Das Schweigen brechen

Der Marburger Literaturpreis 2002 ging an Thomas Lang (Hauptpreis) und Markus Orths (Förderpreis)

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine Laudatio, lesen wir im Lexikon, ist eine Lobrede allgemein oder eine auf eine Person. Das Wort kommt aus dem Lateinischen und bedeutet heute vor allem die Lobrede auf den oder die Preisträger bei Preisverleihungen. Es gibt dann noch die Laudatio funebris, das ist wiederum Lateinisch und bedeutet die Leichenrede, also die Lobrede auf Verstorbene. Sie ist eine wichtige Quelle antiker Biographik, wäre jedoch im Falle unserer Preisträger verfrüht, sollen hier doch Autoren gewürdigt werden, die quasi noch am Anfang ihrer produktiven Lauf- und Lebenswerkbahn stehen. Eigentlich wäre eine Art Taufrede das Angemessene.
Die Rhetorik unterschied drei Arten der Festrede, wobei für unseren Zweck nur der sogenannte Panegyrikos in Frage kommt. Das Wort kommt diesmal aus dem Griechischen, von panegyris, und bedeutet Festversammlung. Die panegyrische Rede wäre demnach eine Prunkrede im hohen Stil. Mein Lexikon sagt mir, zum hohen Stil gehöre es, konkrete Informationen zu vermeiden und Namen zu umschreiben.
Das wiederum, "konkrete Informationen zu vermeiden", kommt mir aus zwei Gründen sehr gelegen: 1. Die Preisträger waren der Jury bis vor kurzem völlig unbekannt, und ich könnte eigentlich nur die wenigen dürren Daten ad personam verlesen, die in den Büchern und - natürlich - im Internet zu finden sind. Und 2. Über die eigentliche Arbeit der Jury, unsere Diskussionen, unsere Entscheidungsfindung, kann ich Ihnen auch wenig verraten, denn die sind bzw. ist vertraulich.
Beginnen wir mit dem Förderpreisträger Markus Orths: Sein Roman, der hier ausgezeichnet wird, heißt "Corpus", und Corpus steht zum einen für "Corpus Christi", für den Leib des HErrn in der Abendmalsfeier. Die Marburger wissen damit viel anzufangen, fand hier doch 1529 das Marburger Religionsgespräch statt. Martin Luther und Ulrich Zwingli trafen sich hier in Marburg, um sich über die Auslegung des Abendmahls zu verständigen. Sie stritten über die Frage der Repräsentation Jesu im Abendmahl. Luther plädierte für die Realpräsenz Christi (Christus ist in Brot und Wein gegenwärtig), während Zwingli diese Gegenwart symbolisch fasste (Brot und Wein bedeuten Leib und Blut Christi). Noch heute erinnert in der Burg ein Historiengemälde an dieses denkwürdige Ereignis.
Doch zurück zu Markus Orths Roman "Corpus": Natürlich bedeutet Corpus - neben allgemein Körper - auch Wein, man sagt: der Wein hat Corpus, und in der Tat spielt der Wein in "Corpus" eine nicht unbedeutende Rolle. Die beiden Protagonisten nämlich, Paul und Christof, haben ihre Kindheit in einem Winzerdorf verlebt, und sie haben eines Abends heimlich in einem Schuppen eine Messe nachgespielt. In ihrem Spiel waren sie Priester, Messdiener und Gemeinde zugleich, haben sich Wein aus den Vorräten des Vaters gezapft und - fatale Entscheidung - statt Weihrauch Moltofill verbrannt. Der "teuflische Qualm" blieb nicht unentdeckt, Christofs Vater schritt ein - und musste es mit dem Leben bezahlen.
