile Tendenzliteratur entstehen? Wie kann ein Schriftsteller, dessen erstes Werk, ein Auschwitz-Roman, 1973 von einem ungarischen Verlag abgelehnt wurde, unbeirrt weiterschreiben, ohne zu zerbrechen, ohne sich resigniert anzupassen, ohne in die öffentliche Rolle eines oppositionellen Intellektuellen zu schlüpfen? Woher hatte er die Kraft, sich allein auf sein Werk zu konzentrieren, dies als notwendige Lebensäußerung anzuerkennen, obwohl ihm die Anerkennung durch den Literaturmarkt in Ungarn versagt blieb? Unter dem Datum vom 25. Oktober 1986, wenige Monate nach Vollendung seines zweiten Romans "Fiasko", erinnert sich Kertész im "Galeerentagebuch" an die "Erkenntnis, die beglückende Erkenntnis, daß mein Tun demnach von irgendeiner Notwendigkeit geleitet wird. So trennt sich die Kunst von der Ästhetik. Denn was habe ich mit der Literatur und mit literarischen Ansichten zu tun, wenn zum Beispiel ,Das Fiasko' so in mir gewachsen ist, sich so entwickelt und von mir abgetrennt hat, wie das die Frucht einer Pflanze tut. Ob sie anschließend eingesammelt wird oder nicht, ist nicht meine Sache."

Das Wiederlesen seiner alten Tagebucheintragungen offenbart Kertész, dass seine Aufzeichnungen seit der Vollendung des "Romans eines Schicksallosen" voller Vorausdeutungen auf die nächsten beiden Werke, "Fiasko" und "Kaddisch für ein nicht geborenes Kind", seien. Tatsächlich gibt das "Galeerentagebuch" in drei Kapiteln Auskunft über die mühselige Arbeit an den drei Romanen, die im Lauf von 27 Jahren entstanden sind. Der erste Teil "Fahrt hinaus aufs offene Wasser" deckt die Jahre von 1961 bis 1979 ab und ist erfüllt von Reflexionen über die Bedingungen der Möglichkeit, aus dem Auschwitz-Erlebnis einen Roman zu machen. Während der Arbeit am "Roman eines Schicksallosen" entsteht eine Poetik des Holocaust, die aufgrund der Offenbarung des katastrophalen Weltzustands und der realen Ohnmacht des Einzelnen neue Schaffensgesetze für den Künstler postuliert. Das Fiasko der Ablehnung des Erstlingsromans durch einen Budapester Verlag wird zum Thema (und Titel) eines eigenen, des zweiten, Romans und im "Galeerentagebuch" unter dem Datum August 1973 nur lakonisch erwähnt. Wichtiger ist an dieser Stelle jedoch das Bekenntnis:

"Denke ich an einen neuen Roman, denke ich wieder nur an Auschwitz. [...] Auch wenn ich scheinbar von etwas ganz anderem spreche, spreche ich von Auschwitz. Ich bin ein Medium des Geistes von Auschwitz. Auschwitz spricht aus mir. Im Vergleich dazu erscheint mir alles andere als Schwachsinn. [...] Auschwitz und alles, was damit zu tun hat (aber was hat schon nichts damit zu tun?) ist das größte Trauma der Menschheit in Europa seit dem Kreuz [...]."

Der erste Teil des "Galeerentagebuchs" endet mit dem Anfang von "Fiasko", wie wir ihn aufgrund des gedruckten Buchs kennen. Der zweite Teil "Treibt (zwischen Klippen und Sandbänken)" enthält Notate von 1980 bis 1988. Nur langsam wächst das Manuskript des zweiten Romans, unterbrochen von der lukrativen Sklavenarbeit einer Übersetzung von Nietzsches Tragödienschrift. Gegen Ende des zweiten Teils, unter dem Datum 8. Mai 1986, kommt die befreiende Nachricht: "Finita l'opera!" Der "Fiasko"- Roman habe sich zum Schluss von selbst geschrieben, er habe diesen Prozess nur noch beaufsichtigt. Ende 1988 liegt auch "Kaddisch" fertig vor. Im dritten Teil "Lässt los (das Steuer), holt herein (die Ruder), ist glücklich" hält der Romancier Rückschau, prüft seine in Auschwitz gewonnenen Ansichten über das Leben und berichtet über die Vollendung einer autobiographischen Erzählung. Sie spielt am 60. Geburtstag des Erzählers, die Aufzeichnung stammt vom 16. November 1989, der 60. Geburtstag von Kertész liegt gerade eine Woche zurück. Kertész wundert sich über die unzerstörbare Lebenskraft, die ihn weiter treibe, ja über ihn hinwegfege, aber offensichtlich in einem umgekehrt proportionalen Verhältnis zur "Zerbrechlichkeit des Individuums" stehe.

Vor dem literarischen Schreiben hege er ein tiefes Misstrauen, schreibt der Ich-Erzähler in "Die englische Flagge". Denn der Anspruch, Zeugnis abzulegen, sei enorm hoch, und die literarischen Kunstgriffe, die jüngere Leser in älteren Werken bewunderten, drohten die Botschaft nur zu verfremden. Essays zu schreiben wie Ernö Szép, dessen Werk den jungen Imre einst für die journalistische Laufbahn begeistert habe, sei in den fünfziger Jahren ebenso wenig opportun gewesen wie im Jahr 1989. Denn "die Literatur ist in Verdacht geraten. Es ist zu fürchten, daß die ins literarische Lösungsmittel getauchte Form nie wieder ihre Dichte und Lebendigkeit zurückgewinnt. Man müßte sich um Formen bemühen, die die Erfahrung des Lebens (d. h. die Katastrophe) total erfassen, die uns zu sterben helfen und den Überlebenden trotzdem auch etwas hinterlassen." Ob die Literatur wirklich zu dieser Form fähig sei, bezweifelt der Ich-Erzähler; gefragt wäre eine literarische Form des Zeugnis-Gebens. Kann aber ein Auschwitz-Überlebender anders Zeugnis geben als es der Journalist Ernö Szép tat, der sich, bloß noch ein Gespenst seiner selbst, dem jungen Kertész einmal mit den Worten vorstellte: "Ich war Ernö Szép"? In diesem resignativen, ja vernichtenden Selbstbekenntnis Széps liegt für den Ich-Erzähler in "Die englische Flagge" ein ungeschriebener, vielleicht unschreibbarer Roman der Auslöschung verborgen. In der musikanalogen Poetik des "Galeerentagebuchs" stellt Kertész ähnlich hohe Anforderungen an die literarische Form: Wer im Ton der Objektivität schreiben wolle, finde, daß alle Töne lange schon besetzt seien.

Das Resultat dieser Bemühung um eine adäquate, neue Form, die mit der literarischen Tradition der Gattungstrennung von Roman und Autobiographie bricht, ist nun allerdings Kertész' literarisches Werk. Es darf Klassizität beanspruchen, weil der Autor sich die literarische Form für seinen ungeheuren Stoff - den Auschwitz-Mythos - und für seine ungeheure Sisyphos-Aufgabe eigens geschaffen hat.

Der Schicksallose als Anti-Held

Die Abwesenheit des zeitgeschichtlich versierten Autors als Kommentator jugendlichen Erlebens irritierte die ersten Leser des "Romans eines Schicksallosen" und verstößt besonders in Deutschland gegen die Political correctness. Deutsche Leser finden es, nicht anders als die ersten Gutachter des ungarischen Verlags, als unschicklich, wenn ein jüdischer Junge im okkupierten Budapest ausgerechnet die deutschen Okkupatoren als sportliche Helden und die kahlköpfigen Häftlinge in Auschwitz als Verbrechertypen bezeichnet.

