Die Dressur des Kindes

Hans-Georg Behr hat "Fast eine Kindheit" erlebt

Von Christian SchneiderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christian Schneider

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine Autobiographie. Hans-Georg Behr hat seine Kindheit beschrieben, daran besteht kein Zweifel. Was aber ist das Besondere an diesem Kinderleben, dass es uns vor Augen geführt zu werden verdient? Oder liegt das Erzählenswerte am gerade nicht Außergewöhnlichen, also an seinem exemplarischen Charakter? Die Wahrheit liegt wohl irgendwo dazwischen, und das ist bedauerlich.

Bleibt die Möglichkeit, sich dem Werk über eine ästhetische Lesart zu nähern. Ohne Zweifel bietet der Text hierfür zahlreiche Anhaltspunkte. Angefangen von der geschickt gewählten Mehrdeutigkeit des Titels "Fast eine Kindheit" bis zur bezeichnenderweise an das Ende des Buches gestellten Versicherung "Das Übliche: Sämtliche Orte, Personen und Handlungen sind frei erfunden. Zufällige Ähnlichkeiten sind gemeint", lässt der Autor keinen Zweifel daran, dass der Text nicht als reine Autobiographie gelesen werden will. Wir haben es mit einem autobiographischen Roman zu tun, der sich nicht an der Wahrheit, sondern an der Wahrhaftigkeit der dargestellten Begebenheiten messen lassen will. Durch den konsequenten Verzicht auf die Erzählform des "Ich" wird diese bewusste Abstraktion unterstrichen. "Der Junge" oder "das Kind" erlebt eine Welt in der "man" ihm sagt, wie sie funktioniert. Mehr Distanz in der Beschreibung der eigenen Welt ist erzählerisch kaum zu leisten.

Bereits die Zeitspanne, in der sich der Roman bewegt, macht deutlich, dass der Junge das, was man landläufig eine "glückliche Kindheit" nennen mag, wohl kaum erlebt haben wird. Mit fünf Jahren sieht sich der Junge mitten im Krieg, am Ende des Buches zeichnen sich dem mittlerweile Vierzehnjährigen in der trostlosen Nachkriegszeit erste Hoffnungsschimmer für eine bessere Zukunft am Horizont ab. Dazwischen erlebt er den Einmarsch der Russen, bei dem sein Bruder unter den Ketten eines Panzers stirbt, ebenso lakonisch distanziert wie die erste sexuelle Ausbeutung durch den russischen Soldaten Ivan. Sein Leben oszilliert zwischen verschiedenen Welten innerhalb seiner großbürgerlichen Familie. Seine Großeltern leben ihm den Rest ihrer längst nicht mehr gültigen feudalen Existenz vor, seine Mutter versucht nach Ende des Krieges an ihre große Zeit als Sängerin anzuknüpfen und der Vater wird als Kriegsverbrecher hingerichtet. Das Ende seiner Kindheit schließlich erlebt er zwischen den Hänseleien pubertierender Jungen und der Vergewaltigung durch einen pädophilen Mönch in einem Internat.

Überall erlebt er die Welt so, wie er sie bereits im ersten Satz beschrieben hat: "Dem Kind hatte man früh ausgetrieben, die Mitte der Welt zu sein, und beigebracht, daß Nichtauffallen weniger schmerzhaft sei." Erst am Ende schafft er es, dieser Welt zu entfliehen: ""Ich bin frei! FREI!" Doch er wußte noch lange nicht, was das Wort bedeute."

Titelbild

Hans-Georg Behr: Fast eine Kindheit.
Herausgegeben von Hans Magnus Enzensberger.
Eichborn Verlag, Frankfurt a. M. 2002.
355 Seiten, 27,50 EUR.
ISBN-10: 3821845163

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