Die Perversion des Mütterlichen

Jessica Benjamin über Intersubjektivität, Gender und Psychoanalyse

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass Judith Butler nicht nur einige Zeit in Tübingen studierte, sondern immer wieder nach Deutschland zurückkehrt, um Vorträge etwa in München, Berlin oder wiederholt in Frankfurt zu halten, dürfte den meisten Gender-TheoretikerInnen nicht unbekannt sein. Hierfür sprechen schon alleine die regelmäßig überquellenden Hörsäle. Weniger bekannt ist hingegen vielleicht, dass mit Jessica Benjamin vor einigen Jahren auch eine der prominentesten feministischen Psychoanalytikerinnen aus den USA in Frankfurt weilte, um anlässlich des 20-jährigen Bestehens des Frauengesundheitszentrums über "Freud, Feminismus und die Schicksale der Übertragung" sowie über den "Ur-Sprung der Psychoanalyse" zu reden. Wurde Benjamins Vortrag bald darauf zusammen mit zwei weiteren Texten in den USA publiziert, so liegt das Buch nun mit einiger Verspätung auch in deutscher Übersetzung vor.

Trotz der unterschiedlichen Ansätze und ungeachtet aller inhaltlichen Differenzen schätzen die dekonstruktivistische Philosophin und die der Kritischen Theorie verpflichtete Psychoanalytikerin das Werk der jeweils anderen. Während Butler etwa die "vielen erhellenden Einsichten" lobt, mit denen das vorliegende Buch aufwartet, hebt Benjamin ihrerseits in ihrem dritten Essay das "Erhellende[e]" an einer These Butlers hervor, der zufolge es "'hinter' den Äußerungen der Geschlechtsidentität keine geschlechtlich bestimmte Identität" gibt; eine These, die auf der Erkenntnis fußt, dass die Gegensätze zwischen Natur und Kultur sowie diejenigen zwischen dem Sozialen und dem Biologischen nicht etwa eine "Parteinahme" für eine der beiden Seiten erfordern, sondern dass es vielmehr gilt, sie als "künstliche Konstruktionen" zu erkennen. Die von Butler geleistete "Kritik der Geschlechterkomplementarität" führt Benjamin zufolge allerdings zwangsläufig in ein Paradoxon. Denn obwohl sie den Dualismus Männlichkeit/Weiblichkeit verwerfe, akzeptiere sie dennoch, dass diese Kategorien notwendigerweise das menschliche Erleben "strukturieren". Dass Butlers Ansatz des "Problem des Geschlechtsunterschiedes" lösen könne, bezweifelt Benjamin. Doch könne der Nachweis, dass das Geschlecht nicht so "stabil" oder "kohärent" sei wie eine Identität, "die Frage verändern" und so zu neuen Erkenntnissen führen.

An anderer Stelle entwickelt Benjamin ihre Kritik deutlicher: Butler biete "Ideale" an, die zwar "ehrenwert, aber nicht zu verwirklichen" seien. Hierin macht Benjamin gar den "wichtigste[n] Widerspruch" in Butlers Theorie aus. Angenommen, Benjamins Kritik trifft zu, so wäre es dennoch genauer, von einer Unzulänglichkeit als von einem Widerspruch in Butlers Theorie zu sprechen.

Weiterführender und deshalb interessanter aber ist Benjamins Feststellung, dass Butlers Kritik der Identität nicht das Selbst trifft. Denn, so eine von Benjamins zentralen Erkenntnissen, "Identität ist nicht dasselbe wie Selbst". Ein Selbst könne zwar "nichtidentisch" sein, aber dennoch "einen Zustand umfassen", "ein Gefühl ausdrücken" oder "sich mit einer Position identifizieren". Ungeachtet der Stichhaltigkeit von Butlers Kritik der Identität, lasse sich daher eine "psychische Subjektivität" postulieren, die fähig sei, sich mit verschiedenen Positionen zu identifizieren. Es gelte also - und dies ist eine der beachtenswertesten Thesen Benjamins -, zwischen dem "Subjekt des Diskurses" und dem "Selbst als Handelndem" zu unterscheiden. Eine Forderung, welcher die Autorin mit ihrer - auch in diesem Buch einmal mehr zentralen - "intersubjektive[n] Theorie des Selbst" nachkommt, einer psychoanalytischen Theorie, die auf der These gründet, dass "die philosophische Infragestellung des Subjekts" mit der Vorstellung von einem "Selbst" in Beziehung gesetzt werden müsse, das seinerseits nicht auf dieses philosophische Subjekt reduziert werden könne. Eine der wichtigsten Thesen der intersubjektiven Theorie Benjamins zielt auf die Frage, ob und wie das Selbst eine Beziehung zu einem "äußeren Anderen" herstellen kann, ohne ihn oder sie "durch Identifizierung zu assimilieren" oder von der/dem Anderen assimiliert zu werden, also wie eine Beziehung zur/zum Anderen nicht als Objekt, sondern als Subjekt herstellen kann. Benjamin bringt die Forderung ihrer "intersubjektive Perspektive" auf die griffige, an ein Diktum Freuds angelehnte Formel: "Wo Objekte waren, sollen Subjekte sein".

Weitere Themen des Buches, das sich an der Schnittstelle zwischen Feminismus und psychoanalytischer Theorie bewegt, bilden das Verhältnis von Weiblichkeit und Mütterlichkeit sowie die Erörterung der "Tochterposition". Die Struktur letzterer fasst Benjamin als ein "Produkt der männlichen ödipalen Transformation" auf. Die doppelte Funktion der Weiblichkeit, zum einen Passivität zu verkörpern und zum anderen eine "unkontrollierbare projizierte Spannung" auszuhalten, verleihe ihr die an der Tochter - nicht an der Mutter - ausgerichtete Gestalt. So werde Freuds Beschreibung der Weiblichkeit als ein "wirklicher Teil der patriarchalischen Kultur" lesbar, deren "Inhalt" eigentlich auf "die ödipale Haltung des Jungen" zurückzuführen sei, bei der die Mutter zurückgewiesen wird. Zugleich werden die mit dem Säuglingsalter assoziierten "Elemente der Passivität" auf das Mädchen projiziert. Der ödipale Übergang des Mädchens zur Passivität resultiere nicht aus seiner vermeintlichen Suche nach dem Penis, sondern entstehe mit der "Erfüllung des väterlichen Wunsches nach dem passiven Objekt". Es sei also dieses väterliche Verlangen, das die kulturelle Norm der "weibliche[n] Passivität" überhaupt erst hervorbringt, in dem das Mädchen die vom Vater verlangte "ödipalen Hinwendung" akzeptiert. Die 'weibliche Passivität' sei also nicht etwa die "unvermeidliche Form der sexuellen Differenz" sondern vielmehr eine "psychische Konstruktion der männlichen ödipalen Position", die dem 'weiblichen' Sozialcharakter eine bestimmte Bedeutung "aufgeprägt" habe. Anders als die "so unklar aktive und mächtige" Position der Mutter, handele es sich bei der "weiblichen Position" um eine des Objekts. Denn "Weiblichkeit" stelle das "Negativ der mütterlichen Aktivität" dar oder, prägnanter formuliert, die "Perversion des Mütterlichen".

Titelbild

Jessica Benjamin: Der Schatten des Anderen. Intersubjektivität, Gender, Psychoanalyse.
Stroemfeld Verlag, Frankfurt a. M. 2002.
154 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-10: 3861091453

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