Ungewöhnlich ist im "Roman eines Schicksallosen" die Art, wie Kertész dem Leser die Perspektive des gutgläubigen, politisch ahnungslosen Kindes und seine Wandlung zum eingeweihten, wissenden, illusionslosen KZ-Insassen zu vermitteln vermag. Der vollkommen ahnungslose fünfzehnjährige György alias Imre ist der Held eines perfekten Anti-Dramas oder einer Anti-Novelle. Es fehlt die (hamartia), die nach Aristoteles für die tragische Handlung maßgeblich ist, und folglich auch das Schuldbewußtsein des Helden, als er merkt, auf welche tödliche Katastrophe die willenlose Menschenschlange vor den Baracken in Auschwitz zusteuert. Er handelt nicht, sondern läßt sich treiben im Glauben an die Vernünftigkeit der Welt. Der Erzähler hält sich mit seinem Wissen vom Ende und Wertungen ganz zurück und versetzt sich auf eine Weise in das Denken und Fühlen des Fünfzehnjährigen, die den historisch informierten Leser abstößt. György ist gutgläubig und versucht in allen unerwarteten Schicksalswendungen das Beste zu sehen. Für pathetische, rührselige Szenen, die entstehen, als sich der Vater von den Verwandten verabschiedet, um sich ins Nazi-Arbeitslager zu begeben, hat der Junge nichts übrig. Die hebräischen Gebete für den Vater vollzieht er ohne Verständnis und die theologischen Ratschläge von Onkel Lajos, Gottes Schicksal geduldig zu tragen, bleiben ohne Resonanz. Im Unterschied zu seinen Freundinnen grübelt er nicht darüber, woher der Judenhass der Deutschen komme, worin sein Wesen als Jude bestehe und worin der Sinn jüdischen Leidens. Der Judenstern ist für ihn ein bedeutungsloses Etikett, das ein anderer ebenso tragen könnte, wenn er als Säugling zufällig mit ihm vertauscht worden wäre. Darüber, daß er das Gymnasium verlassen muss und als Hilfsarbeiter für den Wiederaufbau der zerbombten Shell angelernt wird, ist er nicht traurig. Die Deutschen imponieren ihm aufgrund ihrer Tüchtigkeit.

György wird im Juni 1944 mit seinen jugendlichen Arbeitskollegen auf dem Weg zur Arbeit angehalten, in ein Zollhaus verbracht und zu einem Arbeitstransport genötigt. Dem ungarischen Polizisten schuldet er wie alle Gehorsam. Sein Arbeitsausweis verschafft ihm die Sicherheit, dass er zu kriegswichtigen Arbeiten gebraucht wird, und der Wunsch des Wachtpolizisten, er hoffe, daß er es mit vernünftigen, disziplinierten Jungen zu tun habe, die ihm keine Probleme machten, spornt die Jugendlichen dazu an, sich so geduldig zu verhalten wie Erwachsene. Die Erlaubnis des Polizisten, der Junge dürfe sein Hemd ausziehen, obwohl man dann doch nicht mehr den gelben Stern sehen könne, findet György menschlich. Über die Aufgeregtheit der Erwachsenen im Zollhaus und in der Ziegelei mokiert er sich. Der "Anstand" verbiete ihm, auf der Chaussee im Berufsverkehr die Gelegenheit zur Flucht zu ergreifen. Die Beunruhigung des Lesers wächst, weiß er doch, worauf die Telefonate, Listen und Geheimniskrämerei der Polizisten hindeuten und das die Erwachsenen allemal Grund zur Panik haben. György hat dagegen nur das Gefühl, in ein sinnloses Stück hineingeraten zu sein, in dem er seine Rolle nicht kennt. Die Aussicht, nach Deutschland zur Arbeit ausgesiedelt zu werden, findet der Junge "reizvoll"; über die Deutschen hat er mehr Vorteilhaftes als Missgünstiges gehört. Bis zur Ankunft in Auschwitz ist er mit einigen Erwachsenen bereit, den fehlenden Sinn der Aktion mit seinem Verstand irgendwie nachzuliefern und schließt von der Höflichkeit und Korrektheit, mit der deutsche Offiziere Fragen nach dem Sinn der Deportation und der Verwendung der Deportierten im Reich beantworten, auf ehrliche, gute Absichten. Die häufigste Formel, mit der er das Verhalten der Deutschen rationalisiert, ist ein nachgestelltes "versteht sich" und "natürlich".

Tragische Ironie kennzeichnet die Wahrnehmung des Helden. Er missversteht alle Zeichen, die in Auschwitz auf die tödliche Gefahr hindeuten: die ausgemergelten, für ihn abstoßend jüdisch aussehenden Sträflinge, die selbstsicher auftretenden SS-Aufseher in ihren schmucken Uniformen, die adretten weißen Häuser mit Vorgärten, den Fußballplatz, die Wachtürme, die er zunächst für Hochsitze hält, die Selektion, bei der die Alten und Schwachen - "natürlich" - als arbeitsuntauglich ausgesondert werden, und die Schornsteine der Krematorien. Der Erkenntnis-Choc wird jäh durch die Vielzahl der feuerspeienden Schornsteine ausgelöst, nachdem ihn die Kennzeichnung der tätowierten Nummer als "himmlische Telefonnummer" schon zum Nachdenken veranlasst hat. Exakt in der Mitte der Erzählung - in der Mitte des fünften Kapitels, dem vier weitere folgen - meldet sich erstmals der wissende Autor zu Wort mit der Erklärung, die dem fünfzehnjährigen Häftling erst allmählich aufgegangen sein wird. Ein Erkundungsgang durch das Lager führt zu "genaueren Erkenntnissen":

"Da, gegenüber, verbrannten in diesem Augenblick unsere Reisegefährten aus der Eisenbahn, alle, die im Auto hatten mitfahren wollen, und all die, die sich vor dem Arzt aus Alters- oder anderen Gründen als untauglich erwiesen hatten, genauso die Kleinen und mit ihnen die Mütter und die, die es in der Zukunft geworden wären. [...] Auch sie seien über die Kleiderhaken, die Nummern, den Ablauf im Bad unterrichtet worden, genauso wie wir. Auch Friseure seien dort gewesen - so wurde behauptet -, und auch die Seife habe man ihnen ausgehändigt. Und dann seien auch sie in den Baderaum geführt worden, wo, so hörte ich, auch solche Rohre und Duschen vorhanden waren: nur, dass man aus ihnen nicht Wasser, sondern Gas auf sie herunterließ. [...] In der Zwischenzeit - hörte ich - sei man sehr freundlich zu ihnen, sie würden liebevoll umsorgt, die Kinder sängen und spielten Ball, und der Ort, wo sie vergast wurden, sei sehr hübsch gelegen, zwischen Rasenplätzen, Wäldchen und Blumenbeeten, deshalb hatte ich schließlich den Eindruck, es sei eine Art Schabernack, irgend etwas wie ein Studentenstreich."

György stellt fest, dass Auschwitz auch auf ihn gewartet habe. Als er aufs Gymnasium kam, habe der Tötungsbetrieb in Auschwitz gerade begonnen. Weder Schule noch Elternhaus hätten ihn dafür gerüstet, so fühlt er sich überwältigt, übertölpelt, vom Schein betrogen. Das Umlernen ist qualvoll, geht aber geschwind. Die vom ungarischen Polizisten gepriesene Diszipliniertheit nützt in Buchenwald nichts. Ein guter Häftling sein zu wollen, bringt keine Vorteile ein, keine Anerkennung und fördert kein Gesamtziel. Nützlichkeitsdenken versagt angesichts der Dysfunktionalität aller Tätigkeiten, zu denen die Häftlinge gezwungen werden. Als größte Erniedrigung empfindet Imre den Verlust der Herrschaft über seinen Körper: Unter der Einwirkung von Hunger und Schlägen entfremdet er sich vom Geist, so dass der Inhaber von Körper und Geist die Einheit seiner Person verliert. Nicht mehr im Besitz seiner physischen Selbstkontrolle, hätte er auch zum Mörder werden können, wenn es ihm sein Überlebenstrieb in der Zwangslage geboten hätte. Imre hat in Auschwitz und Buchenwald so gründlich gelernt, dem Schein zu misstrauen, dass er auch die tatsächliche Hilfe, die ihm Ärzte und Pfleger im Krankenbau von Buchenwald angedeihen lassen, für eine besonders perfide Irreführung hält. Er wehrt sich gegen die Verlegung vom Fußbodenlager in den Krankenbau, aus Angst, man wolle ihn als gesund entlassen. Als er zu seiner Verblüffung in einem richtigen Bett mit Steppdecke und Laken wieder aufwacht, argwöhnt er, dass es sich um ein besonders subtiles Experiment der Unterdrücker handeln könnte. Der Vergleich mit vergangenen Lektionen im Lager legt ihm den induktiven Schluss nahe, dass man die Kranken in diesen wunderbaren Betten wohl verhungern lasse. Der Obersatz in diesem praktischen Syllogismus lautet, dass in den Nazi-Lagern alles, was möglich ist, auch "ausführbar, machbar" sei:

"Man wird also, grübelte ich, zum Beispiel genau in ein Zimmer wie dieses gebracht. Man wird, sagen wir, genau in ein solches Bett mit Steppdecke gelegt. Gehegt, gepflegt, mit allem versorgt - nur nicht mit Essen, nehmen wir einmal an. Wenn man will, dann läßt sich zum Beispiel vielleicht sogar das beobachten, auf welche Art jemand verhungert - schließlich mag auch das auf seine Art interessant, in höherem Sinn nützlich sein, warum denn nicht, das mußte ich zugeben. Wie ich es auch drehte und wendete, die Idee kam mir immer wirklichkeitsnäher, immer brauchbarer vor [...]"

