Von Schlemíls, Knákers und Schmonzeß

Ein Lexikon zeigt, wie die jiddische Sprache die Vielfalt des Lebens erfasst

Von Ursula HomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Homann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die von Leo Rosten zusammengestellte kleine Enzyklopädie "Jiddisch" ist weder ein Wörterbuch des Jiddischen noch ein Sprachführer im herkömmlichen Sinne, noch ist sie für Fachleute oder für Schüler der jiddischen Sprache gedacht. Stattdessen wird uns hier ein sehr unterhaltsames Buch präsentiert über Sprache im allgemeinen und über den in Amerika vom Jiddischen beeinflussten gesprochenen Slang im besonderen. Es illustriert vortrefflich, in Wort und Bild, wie die jiddische Sprache die Vielfalt des Lebens erfasst und wie sich die Kultur der Juden, ihr Denken und ihre Gefühle in ihr widerspiegeln. Unterhaltsam ist das Lexikon aber auch deshalb, weil in seinem Hauptteil zur Unterstreichung der Wortbedeutungen Geschichten, Anekdoten und Witze, in denen Juden oft über sich selbst lustig machen, eingestreut sind.

Kein Wunder, dass die Enzyklopädie, die erstmals 1968 in den USA veröffentlicht wurde, dort seit langem ein Bestseller ist.

Das Lexikon beginnt mit "adójni, Adonai" (mein Herr) und endet nach über sechshundert Seiten mit "zútschepenisch", das nach einer Bedeutungsverschiebung heute im Amerikanischen so viel wie eine Zwangsvorstellung, ein Tick oder ein allzu anhänglicher Mensch bedeutet.

Zwischendurch werden die Entstehung des Jiddischen im Ghetto und seine weitere Entwicklung in West, Ost und Übersee beleuchtet. In anderen längeren Abschnitten geht es um jüdische Namen und Sefarden. So wird der Leser fast unversehens in die jüdische Kultur, Religion und Geschichte eingeführt und zwanglos mit den Grundelementen des Judaismus und einer lange verloren geglaubten Welt vertraut gemacht.

Selbst wer sich im Jiddischen einigermaßen auskennt, erfährt noch einiges Neues, zum Beispiel, dass der Begriff "jiddisch" erst auf dem Umweg über Amerika nach Deutschland gelangt sein soll, wie der deutsche Übersetzer Lutz-W. Wolff in seinem Vorwort behauptet. "Bis zum Ende des 19.Jahrhunderts", schreibt er, "wurde die Sprache der aschkenasischen, also der mittel- und osteuropäischen Juden als ,Jüdisch-Deutsch', ,Iwre-Deutsch' und ,Judendeutsch' bezeichnet." Goethe selbst berichtet in "Dichtung und Wahrheit", dass er das 'barocke Judendeutsch' erlernt habe.

Man erfährt auch, dass das älteste jiddische Sprachdokument in einem Wormser Gebetbuch aus dem Jahr 1272 gefunden wurde. Hierbei handelt es sich um einen Segenswunsch: "gut tak im betage/se war dis machsor in beß hakkeneßeß trage!" "Ein guter Tag sei dem beschieden, der dies Gebetbuch in die Synagoge trägt."

Obwohl das Jiddische erst Mitte des 19.Jahrhunderts zur Literatursprache wurde, hat es seither eine beachtliche Fülle von Geschichten, Gedichten, Romanen, Essays und gesellschaftskritischen Schriften hervorgebracht und ist älter als das heutige Englisch.

Jiddisch gilt ferner als der Robin Hood unter den Sprachen. Es stiehlt bei den sprachlich Reichen und beschenkt mit seiner Beute die Armen und Schwachen. Dabei nimmt es auch gern Gäste auf. So bemerkte der Journalist Charles Rappaport einmal: "Ich spreche zehn Sprachen - alle in Jiddisch."

Das Jiddische ist voll Ironie und Spott, denn die einzige Möglichkeit, in einer schrecklichen Welt nicht den Verstand zu verlieren, bestand für Juden darin, der Grausamkeit mit verzweifeltem Humor zu begegnen. Im tiefsten Innersten kennt das Jiddische allerdings auch die Sentimentalität.

Was jedoch an ihm ganz besonders besticht, ist die Tatsache, dass es nie von den Mächtigen dieser Welt benutzt worden ist, weil es, im Gegensatz zum Hebräischen, der offiziellen Sprache des Staates Israel, keine Armee hat, keine Marine, keine Polizei und keine Regierungsgewalt. "Es hat nur leidenschaftliche Freunde."

