Zu schwer für Schnitzlers Schultern

Peter Gays mentalitätsgeschichtliche Studie "Das Zeitalter des Doktor Schnitzler - Innenansichten des 19. Jahrhunderts"

Von Alexandra PontzenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Pontzen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Noch immer ist es ungewohnt, dass das neunzehnte Jahrhundert nicht unser letztes Jahrhundert ist, sondern bereits unser vorletztes; doch der zeitliche Abstand zu ihm macht sich immer stärker bemerkbar, und mit diesem Abstand verändert sich die historische Wahrnehmung. Differenzen und Nuancen verwischen sich, und die großen Konturen treten hervor. Dafür ist das vorliegende Buch des amerikanischen Kulturhistorikers und Psychoanalytikers Peter Gay ein instruktives Beispiel. Es ist eine kultur-, sozial- und mentalitätsgeschichtliche Studie über das Bürgertum, die das Besondere ganz bewusst zugunsten des Allgemeinen nivelliert und eine kühne Synthese wagt. Nicht die "Bourgeoisien" in ihren verschiedenen nationalen Ausprägungen will Gay vorstellen, sondern die abendländische Bourgeoisie schlechthin, von Schweden bis nach Italien, von Nordamerika bis zur Habsburger k..k. Monarchie. Sie wird "viktorianisch" genannt, womit der Verfasser dem schon länger zu beobachtenden Trend folgt, diesen Begriff aus der englischen Geschichte zu internationalisieren. Obschon das also nicht völlig neu ist, lässt sich ein Befremden kaum unterdrücken, wenn etwa ein Kaufmann aus dem biedermeierlichen Berlin zum Musterbeispiel eines viktorianischen Bürgers avanciert oder gar Nietzsche zu unseren "viktorianischen Vorfahren" gezählt wird. Auch der zeitliche Rahmen wird ausgeweitet: Das viktorianische 19. Jahrhundert ist das Zeitalter zwischen dem Ende der Napoleonischen Kriege und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs.

Wie von einem namhaften Psychoanalytiker und Autor einer viel beachteten Freud-Biographie kaum anders zu erwarten, ist seine Betrachtung der mentalen Befindlichkeit des Bürgertums der Psychoanalyse verpflichtet, jedoch nicht ausschließlich. Die Psychologie wird angereichert mit einer Fülle kulturgeschichtlicher Details, und auch Soziologie und Geistesgeschichte, wenn man letzteren Begriff nicht zu eng fasst, kommen zu ihrem Recht. Dagegen bleibt die politische Geschichte marginal. Behandelt werden die Themen: Eros und Sexualität, Aggressivität, Angst, Religiosität, Arbeitsethos, Geschmack, Familie und Privatheit. Sie ermöglichen ein breites Spektrum und sind gut geeignet, eine große Menge disparater Informationen und Einsichten zu bündeln, ohne die essayistische Zwanglosigkeit, mit der das Buch geschrieben ist, zu beeinträchtigen. Ein fast im Plauderton vorgetragenes stupendes Wissen nimmt selbst der Leser dankbar und beeindruckt zur Kenntnis, der mit dem 19. Jahrhundert noch einigermaßen vertraut ist.

Bemerkenswerter jedoch als die reine Wissensvermittlung ist die vielfach überraschende Akzentuierung und vor allem die Entkräftung mancher mit der Bourgeoisie verbundener negativer Klischees. Ganz besonders am Herzen liegt es dem Verfasser, die redensartlich gewordene "viktorianische Prüderie" in das Reich der Vorurteile zu verweisen. In den bürgerlichen Ehebetten sei es offener und lebhafter zugegangen, als die sogar von Freud geteilte Annahme von der bei Frauen des Mittelstandes durchgängig verbreiteten Frigidität vermuten lässt. Kein Zweifel sei daran erlaubt, "daß ehrbare bürgerliche Ehepaare nicht selten ihr erotisches Vergnügen in höchst leidenschaftlicher Befriedigung miteinander teilten und nichts lieber wollten, als es immer wieder tun".

Auch dem Klischee, dass es dem Bürger an Geschmack und Kunstsinn gefehlt habe, wird mit Verve entgegengetreten. Seine Aufgeschlossenheit werde durch die damals zusammengetragenen Kunstsammlungen belegt, die zu nicht geringem Teil noch heute bestehen; und das weniger vermögende Bürgertum, dem großzügiges Mäzenatentum verwehrt war, habe als kunst-, musik- und literaturverständiges Publikum den unentbehrlichen Humus der Kultur abgegeben. Die Umwälzungen in den Künsten, in der Literatur und im Denken, die als Moderne bezeichnet werden, seien bürgerlichen Ursprungs. Dass sie heute vielfach als antibürgerlich begriffen würden, sei die Folge einer verzerrenden Perspektive: Man habe sich angewöhnt, die Bourgeoisophoben mit ihren Invektiven zu Kronzeugen zu erheben, obwohl sie z. T. typische Vertreter des Standes gewesen seien, von dem sie sich so heftig distanzierten - man denke an Flaubert.