Beispiele wie das von Ruth Elias, die in Auschwitz ein Kind zur Welt brachte, ihm aber keine Milch geben durfte, zeigt, daß Kertész mit seiner Schlussfolgerung eine echte "Gesetzmäßigkeit" des Nazi-Lagers erfasst hat. Die wahnsinnige Vermutung einer Leidensgenossin, "Mengele will einen Versuch machen, wie lange ein Neugeborenes ohne Essen aushalten kann", erwies sich im Falle der unglücklichen Mutter Ruth als richtig. Das Böse ist die Normalität, weil Menschen, um zu überleben, dem Mitmenschen seine Überlebensration stehlen müssen. Die freiwillige gute Tat ist die erklärungsbedürftige Ausnahme, zum Beispiel das Verschenken der eigenen Überlebensration. Diese Erfahrung, die Kertész in "Kaddisch für ein nicht geborenes Kind" geschildert hat, deckt sich mit Ruth Klügers Erleben der für ihr Überleben entscheidenden Minute. Dass das Wiener Mädchen in der Selektion für den Arbeitsdienst auf die Seite der Tüchtigen, Arbeitstauglichen kam, lag an der völlig unvorhersehbaren, wenig motivierten und sehr riskanten Einflüsterung einer Aufseherin, "einer freien, spontanen Tat". Ebenso erklärungsbedürftig ist nach all den sinnlosen Torturen die Fürsorglichkeit der alten politischen Buchenwald-Häftlinge, die sich um den kranken György kümmern. Györgys Erklärung, dass er ohne Anlass in Budapest aufgegriffen und deportiert worden sei, weckt nämlich ihr Mitleid, einen im "univers concentrationnaire" anachronistischen Affekt.

Das Prinzip von Kertész' Erzählung ist deutlich geworden: es ist anti-tragisch. Ein Schicksalloser ist in die Maschinerie eines totalitären Systems gezogen worden. Den Helden nach dem Muster von Aristoteles oder Friedrich Schiller, der gegen eine Naturgewalt oder ein widriges Geschick ankämpft und im Moment größter Gefahr seine Freiheit auskostet, gibt es nicht mehr. Dass Menschen zweckorientiert handeln, sich gegen Bedrohungen wehren und Feinde besiegen können, hält Kertész im "Galeerentagebuch" für eine humanistische Ideologie, die nur dazu dient, das Gesicht des Totalitarismus zu verdecken. Der "Mythos Auschwitz" ist als Erklärungsmuster für Freiheitsverlust (Heteronomie) omnipräsent. Das dysfunktionale Funktionssystem Auschwitz ist für Kertész Prototyp des Totalitarismus. Diesen vermag er nur durch die Parodie der klassisch-humanistischen Gattungen zu beschreiben. Die Herausforderung für den Schriftsteller nach Auschwitz bestehe im Auffinden einer Sicht- und Schreibweise, die dem Phänomen gerecht wird, dass der Mensch im totalitären Getriebe dazu fähig ist, ebenso Henker wie Opfer zu sein. Das Tragische sei nicht-existent, es existiere nur "das falsche Bewusstsein der Kulturwelt, das vor Auschwitz bestand (und zu Auschwitz führte)." Selbst der alttestamentarische Gott sei nicht von Ideologie frei. Gottes Dialog mit Kain, der seinen Brudermord vorherbestimmt, ihn zuläßt und Kain nach vollbrachter Tat entlastet, entlarve den Schöpfer als "Diktator". Kertész würde die humanistische Ideologie nur verlängern, wenn er seine Erzählung als Drama stilisieren würde: es wäre einfach nicht wahr. Wer die ausgleichende Gerechtigkeit auf der Bühne oder im Roman siegen ließe, würde lügen, denn wer überlebt, hat sich als Meister des Betrugs qualifiziert. Der Mythos Auschwitz erklärt, daß Freiheit eine humanistische Fiktion sei und der Mensch weder frei noch determiniert, vielmehr ein "zu allem fähige[s] Wesen". Seit Auschwitz sei der Roman ein subjektloser Text, der Mensch nicht mehr Zentrum der Dinge.

Grundlegend für diese Poetik des negativen Humanismus und der Parodie klassischer Formen ist die Erfahrung des lernwilligen, aber falsch präparierten Jungen, der erst in Auschwitz merkt, dass er in der Schule nichts für Auschwitz gelernt hat, und nach der Rückkehr aus Buchenwald erlebt, wie alle, die das Glück hatten, nicht deportiert zu werden, sich genauso treiben ließen wie er. Beobachtungen, wie DDR-Bürger in der Schlange darauf warten, ihre Lebensmittel zu kaufen, bestätigen seine Erfahrungen, wie willenlos sich der Mensch versklaven lasse.

Wie sehr seine Poetik von der Auschwitz-Erfahrung geprägt ist, offenbart Kertész in seinem "Galeerentagebuch". Für Kertész ist die mythische Auschwitz-Erfahrung wie ein schwarzes Loch, das all seine künstlerischen Energien einsaugt und bündelt. Sein Schreiben besteht im fortwährenden Zeugnis-Ablegen. Sein Fluchtpunkt ist die Entlarvung des Humanismus als Ideologie des totalitären Systems. Kertész findet, die "Obligata" der Stationen der Shoah determinierten den Gang und die Weise des Erzählens darüber. Er müsse streng an den "Obligata des Stoffs" festhalten: "das Verladen in die Waggons, die Fahrt, die Ankunft in Auschwitz, die Selektion, das Baden und die Kleiderausgabe - alles eine obligatorische Folge von Momenten, genau wie die in Register gefaßten Obligata des Kreuzwegs in den mittelalterlichen Passionsspielen." Es sei verführerisch, die Stationen als Szenen eines Dramas zu gestalten. Die dramatische Struktur, die einen frei entscheidenden Helden und eine tragische Handlung voraussetzt, sei dem Ganzen aber unangemessen. Denn der Erzähler finde den Stoff so vor wie der Komponist eine Zwölftonreihe: ihre Abfolge steht fest und die Anzahl ihrer Variationen ist begrenzt. Wie in einer Zwölftonkomposition, sei "der Verlauf der Erzählung [...] von vorneherein durch die STRUKTUR festgelegt".

"Wendungen wie Fluchten, anekdotische Teillösungen, beruhigende oder phantastische Elemente und 'Ausnahmen' können hier also nicht in Betracht kommen. [...] Der Handlungsverlauf, die Themen entwickeln sich linear - es gibt keine 'Reprise', nichts läßt sich umkehren oder wiederholen -, und wenn die Bearbeitung beendet ist, alle möglichen Varianten innerhalb der einzigen besehenden Möglichkeit ausgeschöpft sind, ist die Komposition abgeschlossen, und dieser Schluß läßt dennoch alles offen."

Die Situation des Lesers dieser Memoirenliteratur entspricht denn auch der eines geschulten Hörers eines Zwölfton-Stücks (z. B. des 3. oder 4. Streichquartetts von Schönberg), der die Partitur vor sich hat und die Reihe mit ihren Variationen in der Polyphonie identifizieren kann. Der Leser hat dem erlebenden Subjekt das Wissen voraus, wohin die merkwürdigen Begebenheiten - Ghettoisierung, Deportation, Initiation mit Duschbad, Rasur und Desinfektion, Selektion und Todesmarsch - geführt haben. Der historisch gebildete Leser kann Kertész' Erfahrungsbericht verifizieren, indem er Raul Hillbergs Sammelbände zur Hand nimmt, bei Arno Lustiger die Hauptpersonen des Warschauer Ghettoaufstands nachschlägt und die Schilderungen alltäglicher dysfunktionaler Brutalität in den Lagern mit Hilfe der von Goldhagen ausgewerteten Fotos und Täterzeugnisse aus anderen Perspektiven verifiziert. Kertész' Charakterisierung eines Ahnungslosen, der in Auschwitz und Buchenwald vergeblich ein guter Häftling sein will, und die Lektion, dass es seine Mörder auf dieses Lernziel abgesehen haben, fast mit dem Leben bezahlt, ist von zeitloser Gültigkeit. Die Schilderung eines Jungen, der einmal lernte, ein guter ungarischer Patriot zu sein, jüdische Gebete zu murmeln und seinen Eltern und Lehrern durch Gehorsam Freude zu bereiten, und dem sich sein Schicksal, vernichtet zu werden, angesichts der Schornsteine in Auschwitz offenbart, besitzt im Jahrhundert des Totalitarismus klassischen Rang. Die Redeweise von Schicksal, Zufall, Glück und Notwendigkeit schicken sich nicht für ein Individuum in den Netzen des Totalitarismus, in dem sich kein Held trotzig kämpfend bewähren kann. Alles, was wir im Lauf unseres Lebens als Schicksal, wenngleich als sinnloses, jedoch als unser Schicksal erleben, ist nach Kertész von Begebenheiten abhängig, die wir als Zufall erleben, die uns jedoch vorherbestimmt zu sein scheinen.

Rede über das Jahrhundert

Kertész' Schreiben kreist um Auschwitz, nimmt von den Erfahrungen der Deportation seinen Ausgang und verknüpft sie mit den Eindrücken der Fremdbestimmung im sozialistischen Ungarn seit 1956. Auschwitz wurde ihm Schlüssel zum Versuch, das 20. Jahrhundert zu verstehen, und öffnete ihm die Augen über die Vergeblichkeit vergangenen Strebens nach Aufklärung und Glück. Das Terrorsystem in Auschwitz und Buchenwald konditionierte den Häftling dazu, sich auf das nackte Überleben zu konzentrieren, obwohl das Leben, das der Häftling retten wollte, alles andere als lebenswert war, vielmehr die Zurücknahme aller kultureller, zivilisatorischer Errungenschaften bedeutete. Die Perversität der Arbeitsbedingungen in Auschwitz belehrte Kertész darüber, welche brutalen Möglichkeiten in jedem Menschen, Täter oder Opfer, stecken, sobald ihm die Umstände keine Wahl mehr lassen, seine Lebensweise selbst zu bestimmen. Die nationalsozialistische Vernichtungsmaschinerie zu begreifen, ist nach Kertész' Ansicht keineswegs unmöglich, wenn man sich einmal von altertümlichen Vorstellungen befreit, dass der Mensch kraft seiner Vernunft zur Freiheit und Autonomie geboren sei und seine Bestimmung darin bestehe, glücklich zu werden. Die Erfahrungen des nach Auschwitz deportierten Jungen legen dem erwachsenen Schriftsteller und Zeitzeugen vielmehr folgenden Verdacht nahe: Fügt sich Auschwitz nicht in ein Tableau totalitärer Ideologien, die Individuen auslöschen oder als willenlose Rädchen vereinnahmen, sobald man nur einsieht, daß der Vernunftoptimismus und das Perfektibilitätsstreben des 18. Jahrhunderts irrtümliche Abweichungen von der eigentlichen Bestimmung der Menschheit gewesen sind, sich und die Erde zu vernichten? Eine ungeheure Lebenskraft reißt alle Geschöpfe zu nur reflexhaften Handlungen hin, die das Überleben sichern, während jegliche individuelle Lebenskonzeptionen dabei zerbrechen. Der Wille, Schwache zu unterjochen, ihre Individualität zu vernichten und vorhandene Energien zur chaotischen Destruktion zu nutzen, ist nach Kertész das Normale, dagegen erscheint die Aufklärung durch Vernunft und Sittlichkeit wie ein außergewöhnlicher Betriebsunfall, über den die Geschichte schnell hinweggehe. Auschwitz aus dem menschlichen Erfahrungsraum isolieren und eine heile Welt davon abgrenzen zu wollen, wäre kitschig. Die historische Erfahrung des jüdischen Jungen aus Budapest stellt die Vertragstheorien der Aufklärung in Frage. Den Staat erlebte er als fremde, undurchschaubare Macht, die ihn ergriffen habe, ohne daß er sich wehren konnte. Schuld daran sei die Sehnsucht der Menschen nach einer transzendenten Autorität, der sie die Verantwortung für ihr Leben anvertrauen könnten. Gottvater auf dem himmlischen Thron ist demnach ein Wunschbild des autoritären Charakters. Ein anderes Argument lautet, dass dieser Gott, sollte er keine Projektion sein, sondern echtem religiösem Glauben entsprechend existieren, Auschwitz geschaffen und gleichzeitig Kertész zum Überleben prädestiniert haben soll. Das ist absurd; also wird es sich bei diesem Machthaber nur um eine Projektion menschlicher Sehnsüchte nach Unterordnung und Selbstaufgabe handeln.

Neue Bedingungen und Wege autobiographischen Schreibens

Nobelpreiswürdig ist aber nicht nur das erste Werk, wenngleich es alle künftigen im Keim enthält, und erst recht nicht die Biographie oder der Überlebenswille eines Opfers des Nazi-Terrors und des kommunistischen Totalitarismus. Preiswürdig ist Kertész' gesamtes Werk, das sich, einschließlich der Erzählungen und Aphorismen, aus dem "Roman eines Schicksallosen" losspinnt. Es besteht aus einer Folge von Variationen derselben anthropologischen, wenn man so will: metaphysischen Struktur. Kertész hat das autobiographische Schreiben revolutioniert. Literatur über die Wirkungen des Totalitarismus im 20. Jahrhundert von repräsentativem Rang entstand, indem sich das zweimalige Opfer Imre Kertész alias György Köves auf das subjektive Erleben eines Fünfzehnjährigen in Budapest beschränkte, dessen Wertungen übernahm, ohne sie aufgrund späterer historischer Einsicht zu kommentieren oder zu korrigieren. Ruth Klüger will hingegen ihren Leserinnen demonstrieren, dass schon das Wiener Mädchen namens Susi 1938 genauer als manche Erwachsene im Bilde darüber war, wohin die rassistisch begründete Ausgrenzung der Juden noch führen würde. Susis kritischer Blick ähnelt bereits dem der jungen Ruth und die kalifornische Literaturwissenschaftlerin weiß sich noch während des Schreibens mit dieser jungen, klugen Zeitbeobachterin einig. Freilich hatte Susi in den vier Jahren zwischen dem sogenannten 'Anschluss' und der Deportation nach Theresienstadt reichlich Gelegenheit dazu, sich in der Wahrnehmung der Funktionsgesetze und Wirkungsmechanismen des nazi-deutschen Terrors zu üben, während Imre alias György - nicht anders als Taboris Mutter in dessen Erzählung "Mutters Courage" - 1944 von der deutschen Okkupation überrumpelt wurde und vom nationalsozialistischen Vernichtungsprogramm keine Ahnung hatte. Die Ich-Konstitution, die sich in der autobiographischen Erzählung Ruth Klügers gleich bleibt, ist im Vergleich mit derjenigen im "Roman eines Schicksallosen" traditionell. Das Mädchen Susi/ Ruth wusste mehr als die Erwachsenen und ihre unvorbelastete Beobachtungsgabe, mit der sie die "Logik" von Birkenau analysierte, übertraf das Wahrnehmungsvermögen ihrer Mutter. Das Ich der Erzählerin verschmilzt an dieser Stelle mit dem Ich ihrer Erzählung:

"Das Autoritätsgebaren in Auschwitz war stets auf Aberkennung gerichtet, Ablehnung der menschlichen Existenz des Häftlings, seines oder ihres Rechts, da zu sein. Primo Levi hat das in seinem Buch 'Ist das ein Mensch?' beschrieben. Der aber kam mit dem Selbstgefühl eines erwachsenen Europäers dahin. [...] Für ein Kind war das anders, denn mir war in den wenigen Jahren, die ich als bewußter Mensch existierte, die Lebensberechtigung Stück für Stück aberkannt worden, so daß Birkenau für mich einer gewissen Logik nicht entbehrte."

Ruth schloss: Wer auf einer Wiener Parkbank oder im Kino unerwünscht war, den verwundert es nicht zu erfahren, daß im Lager eine Maschinerie zur Auslöschung aller Unerwünschten mit Hochbetrieb arbeitete. Imre Kertész führt in seinen Romanen weit radikaler als Ruth Klüger vor, wie sich die Bedingungen autobiographischen Schreibens verändert haben.