Gegeben ist also eine dargestellte Welt, in der zwei Halbwüchsige schuldig geworden sind und fortan ein reduziertes Leben führen. Ein Gespräch, das ihnen helfen könnte, bleibt aus: Pauls Stimme "blieb im Brustkorb stecken" heißt es, "eingegipst in der Kehle". Der andere, Christof, verstummte für "ein halbes Jahr" und ging dann unter die Mönche. Jahre später, zur eigentlichen - pardon - Handlungszeit unternehmen sie den Versuch, wieder Welt in sich aufzunehmen. Bei Christoph führt dies zu einer Begegnung mit einem jungen Pärchen, Kai und Ina, und - beinahe - zur "Preisgabe des Eigenen". Ob dieses Eigene die Homosexualität ist, die der Leser bei Christof vermuten darf, sei dahingestellt. Eine Qualität dieses kleinen Romans von Markus Orths ist es nämlich, dass uns der Autor nicht alles auf die Nase binden muss, was er über seine Figuren weiß, sondern dass er dem Leser Spielraum gibt, sich die Figuren selber zu erschließen. Das ist eine Eigenschaft, die - ich zumindest - bei vielen Erzählern vermisse, diese Gelassenheit gegenüber dem Stoff. Zwar geht es im Text auch um die Realpräsenz Gottes, doch haben wir es nicht mit einem allmächtigen, allgegenwärtigen Erzähler zu tun, der uns in seiner Rede ständig dominierte.
Ich persönlich glaube, dass Markus Orths ein Freund und Kenner der Romantiker ist. Zur Vorbereitung dieser Taufrede war es nützlich, auch den Erstling bei Schöffling zu lesen, den Erzählungsband "Wer geht wo hinterm Sarg?" (2001). Und wie der Titel schon signalisiert, handelt es sich bei den Texten um recht düstere Geschichten, so dass man sich bei diesen Fingerübungen literaturgeschichtlich erinnert fühlt an die Schrecken der schwarzen Romantik, an E. T. A. Hoffmann oder Edgar Allan Poe vielleicht. Die Erzählung "Sieben Arten, dem Tod zu begegnen" beispielsweise handelt von einer jungen Frau, seit kurzem Mieterin einer Wohnung, in der die Leiche der Vormieterin zwei Wochen unentdeckt lag. Nun kriechen Käfer aus den Dielen, Speckkäfer, deren Larven an Kadaver gehen. Und im Treppenhaus hockt eine alte Frau, nicht größer als ein Finger, eine "Humuncula", und gibt unappetitliche Geschichten von sich. Eine andere Erzählung, "Krakenkampf", macht das Erzählen selber zum Gegenstand: Es wird nämlich berichtet, wie ein Erzähler an der Unwahrscheinlichkeit seiner Geschichte scheitert: Schon nach kurzem winken seine Zuhörer ab und verweisen das Gehörte ins Reich der Fabel oder des haltlosen Geschwätzes. Und dennoch: obwohl wir schon derart gewarnt und gewappnet sind, zieht uns die Geschichte unentrinnbar in ihren Bann.
Dieser Erzählungsband hat für die Entscheidungsfindung der Jury keine Rolle gespielt, aber er bestätigt sie aufs Schönste. Auch er verweist auf ein Merkmal, das für Markus Orths' bisheriges Œuvre konstitutiv zu sein scheint: nämlich die Frage nach glückender bzw. nicht glückender Kommunikation.
Der bewährte Buchhandel, der Bücher wie die von Markus Orths vorrätig hält, hat in unserer Zeit virtuelle Konkurrenz bekommen. Wenn man bei "Amazon", dem Internet-Buchhändler, "Corpus" bestellen möchte, dann bekommt man als zusätzliche Serviceleistung eine kleine Liste angezeigt, von der es heißt:
Kunden, die sich diesen Artikel angesehen haben, haben sich auch die folgenden Produkte angesehen:
- "Wer geht wo hinterm Sarg?" Erzählungen von Markus Orths
- "Than". Roman von Thomas Lang.
- "Es gibt solche". Ein Buch von Nina Jäckle
- "Fremd Gehen". Ein Nachtstück von Antje Ravic Strubel
Man ist nicht wenig überrascht, diese beiden Namen so unmittelbar benachbart zu sehen. Immerhin hatte die Jury 662 Einsendungen zu verarbeiten, bereits erschienene Bücher ebenso wie Manuskripte im Rohzustand und Romane ebenso wie Gedichte, sogar Lehrgedichte, Aphorismen und Essays.