Das Buch mündet in eine Apologie des neunzehnten Jahrhunderts. Wie sehr dieses zu schätzen sei, führe der Vergleich mit dem 20. Jahrhundert und dessen "Barbarei, die einen Dschingis Khan vor Neid hätte erblassen lassen", vor Augen. Selbst in seinen blutrünstigen Episoden, die Gay nicht verschweigt (z. B. behandelt er die Gräuel des Imperialismus im Kongo), sei das Zeitalter des Viktorianismus nie so tief gesunken. Dem ist ohne weiteres beizupflichten. Die Frage allerdings, wie weit das vorausgegangene Jahrhundert das folgende Jahrhundert im Guten und noch mehr im Schlechten vorbereitet hat, bleibt ungestellt. Einige Skepsis verdient die Forderung, die Geschichte möge den Bürger an der Verantwortung für die Katastrophe von 1914 freisprechen.

Was hat das alles mit Arthur Schnitzler zu tun? Wenig, zu wenig. Die Willkür verblüfft, mit der ein Wiener Autor zum Repräsentanten eines Zeitalters erhoben wird, das ein halbes Jahrhundert vor seiner Geburt begann und das knapp zwei Jahrzehnte vor seinem Tod zu Ende ging und zu dessen Darstellung vorrangig angelsächsische Quellen herangezogen werden. Gewiss, auch Schnitzlers Tagebuch, auf das sich der Verfasser hauptsächlich beruft, bietet "Innenansichten" eines bürgerlich sozialisierten Menschen, ob dieser Mensch repräsentativ ist, scheint jedoch zweifelhaft. Ist Schnitzler wirklich ein Autor, der "ein gewaltiges Stil- und Ideenspektrum" wiedergibt? Kenner und selbst Bewunderer seines Werkes neigen nicht dazu, ihm gerade Vielseitigkeit nachzurühmen. Im Übrigen lässt Gay das literarische Werk Schnitzlers fast unbeachtet, und wenn er gelegentlich auf es zu sprechen kommt, so geschieht das oberflächlich. Nachdem der "Reigen" bereits schief referiert worden ist, heißt es von der Erzählung "Leutnant Gustl", dass sie "den Todesängsten eines prahlerischen österreichischen Offiziers nachspürt, der vor einem von ihm selbst provozierten Duell steht". Ärgerlicher lässt sich die Pointe kaum verpatzen. Auch darf man als Beleg für Schnitzlers "Verachtung für das Duell" nicht gerade die späte Novelle "Der Sekundant" anführen; wer das tut, hat deren erste Seite überschlagen. Mutatis mutandis behält Lessings Epigramm noch immer seine Gültigkeit: "Wer wird nicht einen Klopstock loben?/Doch wird ihn jeder lesen? - Nein./Wir wollen weniger erhoben/Und fleißiger gelesen sein."

Schnitzlers Schultern sind zu schwach, als dass man ihnen beispielhaft die ganze Welt des abendländischen Bürgertums aufbürden könnte. Wie groß der Verzicht auf Plausibilität sein muss, um eine Verbindung zwischen ihm und einigen Themen zu konstruieren, wird z. B. bei den Ausführungen über Homosexualität deutlich: Es gebe keine Zeugnisse dafür, dass Schnitzler homoerotische Triebbedürfnisse empfunden habe, aber sein Verschweigen solcher Wünsche "weist auf einen tiefsitzenden Zwang zur Verleugnung hin". Die herbeigezwungene weder verifizierbare noch falsifizierbare Argumentation ex negativo wirkt unseriös. Verfasser hätte über Homosexualität in der viktorianischen Welt schreiben sollen, ohne Schnitzler als ,Aufhänger' zu missbrauchen. Ohnehin gerät Schnitzler, der sich nur schwer aus seiner Wiener Umwelt herauslösen lässt, über weite Passagen in Vergessenheit, und wenn zuweilen pflichtschuldigst an ihn erinnert wird, so stört das mehr, als dass es erhellend wäre. Der unglückliche Kompositionseinfall, ihn als Bezugspunkt zu wählen, beeinträchtigt die Lektüre eines Buches, das im Großen und Ganzen lehrreich und anregend ist.

Titelbild

Peter Gay: Das Zeitalter des Doktor Arthur Schnitzler. Innenansichten des 19. Jahrhunderts.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2002.
381 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3100259106
ISBN-13: 9783100259103

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