Erinnern wir uns: Philippe Lejeune führte eine klare Unterscheidung zwischen Romanen und Autobiographien mit Hilfe der Vorstellung des "autobiographischen Paktes" ein. Noch 1975 hielt er zweierlei für unvereinbar mit dem europäischen Autorbewusstsein. "Kann der Protagonist eines als solchen deklarierten Romans denselben Namen haben wie der Autor? [...] Kann in einer als solcher deklarierten Autobiographie der Protagonist einen anderen Namen haben als der Autor?" Die Werke, die im Gegensatz zu dieser klaren Disjunktion aus einer schrägen Selbstdarstellung resultieren, ergäben weder einen richtigen Roman noch eine richtige Autobiographie, sondern nur "ein Pirandellisches Spiel mit der Mehrdeutigkeit. Meines Wissens treibt man dieses Spiel praktisch nie ernsthaft und konsequent."

Lejeune konnte noch nicht wissen, daß es Kertész schon 1972 für vorteilhaft hielt, einen für ihn prägenden, erkenntnisfördernden Lebensabschnitt bis 1945, der mit seinem Lebenslauf genau übereinstimmte, in der dritten Person unter einem fremden Namen (György Köves) zu beschreiben. Auch der Alte, der in "Fiasko" in seinen Aufzeichnungen und Erinnerungen kramt, trägt diesen Namen und erfindet sich überdies ein Alter ego, dem er die eigene Identität (und folglich diejenige von Kertész) verpasst und den Namen Steinig gibt. Der Ich-Erzähler in "Die englische Flagge" ist namenlos, aber seine Biographie ist, wie erwähnt, identisch mit derjenigen von Kertész, und der Er-Erzähler in "Der Spurensucher" heißt zwar nur "Der Beauftragte", bewegt sich aber auf den Spuren von Kertész, der im "Galeerentagebuch" ähnliche Eindrücke einer Reise nach Weimar und Buchenwald festhält wie der Beauftragte. Fassungslos steht der Erzähler der Geschichte von der englischen Flagge im Herbst 1989 seinem zwanzigjährigen Ich gegenüber, das noch Illusionen über seine Entfaltungsmöglichkeiten im kommunistischen Ungarn hegte. Der Erzähler betrachtet verwundert "den jungen Mann [...], den ich damals auf Grund der Sinnestäuschung, der wir alle unterliegen, als mein eigenes Ich betrachtete und empfand, [...] wie in einem Film." Nichts als leben wollte er damals, und das journalistische Schreiben sollte ihm dieses Leben ermöglichen. Das Bücherlesen sollte ihn hingegen schützen vor der lügnerischen Welt.

Wiederholt forscht Kertész nach seinem aus der Erinnerung entschwundenen Ich. Er stellt in Frage, dass das Ich tatsächlich in uns denkt und dies Werk nicht ein anderer in uns verrichte. Wer weiß schon, was er will, wenn der Wille nach einer von außen induzierten Mechanik langsam Besitz von ihm ergreift?Als Spielstein eines metaphysischen Brettspiels sei das Ich zu orten, wo es nach Regeln, die es nicht begreift, verschoben wird. "Ich: ist eine Fiktion, bei der wir bestenfalls Miturheber sind", urteilt Kertész zu Beginn von "Ich - ein anderer". Diesem Ich spricht Kertész die Verantwortung für sein Überleben ab. Zum Helden oder Widerstandskämpfer taugte der fünfzehnjährige Junge überhaupt nicht, und wer über Buchenwald so erzählt, als gäbe es unter Aufsehern und Häftlingen Protagonisten, deren Handeln eine Strategie verfolgte, die von anderen Strategien hätte durchkreuzt und vereitelt werden können, produziere schlichtweg Holocaust-Kitsch. Während eines Besuchs im Goethehaus am Frauenplan griff Kertész nach Goethes Autobiographie und stellte fest, daß dessen vollendetes Werk und erfülltes Leben als einzige Spur "Büchergeruch" hinterlassen habe. Goethes kunstvolle Inszenierung des Moments seiner Geburt, mit der er auf die ihm bestimmte Laufbahn habe vorausweisen wollen, habe Kertész zum Bewusstsein gebracht, wie sehr sein eigenes Leben nur als blinde Wirkung mehr oder weniger ungeplanter, ungewollter Begebenheiten beschreibbar sei. Seine bittersüße Parodie des Anfangs von "Dichtung und Wahrheit" am Anfang des zweiten Teils des "Galeerentagebuchs" beendet Kertész mit dem Eingeständnis seiner ansozialisierten Gefügigkeit: "Und mit schlappem Wohlwollen ließ ich mich in die Ohnmacht meiner Wohlerzogenheitsneurose fallen. Ich war ein mäßig eifriges, nicht immer untadeliges Mitglied der lautlosen Verschwörung, die sich gegen mein Leben richtete."

Die Poetik der Wiederholung

Kertész' Poetik der Wiederholung macht, wie das "Galeerentagebuch" bezeugt, Anleihen beim Komponieren mit zwölf Tönen. Sie entspricht einer Lebenserfahrung, wonach der Autor immer wieder auf die Erlebnisstufe des von seinem Schicksal schicksallos überrumpelten fünfzehnjährigen Judenjungen regrediert. Daher bezeichnet sich Kertész so oft als Hund oder altes Haustier, der oder das dem gewohnten Lebensrhythmus treu bleibt, der ihm, weil bekannt, ein Mindestmaß an Sicherheit und Orientierung zu garantieren scheint. Seine Entscheidung, nach Kriegsende nach Budapest zurückzukehren, begründet Kertész folgendermaßen: " Das noch nicht ganz sechzehnjährige Bewußtsein, das da entschied, wußte noch nicht viel von der Bedeutung seiner Entscheidung. Wie ich anderen Orts bereits beschrieben habe, bin ich vielleicht mit dem Instinkt eines fortgelaufenen Hundes hierher zurückgekehrt." Noch als der über sechzigjährige erfolgreiche Übersetzer und Schriftsteller im Schnellzug nach Wien von ungarischen Zöllnern mit der Frage überrumpelt wird, wieviel österreichisches Geld er dabei habe und er sich mit einer unüberlegten Lüge verdächtig macht, entdeckt Kertész zu seiner Überraschung, dass die Inquisition der Zöllner ihn emotional ins Lager zurückversetze und dass er in jener demütigenden Situation im Zollhäuschen einer ungarischen Grenzstadt just so funktionierte wie als Fünfzehnjähriger in Auschwitz und Buchenwald. Er habe gar nicht vermeiden können, die falschesten und ungeschicktesten Antworten zu geben; eine fremde Macht in ihm habe ihn zu unfassbaren Dummheiten getrieben, wodurch er sein eigenes, wohlbekanntes Schicksal, ausgeliefert zu sein, nur besiegelt habe.

Der Lebenserfahrung im kommunistischen Ungarn der fünfziger Jahre entspricht es, dass der gerade 21-jährige Journalist in Budapest seine völlig unmotivierte Kündigung als Schicksalsschlag erwartete, der genauso in dem Moment eintraf, als das Blatt, für das er schrieb, sich auf die kommunistische Parteilinie festlegte. In einer Diktatur müsse man mit dem Unwahrscheinlichsten rechnen, weil es zum System der Unterdrückung gehöre, dass keine Gesetze des Handelns, die mehr oder weniger wahrscheinlichen Erfolg garantieren würden, Geltung erlangen könnten. Die Kündigung und nachfolgende Fabrikarbeit, über die wir in "Die englische Flagge" erfahren, ereilen auch den Helden in "Fiasko", ohne dass der sich allzu sehr wundert. Die Schauprozesse vor und nach dem Oktober 1956 bestätigten dem Erzähler der Geschichte "Die englische Flagge", dass es keine Urteile und kein rationales Urteilsvermögen geben könne, wo im Verborgenen bereits verurteilt wird. Eine Moral ist unter diesen Bedingungen etwas völlig Relatives und Ephemeres: Sie stellt sich als Gefühl einer zeitweisen Beständigkeit ein. Solange es währt, scheine die rationale Abwägung von Handlungschancen erfolgversprechend zu sein. Es sei indes zu überlegen, ob "Zustände, die sich durch einen Mangel an Beständigkeit auszeichnen, möglicherweise aus keinem anderen Grunde herbeigeführt werden als dem, keinen auf Moral gegründeten Zustand entstehen zu lassen."

