Sehr geehrter Herr Chandos

Neue Antworten auf den "Chandos-Brief" Hofmannsthals

Von Christoph JürgensenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christoph Jürgensen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am 18. Oktober 1902 erschien in der Berliner Zeitung "Der Tag" unter dem schlichten Titel "Ein Brief" ein Text Hugo von Hofmannsthals, der zu dem Gründungsdokument der (Wiener) Moderne schlechthin werden sollte. Die Wirkmächtigkeit dieses fiktiven Briefes gründet dabei in seiner grundlegenden Widersprüchlichkeit: In klassischer Form wird die Geltungskraft der Sprache selbst in Frage gestellt, gerade die Sprachskepsis wird hier wortgewaltig intoniert.

Datiert ist das Schreiben auf den 22. August 1603, das Ende des elisabethanischen Zeitalters. Ein junger Mann namens Lord Philipp Chandos schreibt an den berühmten englischen Rationalisten Francis Bacon, den er als väterlichen Mentor angespricht, um sich für das Ausbleiben jeglicher poetischer Produktion zu entschuldigen. Hofmannsthal greift hier auf ein literarhistorisches Modell zurück, das sich in der zweiten Epistel des Horaz finden lässt. Dort antwortet Horaz seinem Freund Florus, der sich beklagt hatte, keine Verse mehr vom Dichter zu erhalten. Verantwortlich für dieses Versäumnis sei, rechtfertigt Horaz sich, dass "Stück um Stück [...] der Jahre Fortgang uns vom Lebensgute" raubt: "entführt haben sie Frohsinn, Liebe, Becherrunde und Jugendspiel. Nun streben sie mir auch die Leier zu entwinden."

Hofmannsthals Brief ist sozusagen eine freie Variation über dieses Modell. "Was ist der Mensch, daß der Pläne macht", klagt der junge Chandos zu Beginn zwar noch recht lapidar, doch schnell wird die Reichweite seiner Krise deutlich: "Es ist mir völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgendetwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen." Die abstrakten Worte, die Begriffe zerfielen ihm "im Munde wie modrige Pilze", wie die berühmteste Formulierung des Briefes lautet. Mit diesem Sprachverlust ginge zugleich ein Weltverlust einher, so dass Chandos sich nicht einmal mehr in der Lage sehe, die Ereignisse des alltäglichen Lebens zu verstehen.

Wie hätte aber die Antwort Bacons lauten können, für den doch die Befreiung von allen Sprachillusionen nicht nur keine Katastrophe, sondern vielmehr gerade die Voraussetzung von wahrer Erkenntnis war? Und was hätte der englische Empirist auf das Ende des Briefes entgegnet, das von "Offenbarung" und von "göttlichem Gefühl" spricht und davon, dass "wir in eine neues, ahnungsvolles Dasein treten, wenn wir anfingen, mit dem Herzen zu denken"? Und kommt Hofmannsthals Brief auch heute noch an, findet er immer noch aufmerksame und verständnisvolle Empfänger?

Kürzlich kam die F. A. Z. nun auf die ebenso naheliegende wie reizvolle Idee, zum hundertjährigen Erscheinen des Briefes 34 so unterschiedliche Schriftsteller wie etwa Ilse Aichinger, Louis Begley, Georg Klein oder Feridun Zaimoglu um ihre ganz persönlichen Entgegnungen auf Lord Chandos zu bitten, die in "Lieber Lord Chandos. Antworten auf einen Brief" nun versammelt vorliegen. Die Repliken sind daher naturgemäß sehr unterschiedlich ausgefallen: Einige der Autoren bedienen sich für ihre Antwort der Figur Francis Bacons, andere unterschreiben mit eigenem Namen oder erfinden neue Masken, wie etwa J. M. Coetzee, der die junge Ehefrau von Chandos zu Wort kommen lässt.

Bedauerlich ist bei dieser Vielfalt der Redeweisen allerdings, dass viele Antworten das durch Hofmannsthal vorgegebene Reflexionsniveau deutlich unterbieten. James Salter etwa formuliert abgeklärt, dass Chandos "an den Kümmernissen der Jugend" leide: "Später im Leben wird es andere Probleme geben." Und auch die "Postkarte" von Felicitas Hoppe, auf der sie Chandos seine "Rhetorik für Männer" vorwirft, "denen es nicht gelingt, in das Fremde der Dinge vorzudringen", schlüsselt das sprachskeptische Dilemma nicht ansatzweise auf, so wenig wie dies der leidlich amüsante, forcierte Kraftmeiergestus zu leisten vermag, mit dem Zaimoglu auf den "vermiezte[n] Vanilleputzi" losgeht. Amüsant ist zumindest die Idee von Thomas Hettche, Lord Chandos während der Zubereitung eines Pilzgerichts (!) eine E-mail zu schreiben.

Von beeindruckender Ernsthaftigkeit und selbstreflexiver Offenheit ist dagegen die Antwort Wolfgang Hilbigs, der Hofmannsthals Brief als einen Versuch liest, dem drohenden Zerfall der Literatur Widerstand zu bieten. Hilbig fügt der Schraube der Hofmannsthalschen Sprachskepsis sogar noch eine weitere Drehung hinzu, wenn er gesteht, dass er die Fähigkeit zusammenhängend zu denken gar nicht erst verlernen konnte, da es ihm nie gelungen sei, "eine solche Fähigkeit zu erlangen". Überzeugend ist auch Klaus Blödls Übersetzung der Sprachkritik in einen lebensweltlichen Zusammenhang: Beim Lesen des Briefes habe es zu schneien begonnen, das "Weichbild der Stadt schien im Flockengewirbel völlig ausgelöscht", und dem Autor scheine sich dieses Schneegestöber und das Zeichengestöber Hofmannsthals zu überlagern. Schön ist schließlich der Einfall Heinrich Deterings, der seine erhellende, Francis Bacon zugeschriebene Entgegnung folgendermaßen beginnt: "Mylord, mein Freund - mir fehlen die Worte."

Glücklicherweise fehlten dann aber doch weder Detering noch den anderen Beiträgern die Worte, so dass insgesamt ein durchaus gelungenes, abwechslungsreiches Brief-Konvolut entstanden ist, in dem einige originelle und kluge Briefe für andere, etwas (zu) nonchalante Antworten entschädigen. Überdies, und das ist nicht der kleinste Vorzug dieses Buches, lässt sich "Lieber Lord Chandos" als kleiner Streifzug durch die Gegenwartsliteratur lesen, der mit einer Vielzahl von Schreibweisen bekannt macht.

Titelbild

Hubert Spiegel / Oliver Vogel / Roland Spahr (Hg.): Lieber Lord Chandos. Antworten auf einen Brief.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2002.
256 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-10: 3100751183

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch