Einsamkeit, Verzweiflung, Verlassenheit

Hannah Arendts "Denktagebuch" - eine Anleitung zum lebendigen Philosophieren

Von Ingeborg GleichaufRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ingeborg Gleichauf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Denken entsinnlicht, aber das heißt nicht, dass es verinnerlicht - wie Rilke meinte". Das ist unter "Dezember 69" zu finden. Oder: "Der Dialog des Denkens. Wo er fehlt, gibt es keine Tiefe mehr, sondern Verflachung. Das gesamte öffentliche Leben unserer Zeit drängt auf Verflachung. Aus dieser Verflachung kommt das Unheil - und nicht aus der Tiefe, die wir verloren haben."

Zwischen 1950 und 1973 hat Hannah Arendt ihre Denkmomente in Form eines Tagebuchs notiert. Die Herausgeberinnen haben den "Werkstattcharakter" des Originals erhalten. Und so hat man als Leser den Eindruck eines permanenten Einatmens und Ausatmens, eines von Text zu Text sich erneuernden Denkens. Dabei handelt es sich um Aphorismen, Gedichte, Interpretationen von Zitaten.

Das hervorragende Nachwort macht deutlich, dass Ursula Ludz und Ingeborg Nordmann sich bereits jahrzehntelang mit Arendt beschäftigen. Da ist keine akademische Trockenheit zu spüren, es scheint im Gegenteil so zu sein, dass die Auseinandersetzung mit dem Philosophieren Arendts einen zwingt, im eigenen Denken nur immer lebendiger zu werden.

Das Denktagebuch Hannah Arendts mit den größten Werken der Philosophiegeschichte zu vergleichen, ist keine Übertreibung. Hier hat sie die Form gefunden, die ihrem Denken am angemessensten war. Hier können wir Lesende und Mitdenkende ihr am authentischsten begegnen. Alle Gedanken stehen für sich und untereinander in Beziehung. Und sie treten in ein Gespräch mit dem oder der Lesenden, sobald der Prozess des Nachdenkens einsetzt. Lebenslang wird man damit beschäftigt sein, immer wieder wird man die beiden Bücher aufschlagen, sie öffnen und schauen, wo man landet. Zum Beispiel auch hier: "Die Verwandlung der Liebe ins Gefühl, um der Macht der Liebe zu entgehen."

Es sind keine privaten Aufzeichnungen, obwohl sie nicht zur Veröffentlichung bestimmt waren. Ungelesen könnten sie nicht diese Wirkung entfalten. Sie zwingen, inne zu halten, sie sind als Zeugnisse konzentriertesten Nachdenkens nach draußen auf ein Du hin gesprochen. Dieser Eindruck wird vor allem durch die Tatsache bestärkt, dass die Eintragungen nach Heinrich Blüchers Tod immer sparsamer werden. Blücher war für Arendt der Garant des offenen Gesprächs über alle nur möglichen Themen. Manch einer beginnt aus der Einsamkeit heraus Tagebuch zu schreiben, Arendt hat es aus der Gemeinsamkeit heraus getan. Als Blücher als, wie man sagen könnte, "Stellvertreterselbst" tot war, wurde auch Hannah Arendt nach außen schweigsamer.

Titelbild

Hannah Arendt: Denktagebuch. 2 Bde. Mit Abbildungen und Faksimiles.
Herausgegeben von Ursula Ludz und Ingeborg Nordmann.
Piper Verlag, München 2002.
1.376 Seiten, 99,99 EUR.
ISBN-10: 3492044298

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