Wenn wir nach einem Aperçu von Kertész im 20. Jahrhundert "die moralische Berechtigung zum Glück" verloren haben, wenn es keine Höherentwicklung der Menschheit zu einem glücklicheren, erfüllten Leben geben kann, bleibt dem Schriftsteller nur übrig, entweder andere Welten erfinden, von denen er einzig weiß, dass es sie nicht gibt, oder mit manischer Obsession seine geschlossene Welt, in der er sich wie ein Haustier auskennt, abzuschildern. Daraus resultiert als Gestaltungsprinzip das Gesetz der Wiederholung des Immergleichen in unzähligen Modellen, die sich nur durch ihre unterschiedlichen Positionen in Raum und Zeit voneinander unterscheiden. Die Werke, die Kertész schreibt, die Welten, die er imaginiert, sind Ausgeburten der Phantasie eines an Hospitalismussyndromen leidenden "Haustiers", die ineinandergeschachtelt sind wie die Figuren und Figürchen in einer russischen Puppe. Varianten von Beschreibungen eines und desselben Lebenslaufs füllen im Werk von Kertész ein immenses Spektrum zwischen Roman und Autobiographie aus.

Das Fiasko in "Fiasko"

Kertész schreibt mehr als zehn Jahre lang einen Roman über György Köves, dessen Lebenslauf, wie wir aus dem "Galeerentagebuch" nachträglich erfahren, dem des Autors gleicht. "Fiasko" handelt vom Schicksal des alten Köves, der sich an seine traumatischen Erfahrungen als Häftling in Auschwitz und Buchenwald erinnert, die diejenigen des Helden der "Schicksallosigkeit" im ersten Roman und gleichzeitig diejenigen des Autors sind. Der Alte wühlt in seiner 28-Quadratmeter-Wohnzelle in alten Aufzeichnungen, quält sich mit Übersetzungsaufträgen und bringt dennoch einen Erinnerungsroman über seine Auschwitz-Erfahrungen zustande. Wir erfahren vom Alten, wie das Manuskript dieses seines ersten Romans 1973 von einem ungarischen Verlag wegen seiner angeblichen Unzeitgemäßheit und der ungeschickten, unpassenden Darstellungsweise aus der Sicht des "Schicksallosen" abgelehnt worden sei. Diese Ablehnung ist mit derjenigen von Kertész' ""Roman eines Schicksallosen" " identisch, die im "Galeerentagebuch" lakonisch erwähnt wird. Nach einiger Überlegung wundert die Ablehnung den Alten nicht. Schließlich dachte er nicht an mögliche Leser auf dem ungarischen Buchmarkt, als er seine Erinnerungen möglichst getreu aufzuzeichnen versuchte. Um nach dieser Kränkung weiterleben zu können, übernimmt der Alte in "Fiasko", ähnlich wie Kertész selbst, einen Übersetzungsauftrag und finanziert damit die Arbeit an einem neuen Roman mit dem Titel "Fiasko". Das zweite und die folgenden Kapitel stellen Köves' zweites Romanmanuskript vor. Darin eingeschachtelt ist ein weiteres Manuskript eines Romananfangs mit dem Titel "Der Henker", das der Romanheld kritisch rezensiert. Köves' Roman "Fiasko" handelt davon, dass dessen Held namens Steinig ebenfalls einen Roman über seine Erinnerungen vollendet habe, der von einem ungarischen Verlag zurückgewiesen worden sei.

Der Alte versetzt in seinem neuen Roman - dem "Fiasko"-Roman im "Fiasko" - sein Alter ego Steinig nach einer sechzehnstündigen Weltreise an einen Ort, der Budapest, aus dem er zu fliehen beabsichtigte, verräterisch ähnelt. Es ist die leere, zugige, verkommene Ruinenstadt vor der Revolution von 1956, an die sich der Ich-Erzähler in"Die englische Flagge" erinnert. Steinig dient dem Alten bzw. Kertész selbst dazu, die katastrophalen Zustände in Budapest (so die Ausdrucksweise in "Die englische Flagge") aus der Fremdperspektive eines Weitgereisten zu schildern, der sich erst allmählich die Regeln zu erarbeiten versucht, die ja auch dort gelten müßten (was nach Meinung des Erzählers in "Die englische Flagge"jedoch ein kapitaler Irrtum ist). Steinig fühlt, dass er zu lang und zu weit gereist sei, um sich von den ersten Erfahrungen am Flughafen gleich zur Umkehr bewegen zu lassen. Er ist wohlgemut, dass er die gesellschaftlichen Regeln und Gesetze des Handelns noch herausfinden werde, nach denen das Leben, Wohnen, Arbeiten, Treffen mit Freunden und die Liebe in der maroden Geisterstadt funktionieren.

Steinig lernt während des Aufenthalts im Spukbild des durch den Krieg und noch mehr durch den sowjetischen "Frieden" zerrütteten Budapest, Kränkungen wie die Ablehnung seines Manuskripts und diverse Kündigungen als Schicksalsschläge hinzunehmen, obwohl sie als Disziplinierungsmaßnahmen eines Unangepassten gedacht waren. Denn ein erzieherisches Ziel derartiger Disziplinierungsmaßnahmen kann er nicht erkennen. Im Gegenteil: das System hat es auf kontinuierliche Desorientierung mit dem Ziel der Willensaufgabe abgesehen. Einziger Fluchtort ist die "Südsee", ein Lokal, dessen Name Fluchtsehnsüchte weckt und gleichzeitig begräbt. Steinig trifft dort seinen Freund Felsen, der ihn eingeladen hat, mit ihm zusammen ein Lustspiel mit Happy-End zu schreiben, das Erfolg haben soll. Zu den Stammkunden der "Südsee" zählt ein trauriger Schriftsteller namens Berg, der sich plötzlich von seiner Geliebten, einem Serviermädchen, zurückzieht. Dieser Berg eröffnet Steinig, dass er die Rätsel des menschlichen Lebens zwischen Anklage, Schuld und Gnade lösen wolle. Es mangelt ihm nach Steinigs Urteil jedoch an der dafür nötigen Lebenserfahrung. Geschult durch die Erfahrung in drei verschiedenen Berufen, die man ihn an seinem neuen Bestimmungsort gezwungen hat auszuüben, nachdem er seine Kündigung als Zeitungsjournalist entgegennehmen musste, belehrt Steinig den Schriftstellerkollegen Berg über das wahre Leben als Inhalt einer Black box. Berg rede von ihm wie ein Blinder von der Farbe. Steinig jedoch hält sich für eingeweiht.

Der Grund, warum er überhaupt in der Geisterstadt herumkommt und Erfahrungen in verschiedenen Berufen sammelt, ist ein auffälliger Mangel an Ehrgeiz und Desinteresse für die Techniken des Machterwerbs und der Machterhaltung. Darin unterscheidet er sich von seinen Arbeitskollegen. Da er nicht durchschaut, welche Intrigenspiele seine ehrgeizigen Kollegen und Kolleginnen mit ihm treiben, lässt er sich willenslos, um Scherereien zu vermeiden, von ihnen für ihre kleinlichen Zwecke einspannen. Da Steinig in diesem System der Irreführungen nichts dazulernen und sich nicht wehren kann, gewöhnt er sich an die undurchschaubaren Arbeitsbedingungen und verhält sich passiv. Wenn eine anonyme, allwissende Clique seinen Berufsweg festlegt, enthebt dies Steinig der Eigenverantwortung. Wenn nicht andere, seine Freunde und Feinde, für ihn handelten, würde Steinig auf seinem einmal verliehenen Posten ausharren, so gut es ginge. Hätte Felsen ihm kraft seines Amts als Feuerwehroffizier nicht eine Anstellung als Journalist im Produktionsministerium verschafft, wäre Steinig also wohl mit einer Fabrikarbeiterin zusammengezogen und hätte mit ihr eine Familie gegründet, die sie nur benötigte, um ihren Anspruch auf eine größere Wohnung durchzusetzen. Wenn sich nicht die Sekretärin des Chefredakteurs Steinig angenähert und ihn nicht in ihrer Wohnung über die Konkurrenz- und Geschlechterkämpfe an seinem neuen Arbeitsort aufgeklärt hätte, hätte Steinig wohl noch ewig wunschgemäß Artikel über Neuerungen der Produktionsfabriken verfasst und den unsäglichen Dichterlesungen seines Chefs zugehört. Erst als Soldat im zermürbenden Dienst gegen einen anonymen Feind und als Gefängniswärter versucht Steinig seinen Gehorsam zu verweigern, indem er eine Ohnmacht und Krankheit vortäuscht. Aber auch in dieser neuen Position muss er sich in eine neue Hierarchie fügen, die sich als Variation des immer Gleichen entpuppt.

