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"Norma Desmond." führt Marlene Streeruwitz ins dritte Jahrtausend

Von Alexandra PontzenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Pontzen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dystopien sind negative Utopien, literarisierte Schreckensvorstellungen einer fiktiven Gesellschaft. Sie boomen in Zeiten, die zum sorgenvollen Blick in die Zukunft Anlass geben. Jetzt ist solch eine Zeit, meint Marlene Streeruwitz. In "Norma Desmond. A Gothic SF-Novel" mischt sie die Schrecken des fortgeschrittenen dritten Jahrtausends, Überwachungsterror, Stagnation des Projekts "Emanzipation" und technische Substituierung von Körperlichkeit, mit solchen aus dem Inventar der "Gothic Novel" des englischen 18. und 19. Jahrhunderts. Der Untertitel des kleinen Buchs erhebt so für Streeruwitz' Vision des 23. Jahrhunderts gleich Anspruch auf doppelte Kanonfähigkeit, natürlich mit ironischem Rekurs auf die Schund-Medien.

Diese Verbindung aus Ehrgeiz und Chuzpe freut die Leserin, denn "Norma Desmond." ist - naturgemäß - Teil von Streeruwitz' Projekt zur Aufwertung weiblicher Existenz auf dem Weg zur "Befreiung vom Metaphysischen und den Ikonen". Zu Beginn, so scheint es, illustriert die literarische Vision die These der feministischen Utopieforscherin Elaine Hoffman Baruch, dass Dystopien von Frauen die Utopien von Männern sein können:

Nach einer Volksabstimmung im Jahr 2134 verfügen die Frauen über eine zweite Klitoris in der Scheide, was als wirkungsvolle Verbesserung des Geschlechterverhältnisses empfunden wird: "Die Volksabstimmung von 2134 hätte nur früher sein müssen. Vorher hatten die Frauen sich anstrengen müssen. Donald behauptet, es hätten sich die Männer anstrengen müssen." Als wenig effektiv erweist sich hingegen der Versuch einer manipulativen Optimierung traditionell weiblicher Werte durch Einschleusung eines Altruismusgens in eine ganze Frauengeneration: "Die mit dem ordentlichen Altruismusgen. Die waren alle in Schwermut verfallen. Und dann nur noch auf dem Bett gelegen. Und dann nicht einmal mehr geweint."

Nur Norma Desmond, mit einem doppelten, sich partiell blockierenden Altruismusgen ausgestattet, wird zur eigenmächtig handelnden Heldin der Erzählung. Sie unterhält mit Donald, der sich seinem Maximalalter von 300 Jahren nähert, ein Liebesverhältnis, bis er an "schleichender Neuronenschwäche" stirbt, weil er sich - neue Form des Reisens - per Bodyfax an alle möglichen Orte der Welt verschickt hat. Donalds Leiche muss versteckt, seine Vitalfunktion simuliert werden, weil er nicht nur die aus ihrem Heim entsprungene Norma mitversorgt, sondern auch deren Daueraffäre David, ein als Liebhaber ausgebildetes ebenfalls im Untergrund lebendes Klonmündel, das als menschliches Ersatzteillager gleich drei Penisse auf Vorrat hält. Die Folgen dieser Anomalie für das Sexualleben der beiden fand das Lektorat offensichtlich so aufregend, dass es eine entsprechende Passage als Klappentext auswählte und noch schlechter redigierte als den Rest des Buches.

Normas Abtauchen in den Untergrund, ihre Flucht vor den Verfolgern und die Begegnung mit einem Psychoanalytiker, der die Ängste von Computerprogrammen therapiert, sind anspielungsreiche Episoden aus dem Fundus der Trivialmythen von Film, Literatur und Werbung. Manchmal amüsant, gelegentlich luzide, nicht selten platt und insgesamt gar so futuristisch nicht; Streeruwitz versteht das Buch ja auch gegenwartskritisch und parodiert das Iris-Erkennungssystem ebenso wie die Simulation von Natur durch Hintergrundgeräusch-CDs.

Die karikierte sexuelle Hochleistungsgesellschaft, unter Verzicht auf 'natürliche' Fortpflanzung und biologisch-sentimentale Mutterschaft, wird schließlich überwunden in der Idylle der entsexualisierten Kleinfamilie. Dort findet Norma Desmond ihre Heimat, zusammen mit Donald, dessen zweites, geheimes Leben ihn als mütterlich fürsorglichen Transvestiten Mamasan zeigt, und dem zum Kleinkind rückentwickelten Liebhaber David, dessen zahlreiche Geschlechtsorgane nur mehr eine bedauerliche Anomalie darstellen. Um auf die feministische Utopieforschung zurückzukommen: Nicht auszuschließen, dass die Utopien von Frauen die Dystopien von Männern sind.

Titelbild

Marlene Streeruwitz: Norma Desmond. A Gothic SF-Novel.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2002.
96 Seiten, 6,90 EUR.
ISBN-10: 3596155029

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