Bei der Pressekonferenz vor vier Wochen habe ich unseren Eindruck der Juroren wiederzugeben versucht, als die Juroren im Landratsamt eintrafen und 28 gelbe Postwannen erblickten, randvoll mit Manuskripten. Wir bekamen einen tüchtigen Schrecken, denn mit soviel Arbeit hatten wir eigentlich nicht gerechnet. Beängstigend war auch, dass die eingereichten Arbeiten von Beginn an einen recht guten Gesamteindruck machten. Weiter habe ich ausgeführt, dass unser Schrecken noch zunahm, als die ersten Texte, die wir uns anguckten, mehr als passabel erschienen: Wenn alle so gut sind, so unser Gedanke, wie sollen wir dann jemals entscheiden? Ich bekundete also mein Erblassen über das hohe Niveau der Arbeiten, und musste dann anderntags in der Zeitung lesen, ich sei über das Niveau der Arbeiten erschrocken, was genau das Gegenteil meint.
In knapp drei Monaten war über alle Einsendungen zu entscheiden. Wir mussten dabei 98 Prozent aussortieren, um dann noch Zeit für die 20 oder 30 Texte zu haben, die ernsthaft miteinander konkurrierten. Das geht nur, wenn man einigermaßen konzentriert und harmonisch zusammenarbeitet und sich über die unhintergehbaren Standards moderner Gegenwartsliteratur verständigt. Substanz war mehr als genug vorhanden, doch gab es andererseits auch hinreichend Texte unter den Einsendungen, die uns die Aufgabe erleichterten. Andere, die es bis in die zweite Runde schafften, waren gut und denkbar, hatten aber letztlich keinen oder nur einen Fürsprecher in der Jury - und mussten leider draußen bleiben.
Markus Orths, 1969 in Viersen (Westfalen) geboren, lebt in Karlsruhe, Thomas Lang, geboren 1967 in Nümbrecht, in München.
Am schwierigsten war die Entscheidungsfindung bei den letzten zwanzig und dann noch einmal bei den letzten vier, nur schwer miteinander vergleichbaren Texten bzw. Bewerbern. Auch Hilfskonstruktionen wie Proporzdenken - sollte nicht eine Frau unter den Preisträgern sein?, sollte nicht ein Lyriker darunter sein? - hätten uns da nicht wirklich weitergeholfen. Was uns half, war das Ernstnehmen und Gewichten der Argumente und Einwände der anderen Juroren sowie der Wille, eine gemeinsame Linie zu finden.
Die Jury aus Kathrin Groß-Striffler, der Preisträgerin der vormaligen Ausschreibung, Wilfried F. Schoeller, dem Literaturzar des Hessischen Rundfunks und Generalsekretärs des Deutschen P. E. N.-Zentrums und mir, dem Vertreter der Universität, harmonierte wunderbar. Ihr Ziel war es, trotz womöglich unterschiedlicher Auffassungen zu gemeinsamen Entscheidungen zu finden. Wilfried F. Schoeller plädierte von Anfang an für ein "klares Votum" der Jury, für einen Hauptpreis und einen Förderpreis, und gab damit eine klare Linie vor.
Es war bisher kaum die Rede vom Hauptpreisträger Thomas Lang, doch wer hebt sich nicht gern das Beste zum Schluss auf, um es dann unverhofft aus der Tasche zu zaubern?
Seine Bewerbung um den Marburger Literaturpreis war ein Glücksfall für die Jury, und mit seinem Buch "Than" zeichnet die Jury einen Roman aus, der in gewissem Sinne ein Widerspruch in sich ist: Er ist nämlich zugleich einfach und komplex; zugleich durchschaubar und unergründlich; gewitzt und schrecklich; beredt und verstummt. Mit "Than" zeichnet die Jury den Roman einer Verstörung aus, und diese Verstörung hat sich durchaus auf die Juroren übertragen.
Das Rätsel dieses Buches beginnt schon mit dem Titel - und ist mit dem Schluss noch nicht gelöst. Den Leser erwartet der kleine, fest umzirkelte Kosmos einer Insel im See, eine surreale, enge und beengende Welt. In knappen, stakkatohaft kurzen Sätzen erzählt Lang von der Krise seiner Hauptperson, Moritz Than. Unter dem Vorwand, eine Arbeit über das Inselkloster schreiben zu wollen, mietet sich Moritz Than in eine Pension ein. Nach einem Unfall hat er die Sprache verloren, und sprachlos kommuniziert er mit den Bewohnern des Eilandes.