Die Dialoge, in denen sich Steinig in der Budapest irritierend ähnlichen Spukstadt Weltkenntnis anzueignen versucht, sind geschult an den Verhandlungen des Michael Kohlhaas mit den höheren Instanzen der Macht und an den Verhören, denen sich Josef K. in Kafkas Romanen stellen muss. Steinigs Kommunikationsverhalten schwankt zwischen einer Verwicklungen scheuenden Defensive und einer kampflustigen Offensive, zu der er dann übergeht, wenn er von seinem Gegenüber ausnahmsweise etwas lernen will. Versuche, Konfrontationen auszuweichen, bescheren ihm jedoch stets neue, größere. Die defensiven Abwehrstrategien mit dem Ziel, sich herauszuhalten, bringen Steinig nicht weiter. Nur Invasionen wie der Besuch bei Berg und das Betreten der Zelle eines Nahrung verweigernden Häftlings erweitern Steinigs Erfahrungsraum und zeigen ihm die Notwendigkeit auf, sich anzupassen und damit sich selbst aufzugeben. Zum Schluss ist Steinig folglich mit der Unberechenbarkeit als dem einzig gültigen Gesetz in diesem Spukbild vom Nachkriegs-Budapest so vertraut, daß er es vorzieht, dort zu bleiben, anstatt ins freie Ausland zu fliehen. Die ohnmächtigen Versuche Bergs und des Hungerkünstlers, dem Unterdrückungssystem und seinem Wärter Widerstand entgegenusetzen, versteht Steinig zum Schluss nicht mehr, weil es ihm selbst keine Beschwerde mehr bereitet, die ihm anvertraute Kugel wie Sisyphos den Berg hinaufzuschieben. Über den Sinn dieser Aktion hat ihn niemand informiert, und danach zu fragen, kam ihm nicht in den Sinn. Am Ende scheint er glücklich darüber zu sein, dass sich die Kugel, die man ihm gegeben hat, damit er sie den Berg hinaufwuchte, anscheinend mit der Zeit immer mehr abgenutzt und an Größe und Gewicht verloren habe. Steinig glaubt, daß er die Kugel, die er schieben muß, klein kriegt und hält, bescheiden geworden, die allmähliche Erleichterung bei seiner Arbeit, für sein Überleben zu sorgen, für sein Glück. "Felsen" und "Berg" erweisen sich hier als symbolische Namen für die moderne Sisyphos-Arbeit Steinigs. Das Fiasko des alten Köves, der einen Romanhelden namens Steinig erfindet, der mit seinem Romanmanuskript in Budapest dasselbe Fiasko erleiden musste wie jener, allegorisiert den Prozess, wie ein Individuum als Rädchen in einer totalitären Staatsmaschinerie abgeschliffen und eingepasst wird, und schreibt den antiken Sisyphos-Mythos um. Nur der Text des abgelehnten Romans über traumatische Entfremdungserfahrung als Auschwitz-Häftling zeugt gegen die totalitäre Ideologie der Angleichung und Selbstaufgabe, und er wird - wider Erwarten - am Ende doch gedruckt. Das Zeugnis von Köves' Häftlingszeit liegt vor, ebenfalls die allegorische Travestie seiner aktuellen Erfahrungen als Schriftsteller im kommunistischen Käfig, aber der Preis für beides ist sein Verzicht auf Auflehnung.

Am 25. November 1999 las Kertész den Anfang von "Fiasko" im Marburger Schloss vor. Leise und mit Sinn für die Rhythmik der Wiederholungen trug er die Gedanken des Alten vor, die auf beschränktem Raum um immergleiche fixe Ideen kreisen. Die Möblierung und Utensilien des Alten kannten die Zuhörer nach einer Stunde innig. Die Wut des Alten auf die ständig lärmende Mieterin über ihm und die Jammertiraden seiner Mutter drängten sich bei der Lesung szenisch in den Vordergrund und erzeugten Lachreiz, je beängstigender die Manie des Alten wurde, seinen Roman zu vollenden. In jedem Wort teilte sich den Zuhörern mit, daß hier ein Leiden am und ein Aufbegehren gegen den ungarischen Kommunismus literarisch gestaltet wurde, von dessen Ähnlichkeit mit den Zuständen eines Auschwitz-Häftlings wir bisher keine Vorstellung hatten.

Marcel Reich-Ranicki war mit seinem Urteil über "Fiasko" schnell fertig: er möge keine Romane über die Nöte eines Schriftstellers bei der Abfassung eines Romans. Wer damit Probleme habe, löse sie durch handwerkliches Können und eine gute Erfindung, anstatt sie im Roman selbst zum Thema zu machen. Es ist nur konsequent, dass wir über die Schwierigkeiten, die Reich-Ranicki dabei hatte, "Mein Leben" zu Papier zu bringen, gar nichts erfahren. Über seinen Zustand während der Rückerinnerung und des Schreibens unterrichtet er seine Leser nicht. Der Leser kann nur aufgrund einer Stilanalyse mutmaßen, dass es Reich-Ranicki wahrscheinlich vor allem auf die literarische Gestaltung der Episode im Warschauer Ghetto ankam und dass er der Liebe zu seiner Frau, die er damals kennenlernte, ein Denkmal errichten wollte. Ich habe den Verdacht, daß Reich-Ranicki "Fiasko" nicht über das erste Kapitel hinaus kannte, als er im "Literarischen Quartett" über die Qualität dieses Romans richtete. Die Pointe von "Fiasko" besteht darin, dass Köves, um über die Kränkung der Ablehnung des ersten Romans hinwegzukommen, einen zweiten zu Papier bringt, der den sozialistischen Alltag von Köves in seiner Wohnzelle in eine Allegorie verwandelt, und dass am Ende der Erstlingsroman wider Erwarten gedruckt wird. Das Schreiben unter den Bedingungen der Diktatur ist das Thema von "Fiasko". Viele Figuren, denen Steinig begegnet, klammern sich ans Schreiben und bitten ihn um ein wohlwollendes Urteil. Den alten Köves hält es am Leben. Ganz buchstäblich hält er sich mit seinen Übersetzungen finanziell über Wasser. Sie ermöglichen ihm, an seinem Roman weiterzuschreiben, schränken aber auch die Zeit ein, die er dazu braucht, um die richtige literarische Form für seinen Zeitzeugenbericht zu finden.

Auch die Erzählungen "Der Spurensucher", "Die englische Flagge" und "Protokoll" überführen Lebenserfahrungen, über die Kertész in seinen Aphorismen und Essays seine Leser unterrichtet, in Literatur: Die erste Erzählung hebt durch surrealistische Visionen und Begegnungen vom Boden der Realität ab und überspitzt den Schuldkomplex, den jeder ehemalige Häftling ohnehin schon hat, indem der "Beauftragte" am Schluss erfährt, dass ein Gespräch mit einer in Trauerkleider gewandeten Buchenwald-Überlebenden diese wahrscheinlich zum Selbstmord getrieben habe. Das "Protokoll" erweist sich als Travestie eines Kriminalromans, in dem der Schuldlose verfolgt und überführt wird und die Detektive dafür verantwortlich sind, den Unschuldigen schuldig zu erklären. Dem ehemaligen Häftling, der es bereits gewohnt ist, schuldlos angeklagt und verurteilt zu werden, widerfährt dieses Schicksal von einer Gruppe ungarischer Zöllner, die ihn dazu zwingt, an der ungarisch-österreichischen Grenze wegen nicht-deklarierten Devisenbesitzes umzukehren und ohne Geld auf Umwegen nach Hause zurückzufahren. In "Die englische Flagge" besteht die Kunst der Erzählung darin, die Umstände zu rekonstruieren, die dazu führten, dass der Erzähler zum Augenzeugen der Revolution und ihrer brutalen Niederschlagung in Budapest wird, ohne politisch-moralisch Partei zu ergreifen. Er erzählt die Geschichte vom englischen Jeep, der am 23. Oktober den Budapestern ein hoffnungsvolles Zeichen der Solidarität vermittelte, just zum Zeitpunkt einer neuerlichen Revolution, deren Vorbereitungen er ebensowenig wie diejenigen von 1956 miterlebt, geschweige denn: mitgeprägt hat.

Das Glück des Künstlers

Der Erfolg macht glücklich, weil er Genugtuung ist für den quälend langsamen Schreibprozess, der der "Pflicht" Genüge leisten sollte, Zeugnis abzulegen. In Deutschland mit "weiter leben" zur Bestseller-Autorin avanciert zu sein, erfüllte Ruth Klüger mit Genugtuung. Sie triumphierte und umarmte ihre kalifornischen Kollegen, als sie, die berühmte, gefeierte Autorin, nach ersten Lesetourneen aus Deutschland zurückkehrte. Als ich Imre Kertész am 29. November ein Exemplar seines zur Frankfurter Buchmesse im Oktober 1999 erschienenen Romans "Fiasko" zum Signieren reichte und ihn darauf aufmerksam machte, dass dies bereits ein Exemplar der zweiten Auflage sei, strahlte er vor Glück.

Ist sie nun vollendet, "diese Galeerenbankarbeit der Selbstdokumentation", an der sich Kertész festhielt "wie an einem Ruder", das ihn "persönlich vorwärts bringt"? Am Ende der Aufzeichnungen im "Galeerentagebuch" liegen drei Romane fertig vor. Sie geben Zeugnis, das nicht anders als in erzählerischer Form hätte abgelegt werden können. Das Schreiben über sich selbst, als wär's ein anderer, die Konzentration auf das Werk, die Beobachtung, wie die Frucht reift, erzeugen Glücksgefühle. Melancholie erfüllte Kertész, sobald die Geburten seiner Phantasie objektive Gestalt angenommen hatten und das Leben von György Köves alias Steinig fremd vor ihm lag. Am Ende des "Galeerentagebuchs" vergleicht Kertész das Glück seines Künstlertums mit dem eines armen Spielmanns, der in jeder seiner wenigen freien Minuten in seine Zelle zu seinem schäbigen Instrument zurückkehrt, um über ein gleichbleibendes Thema zu improvisieren. Fremde Ohren registrierten in den unermüdlichen Wiederholungen desselben Themas in unendlich vielen Abwandlungen vielleicht nur das Pathologische: das Katatonische, das Theodor. W. Adorno in der "Philosophie der Neuen Musik" als Charakteristikum der archaische Kollektiverfahrungen zum Tönen bringenden Ballettmusik des "Sacre du Printemps" erklärt hat.

"Würden die Töne, die er dem Instrument entlockt, aufstehen und, gleichsam ineinander verdichtet, in der Luft gefrieren, würden wir vielleicht ein Eiskristallgebilde erblicken, an eine verkrampfte katatonische Bewegung erinnern, worin, bei genauer Betrachtung, zweifellos die Hartnäckigkeit einer Ausdrucksabsicht zu erkennen wäre, wenn auch nur die der Monotonie; setzen wir sie gar in Noten, könnten wir vermutlich die Umrisse einer sich mehr und mehr verdichtenden Fuge herauslesen, die immer entschlossener zu ihrem Ziel durchbricht, dabei aber dieses Ziel immer weiter fortschiebt, fortstößt von sich, und so wird es immer ungewisser."

Auf den mechanischen Ablauf des Rituals komme es mehr an als auf die gespielten Töne, die der arme Spielmann ohnehin nicht hört. Seitdem sind neue Erzählungen entstanden. Ein neuer Roman ist im Entstehen, der nach Kertész "die letzte Perspektive enthalten [soll], die ich auf Auschwitz werfe". Liebe und Erlösung werden als neue Themen angekündigt. Imre Kertész versichert gleichwohl Iris Radisch, die ihn für die "Zeit" befragte, auch in Zukunft werde in seinem Schreiben nicht zu viel Positives durchsickern, trotz des Glücks der Auszeichnung mit dem Literaturnobelpreis.

Hat Kertész seit der politischen Öffnung Ungarns, seitdem er auf Reisen neues Glück erfährt, an "Tiefe" verloren, wie Freunde im Westen argwöhnten? Der Schriftsteller protestiert: "Wie denn das? Sollten das Sklaventum und der Diktatur-Infantilismus meine 'Tiefe' erzeugt haben? Die Tatsache, daß ich vierzig Jahre lang gegen meine Natur, überhaupt gegen die Natur gelebt habe?" Ich fühle mich an Werturteile über Johann Christian Günther erinnert, dessen poetische Qualitäten seit Goethe mit seinem tief unglücklichen Leben, dem sinnlosen Kampf gegen den Vater, erklärt werden. Wäre er glücklich gewesen, hätten wir nicht seine kostbaren, dem Leiden abgetrotzten Gedichte! Seine jüdische Herkunft ermächtigte Kertész dazu, Mechanismen der Macht, denen er selbst ausgesetzt war, besser zu durchschauen als Nicht-Juden.

"Aber dank meines Judentums habe ich eine Erfahrung gemacht, und zwar die allumfassende Erfahrung menschlichen Ausgeliefertseins im Totalitarismus. Wenn ich Jude bin, heißt das also, daß ich Negation bin, Negation menschlichen Hochmuts, Negation von Sicherheit, ruhigen Nächten, friedlichem Seelenleben, Konformismus, freier Entscheidung, nationaler Selbstherrlichkeit."

Wer Nietzsche und Freud als Aufklärer der dunklen Triebnatur schätzt, wird auch in Kertész, der ihre Schriften übersetzt und selbst den arglosen, eingeschränkten Blick des Schicksallosen wie ein historiographisches Vergrößerungsglas erprobt hat, den Erben der Aufklärung anerkennen. Kertész' Altersweisheit enthüllt in jedem neuen Werk tiefer das Wesen des 20. Jahrhunderts. Das Glück für seine Leser liegt in der Erkenntnis, die Kertész' Werke vermitteln, wie gefährlich und gefährdet der Mensch ohne Schicksal jederzeit sei. Erweitern wir unsere Vorstellung von Klassik und Klassizität um Kertész' durch Auschwitz bedingte Poetik des Schicksallosen als Anti-Helden. In Ungarn soll der "Roman eines Schicksallosen" Schullektüre werden. In Deutschland sollte neues Interesse für die ungarischen Autoren erwachen, mit denen Kertész in seinen Werken Gespräche führt, mit Ernö Szép, Antal Szerb, Deszö Szommory, Sandór Márai und Béla Balász. Die Auszeichnung von Kertész Werk mit dem Literaturnobelpreis eröffnet hoffentlich auch das Tor zu den Repräsentanten der ungarischen Kulturgeschichte, auf die sich Kertész beruft.

Redaktionelle Anmerkung: Am 9. Dezember 2002 wird dem Schriftsteller Imre Kertész in Stockholm der Nobelpreis für Literatur verliehen. Der Artikel der in Bern lehrenden literaturwissenschaftlerin Barbara Mahlmann-Bauer erscheint hier ohne Fußnoten, Zitatbelege und weiterführende Literaturhinweise. Die vollständige Version ist Abonnenten von literaturkritik.de hier als rtf-Datei zugänglich

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Imre Kertész: Eine Gedankenlänge Stille, während das Erschießungskommando neu lädt.
Übersetzt aus dem Ungarischen von György Buda, Géza Dereky, Krisztina Koenen, Laszlo Kornitzer, Christian Polzin, Kristin Schwamm und Christina Viragh.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1999.
157 Seiten, 7,50 EUR.
ISBN-10: 3499225719

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Imre Kertész: Kaddisch für ein nicht geborenes Kind. Roman.
Übersetzt aus dem Ungarischen von György Budo und Kristin Schwamm.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1999.
157 Seiten, 7,90 EUR.
ISBN-10: 3499225743

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Imre Kertész: Fiasko. Roman.
Übersetzt aus dem Ungarischen von György Buda und Agnes Relle.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2001.
443 Seiten, 9,90 EUR.
ISBN-10: 3499229099

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Imre Kertész: Der Spurensucher.
Übersetzt aus dem Ungarischen von György Buda.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2002.
129 Seiten, 11,80 EUR.
ISBN-10: 3518223577

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Imre Kertész: Die englische Flagge. Erzählungen.
Übersetzt aus dem Ungarischen von Kristin Schwamm.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2002.
185 Seiten, 8,50 EUR.
ISBN-10: 3499225727

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Imre Kertész: Galeerentagebuch. Roman.
Übersetzt aus dem Ungar. v. Kristin Schwamm.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2002.
317 Seiten, 8,50 EUR.
ISBN-10: 3499225751

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Imre Kertész: Ich - ein anderer. Roman.
Übersetzt aus dem Ungarischen von Ilma Rakusa.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2002.
127 Seiten, 7,50 EUR.
ISBN-10: 3499225735

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Imre Kertész: Roman eines Schicksallosen.
Übersetzt aus dem Ungarischen von Christina Viragh.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2002.
286 Seiten, 8,90 EUR.
ISBN-10: 349922576X

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