Zwei Seiten Schrift, zwei Stunden Leben

Marcel Reich-Ranicki porträtiert sieben Schriftsteller des 20. Jahrhunderts

Von Gert UedingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gert Ueding

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die deutschen Literaturkritiker sind ein merkwürdiges Völkchen: Wenn es einem von ihnen gelingt, Bücher wieder zum allgemeinen Gesprächsgegenstand zu machen und sogar einige von den Literaturhistorikern unter Bergen von Sekundärliteratur verschüttete Autoren wieder mit einem lebendigen Lesepublikum zu verkuppeln, finden sie das degoutant – jedenfalls, wenn es sich um Marcel Reich-Ranicki handelt.

Natürlich sind 14 von den 15 Essays, die er seinen „Sieben Wegbereitern“ gewidmet hat, in der einen oder anderen Form (meist in der „FAZ“) schon veröffentlicht oder als Vortrag zu mehreren Gelegenheiten gehalten; die Nachweise sind im Anhang penibel verzeichnet. Sie wurden zwar für den Neudruck (nicht ganz wiederholungsfrei) überarbeitet, ergänzt, aufeinander abgestimmt, aber wer sich im Literaturbetrieb professionell auskennt, dem sind in der Regel die Ansichten und Thesen Reich-Ranickis über Schnitzler, Thomas Mann, Döblin, Kafka, Tucholsky und Brecht vertraut; allein der Musil-Essay mag ihm dann noch interessant (oder anstößig) erscheinen.

Doch die Adressaten dieses Buches sitzen nicht in Redaktionsstuben oder auf germanistischen Lehrstühlen, sondern in den Stadt- und Volksbibliotheken oder in ihrer Stammbuchhandlung. Es sind die Leser, die sich ihr Leben nicht ohne Bücher vorstellen können, gerade weil sie professionell nicht verbogen sind; denen also Kafkas „Schloß“ immer noch den Atem verschlägt und die Döblins Biberkopf auf seiner Irrfahrt durch Berlin mit Mitleid und Wut im Herzen begleiten.

Die aber auch höchst begierig zugreifen, wenn ihnen ein leidenschaftlicher Kenner die fremde Welt vertrauter macht, aus der diese Bücher kommen, ihnen nicht allein die „zwei Seiten Schrift“, sondern auch die „zwei Stunden Leben“ (Kafka) aufschlägt, die dazugehören. Denn das macht den unverwechselbaren Reiz dieser Essays aus: sie sind nicht aus der Entfernung geschrieben, mit jener wissenschaftlichen oder kritischen Attitüde des Hieb- und Stichfesten, die dem Geist gerade da das Leben austreibt, wo er recht eigentlich zu Hause ist-in den Büchern der großen Schriftsteller.

„Dem Existierenden ist das Existieren das höchste Interesse und die Interessiertheit am Existieren die Wirklichkeit.“ Das Wort stammt von Kierkegaard und hätte ein treffendes Motto für Reich-Ranickis Buch abgegeben. Die Bücher, man weiß es, sind sein Lebenselement; was man selten beachtet, ist, dass sein gerühmter oder geschmähter Umgang mit ihren Autoren daraus notwendig folgt. Ob der „Erwählte“, also Gregorovius, ob Franz Biberkopf oder Ulrich, der Mann ohne Eigenschaften: Sie alle werden von ihm ins Leben geholt, zum Existieren gebracht. Das Verfahren gleicht dem des Regisseurs, der die Charaktere eines Stücks schon in der Planungsphase sich verkörpern lässt, in Rede und Gegenrede, in Aktion und Reaktion, also im gemeinsamen Spiel, erprobt und Kontur gewinnen lässt-nicht etwa einer germanistischen Analyse unterzieht. Derart verkörpert auch Reich-Ranicki die Figuren „seiner“ Bücher, und da er kein Theater dafür zur Verfügung hat, schlüpft er kurzerhand selber in die Rollen, und die Zitate, die er auswählt (er zitiert ja viel, gern und ausführlich), sind immer mit seiner Stimme gesprochen.

Natürlich benötigt er stärker als bei jeder anderen, der Literatur ja doch nur heteronom aufgedrungenen Methode den Verfasser des jeweiligen Buches. Er braucht ihn als Mitspieler auf seiner Bühne. Auch wenn er widerstrebt und die Öffentlichkeit scheut wie Franz Kafka oder sich gerne als veritables Ekel etabliert wie Robert Musil, sie müssen alle vorne an die Rampe. Das führt dann ganz selbstverständlich zu Konsequenzen, die jeder Germanist als einen Sündenfall im Umgang mit Büchern zu geißeln gelernt hat: „Was sich damals abgespielt hat, sagt der Ich-Erzähler, sagt der Autor des Romans.“ Sträuben sich da nicht alle wissenschaftlichen Haare?

Reich-Ranicki weiß natürlich, dass solche Identifikationen eigentlich streng verboten sind. Doch ist er vor Provokationen nie zurückgeschreckt, sie sind ihm eine Lust (deshalb seine Sympathie für den ständig Anstoß suchenden Alfred Döblin) und in diesem Fall auch sachlich notwendig. Er muss den Autor in sein Spiel mit den Büchern mischen, wenn er ihnen existenzielles Interesse abgewinnen will, um sie auch für die Leser zur Wirklichkeit zu machen.

Ist man einmal auf diesen Grundzug gestoßen, versteht man den Erfolg des Kritikers Reich-Ranicki und erkennt das Elixier, das seinen Essays und den meisten seiner Rezensionen Lebendigkeit verleiht. Mit höchster Zustimmung zitiert er Hofmannsthals Brief-Notiz an Schnitzler: „Fast beneide ich diejenigen, die nach uns einmal in ihren Tagebüchern lesen und wochenlang ganz darin leben werden.“ Thomas Manns Tagebücher begeistern ihn aus einem einzigen Grund, eines „aufschreckenden Erlebnisses“ wegen: Sie vermitteln uns „die Begegnung mit uns selber“. Der Döblin-Essay trägt den vertraulichen Titel: „Unser Biberkopf und seine Mieze“. So könnte man fortfahren im Sammeln der Belege, sie verweisen alle auf dasselbe Verfahren.

Für Reich-Ranicki hat „Methode“ noch den ursprünglichen griechischen Sinn, der unserem szientifischen, doch geistfernen Denken abhanden gekommen ist: den Weg mit der Sache, mit dem Gegenstand, mit den Figuren der Dichtung gehen – nicht über sie befinden. Tatsächlich ist sein Ruf eines Schulmeisters der Literatur, eines Papstes gar, ein Missverständnis. Gewiss, wenn er die Literatur in sein Lebens-Spiel zieht, dann geschieht das sicher nicht (um es mit seinen Worten zu sagen) in knieender Haltung, sondern aufrecht, in offener Begegnung, manchmal respektlos (Kafka), manchmal voller Liebe (Thomas Mann), oft vergnügt („Der Erwählte“), gelegentlich höchst missgestimmt (Musil), aber immer gesprächig, interessiert, neugierig darauf, was sich hinter den Fassaden, den Ausflüchten, den Trutzburgen deutscher Schriftsteller abspielt.

Solcher Haltung ist jeder Marmor, jede wissenschaftliche Einsargung verdächtig, ja verhasst. Wie es Reich-Ranicki gelingt, auch längst zu Ikonen erstarrte Figuren wie Kafka oder Thomas Mann wieder lebendig zu machen, so dass es auch dem Leser ermöglicht wird, mit ihnen zu gehen, vermag keiner, auch keiner seiner Kontrahenten so wie er. Selbst der Musil-Essay, der schon so viel Widerspruch erregte, ist dafür ein gutes Beispiel. Denn weil sich der „Mann ohne Eigenschaften“ der Verkörperung entzieht, weil er ein streckenweise missglückter, im ganzen toter Artefakt bleibt (und deshalb bei Wissenschaftlern so beliebt), ist er für Reich-Ranicki Zeugnis eines erzählerischen „Zusammenbruchs“.

Das Resümee folgt also aus einer großen Enttäuschung: Aus Musils Roman stiegen nur Papierfiguren, leblos und kalt, zum Gespräch, für einen gemeinsamen Weg ungeeignet. Da erweist sich ein sonst nicht vergleichbarer Autor wie Kurt Tucholsky als zugänglicher, interessanter, aspektereicher Wegbegleiter, auch wenn ihm Erzählungen wie die von Reich-Ranicki hochgerühmten „Leiden des Zöglings Törless“ nie geglückt sind. So ist die Liste der in diesem Buch versammelten Schriftsteller gewiss nicht homogen, und untereinander konnten sie sich häufig nicht ausstehen. Doch der Gesprächsfaden, den Reich-Ranicki durch ihr Leben und Werk zieht, ist an gemeinsamen Leitmotiven orientiert: an der Auseinandersetzung mit dem Judentum, dem Leiden an Deutschland, der erotischen Ausnahme, der manischen Schreibsucht, um nur einige zu nennen. Sie verschweißen die einzelnen Szenen zu einem ganzen Stück, dessen Schlusswort Arthur Schnitzler sprechen könnte: „Ich empfinde es als meinen Beruf, Menschen zu gestalten, und habe nichts zu beweisen als die Vielfältigkeit der Welt.“

Titelbild

Marcel Reich-Ranicki: Sieben Wegbereiter. Schriftsteller des 20. Jahrhunderts.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2002.
250 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3421055149

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