Moritz will untertauchen, aber er fällt natürlich im Gegenteil auf in dieser überschaubaren, abgezirkelten Welt. Erst allmählich kehrt der Alltag zurück: "Ein Tag vergeht wie der andere und langsam tauche ich im Bewusstsein der Leute wieder unter, werde zu etwas, das sie nicht weiter beachten müssen. Das ist gut so. Ich will nicht mehr, als beobachten, wie das Eis wächst und den See versiegelt."
Dieser See fordert immer wieder seine Opfer. Erst kürzlich hat man jenseits des Sees einen toten Jungen gefunden, bereits festgefroren. Und es ist nicht der erste Fall dieser Art. Die Einheimischen haben Angst, und Ursel, die Töpferin fürchtet um ihre dreijährige Tochter: "Kinder, sagt sie, stehen praktisch immer mit einem Bein im Grab." Als Than ein Kind davor rettet, vom Eis in die Fahrrinne zu stürzen, feiern ihn die einen als Retter, während die anderen misstrauisch bleiben: "War es wirklich eine Rettung, oder war er nur gestört worden in seinem Versuch ein Kind zu töten?" Nachts versuchen Männer, ihn zum Reden zu zwingen. Sie halten ihn entweder für den Täter selbst oder glauben - nicht zu unrecht - dass er mehr weiß als er zugeben würde. Moritz Than isst nämlich täglich in der einzigen Gaststube, hört manches zufällig oder gezielt mit an und wird auf diese Weise Mitwisser: Durch das Dachfenster seiner Pension schaut er auf den Hof oder in den Himmel. Im Hof schlägt Hofer seinen Hund:
"Viermal. Fünfmal lässt er den Stock mit voller Wucht auf den Rücken des Tiers niedergehen. Plötzlich sacke ich nach unten. Das Waschbecken gibt nach. Erschreckt trete ich zurück. Mit kleinen Rucken prüfe ich das Becken. Es sitzt noch fest. Mit dem Handtuch entferne ich den letzten Schaum aus dem Gesicht. Das Winseln wird lauter, dann leiser."
Die Sätze sind kurz und klar, aber Thans Bewusstsein trübt sich ein. Er kann bald nicht mehr unterscheiden zwischen dem, was er sieht, und dem, was er träumt. Mit ihm wird auch der Leser unsicher, aber er muss der imaginierten Perspektive Moritz Thans weiter folgen. In der Werkstatt der Töpferin warten neue, schreckliche Bilder auf ihn: Videoaufnahmen erzählen von einer abgelebten Vergangenheit, Nicole, das dreijährige Töchterchen, liegt tot im Sessel.
Than weiß nun, dass er die Laufrichtung ändern muss. Das Ende des Romans zeigt ihn wieder im Krankenhaus, Wörter ausprobierend: "Ich will das Schweigen brechen." Sein Protokoll, der Roman einer Verstörung, liegt vor uns - in knapper Form und Gestalt bewahrt er sein Geheimnis.
Trotz großer Unterschiede haben beide Preisträger viel Gemeinsames. In ihren Texten manifestiert sich die Krise der Person in der dargestellten Welt durch den Erzählvorgang und wird immer mehr eine Frage glückender bzw. nicht glückender Kommunikation. In beiden ausgezeichneten Büchern gelingt es den Protagonisten nicht oder nur unter seelischen und körperlichen Schmerzen, ihre Bedürfnisse zu artikulieren. Und weil sie selber leiden, fügen sie auch anderen Leid zu. Damit artikulieren sie offenkundig auch ein Hauptproblem unserer Zeit - und ein preiswürdiges literarisches Werk muss, denke ich, der Komplexität unserer Realitätserfahrung angemessen sein.

Titelbild

Markus Orths: Wer geht wo hinterm Sarg? Erzählungen.
Schöffling Verlag, Frankfurt a. M. 2001.
160 Seiten, 15,50 EUR.
ISBN-10: 3895610933

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Titelbild

Markus Orths: Corpus. Roman.
Schöffling Verlag, Frankfurt a. M. 2002.
218 Seiten, 18,50 EUR.
ISBN-10: 3895610941
ISBN-13: 9783895610943

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Titelbild

Thomas Lang: Than. Roman.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2002.
188 Seiten, 16,50 EUR.
ISBN-10: 3803131669

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