In Israel, wo Hebräisch die Staatssprache ist, soll Levi Eschkol, der von 1963 bis 1969 Premierminister war, im Kabinett gelegentlich jiddisch gesprochen haben - was man ihm sehr übel nahm. Wenige Sprachen haben ein so prekäres Leben geführt wie das Jiddische, wohl kaum eine andere Sprache war innerhalb des Volkes, das sie hervorgebracht hat, so umstritten wie Jiddisch.

Die Generationen, für die das Jiddische noch eine Stimme war und kein Echo, sind wohl im Schwinden begriffen oder gänzlich verschwunden, betont Lawrence Bush, der das Buch aktualisiert und kommentiert hat. Leider habe sich die Lücke, die von den Verbrennungsöfen der Nazis gerissen wurde, als unüberwindlich erwiesen. Aber es gibt eine Überlebensstrategie für das Jiddische, die Leo Rosten (Rosten wurde 1908 in Lodz geboren und wanderte 1912 mit seinen Eltern nach Amerika aus) ergriffen hat. Er habe erkannt, so Busch, dass die amerikanische Kultur das neue Heimatland der Jidschikajt geworden ist. Denn das Jiddische hat die amerikanische Sprache mitgeformt, mit Wörtern und Redensarten sowie bestimmten Sprachgewohnheiten. Das Jiddische vermag nämlich durch besondere Betonungen Zuneigung, Mitleid, Missfallen, Skepsis, Spott oder anderes auszudrücken, oft ohne dabei die Satzstellungen zu verändern.

Als Rosten sein Buch schrieb, interessierten sich nur chassidische Sekten und Judaisten für die Kabbala und die jüdische Mystik. Heute erlebt die jüdische Mystik eine bemerkenswerte Renaissance, sowohl in den Universitäten als auch im Theater, auf den Konzertbühnen, im Internet und sogar im Staat Israel, der das Jiddische lange abgelehnt und vernachlässigt hat. Offensichtlich übt ihr "Spiritualismus" auf die gegenwärtige Generation einen starken Reiz aus, vermutet Bush. Während die Zahl der Juden, die Jiddisch als Muttersprache angeben, ständig abnimmt, ist das Jiddische bei Nichtjuden populärer denn je. Das Musical "Anatevka" ("Fiddler on the Roof"), das sich mit dem jüdischen Leben in einem polnischen Schtetl beschäftigt, wurde nicht von ungefähr ein Welterfolg.

Da für die deutsche Ausgabe das Buch mit vielen Stichwörtern angereichert wurde, die uns aus der Alltagssprache bekannt sind, erweist es sich auch für deutsche Leser als wahre Fundgrube. Das jiddische Adverb "dáfke" beispielsweise wurde im Berlinischen zu "daffke" substantiviert und wird heute noch im Sinne von "zum Trotz" benutzt. "Det ha'ick aus Daffke gemacht."

Weniger bekannt als baldowern, das über das Rotwelsche ins Deutsche gelangte (laut Duden ist der "Baldówer" ein Auskundschafter), dürfte "awéjre", die Sünde, sein, die wörtlich genommen, eine Handlung gegen Gottes Willen meint oder allgemeiner jede unerwünschte oder unmoralische Handlung.

"Botúach" stammt aus dem Hebräischen "batúach" und heißt: "sicher" oder auch: "zuverlässiger kreditfähiger Mann". "Kleider machen Leute", heißt es zwar bei uns im Volksmund. Gleichwohl hat das deutsche Wort "betucht, wohlhabend" wohl nur indirekt oder volksetymologisch mit Armani oder anderen Nobelschneidern zu tun. Stammt doch der Ausdruck "betucht" von "botuach" ab.

Wem dürfte nicht schon die Mischpóche alias die Familie und liebe Verwandtschaft auf die Nerven gegangen sein und wer dürfte sich nicht schon über manche Schmonzeß, das heißt Blödsinn, seichte rührselige Machwerke im Theater oder Fernsehen so geärgert haben, dass er davon einen "rójges" bekam, was wiederum nichts anderes als Zorn bezeichnet, woraus sich die deutsche Redensart "einen Rochus auf jemanden haben" ableitet und woraus der Wiener Ausdruck "broiges" (jiddisch "brójges") zerstritten herrührt? Auch mit Schlemíls, Träumern, einfältigen Menschen und Angebern, den Knákers, hat man manchmal seine liebe Not.

Titelbild

Leo Rosten: Jiddisch. Eine kleine Enzyklopädie.
dtv Verlag, München 2002.
638 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-10: 3423243279

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