Das Ringen um eine humanere Welt

Rolf Engert interpretiert Iphigenien-Dichtungen von der Antike bis zur Gegenwart

Von Sabine ScholzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sabine Scholz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Die Schreckenszeit der beiden Weltkriege und der faschistischen Gewaltherrschaften aller Färbung haben die Menschheit zurückgeschleudert in die Entfesselung von Urgewalten, wie sie uns allein noch aus den Sagen und Mythen entgegentraten, und damit zugleich unser Verständnis für diese auf immer versunken geglaubte Urzeit mehr erschlossen, als es selbst einem alten Griechen noch möglich war."

Der Literaturwissenschaftler Rolf Engert (1889-1962), der bei Eduard Spranger promoviert hatte, wirkte als Dramaturg, Regisseur und Schauspieler am Regensburger Stadttheater. Als Dozent für deutsche Literaturgeschichte spannt er nach dem zweiten Weltkrieg in seinen Vorlesungen aus dem Jahr 1949 einen Bogen von der Antike bis zu seiner Zeit, der fast zweieinhalb Jahrtausende umfasste. Darin lag die Stärke seines Ansatzes, darin lag auch ein Bedürfnis der Zeit, Engert verfolgte die dichterische Behandlung des Iphigenienstoffes von der Antike bis in seine Tage hin, d. h. er widmete sich den Abwandlungen, die der Stoff durch Euripides, Racine, Goethe und Gerhart Hauptmann erfahren hat.

Ein Vorgehen, um etwas vom Geist der Zeit, in der der Stoff behandelt worden ist, festzuhalten und etwas von der persönlichen Note des Künstlers, der sich mit ihm auseinandergesetzt hat, zu begreifen.

Als Grundlage dienen drei verschiedene Dramen: "Iphigenie in Aulis", "Iphigenie auf Tauris" und "Iphigenie in Delphi".

Hier eine kurze Zusammenfassung dessen, was man über die sagenhafte Vorgeschichte des Trojanischen Krieges wissen sollte, um die Iphigenie zu verstehen.

Zeus, der höchste olympische Gott der Griechen, hatte mit Leda Helena, die schönste Frau Griechenlands, erzeugt. Menelaos bekam sie später zur Frau.

Paris, der jüngste Sohn des Priamos, des Königs von Troja, entscheidet sich bei einem Schönheitswettbewerb für Aphrodite. Diese verspricht ihm zum Dank, dass er das schönste Weib der Erde zur Gattin bekommen werde. Paris reist nach Griechenland, begegnet dort Helena und verliebt sich in sie. Er entführt sie nach Troja. Daraufhin wird von den Griechen ein Heereszug nach Troja aufgeboten, um Helena zu ihrem rechtmäßigen Gatten heimzuholen.

Doch die Göttin Artemis, verärgert über einen Jagdfrevel der Griechen, verhängt zur Strafe eine Windstille über die Bucht von Aulis, die ein Auslaufen der Flotte gegen Troja unmöglich macht. Die Göttin könne nur milde gestimmt werden durch die Opferung von Iphigenie, der jungfräulichen Tochter des Heerführers Agamemnon.

Erst kurz vor der Opferung Iphigeniens greift die Göttin ein und rettet die junge Frau. Nun erhebt sich der lang ersehnte Fahrtwind, und die Flotte der Griechen kann gegen Troja auslaufen.

Euripides verzichtet in seinem Drama "Iphigenie in Aulis" auf die Begründung des Menschenopfers durch den Jagdfrevel an der Göttin Artemis. Er verschmäht also eine vorangegangene Schuld und zeigt so die wahren Verhältnisse jener Urzeit, wo am Anfang jedes Unternehmens das Menschenopfer stand, das die Götter günstig stimmen sollte. Bei Euripides findet sich nach Engerts Ansicht bereits der Geist der Aufklärung, d. h. der Glaube an die Götter ist erschüttert. Seine Iphigenie beschließt, sich freiwillig aus Patriotismus der gemeinsamen Sache der Griechen zu opfern. Das ist neu im Vergleich zur Volkssage, die dem Drama zugrunde liegt: "dass sich hier ein zaghaftes junges Mädchen zur patriotischen Heldin entwickelt, ein Mensch, dessen Sinn zunächst rein naiv auf nichts anderes als auf Steigerung des eignen Lebensglückes hingelenkt war, sich zur heroischen Opfertat für eine größere Allgemeinheit entschließt."

In der "Iphigenie auf Tauris", dem zweiten Drama des Euripides, betont Engert vor allem Orests leidenschaftliche Auflehnung gegen den Gott Apoll. Orest wirft ihm vor, ihn bewusst betrogen zu haben.

Dieses Motiv wird später in Gerhart Hauptmanns "Iphigenie in Delphi" aufgenommen und ins Grandiose gesteigert: "Hier haben wir es nicht sehr mit bloßer "Aufklärung" zu tun, hier handelt es sich um innere Auflehnung, und sie entstammt nicht sowohl rationaler Überlegung und einer Erhebung der allgemeinen Bewusstseinslage, als vielmehr schicksalhaftem eigenem Erleiden."

Racines "Iphigenie", die 1674 zum ersten Mal in Versailles aufgeführt wurde, weist eine grundsätzliche Änderung auf: Der Autor macht Achill zum Liebhaber Iphigeniens. Schiller fand später diese kleine eigennützige Leidenschaft nicht passend zum hohen Ernst des griechischen Stückes.

Engert schreibt: "...indem nun dem Motiv der Liebe sogleich die Eifersucht an die Seite gestellt wird. Damit sind wir nun schon ganz aus der ursprünglichen Welt der antiken Fassung herausgerissen und auf französischem Boden, in das Frankreich des 17. Jahrhunderts verpflanzt."

Außerdem verzichtet Racine nicht auf das Menschenopfer, was Engert als "Zurücksinken in eine vorgeschichtliche Barbarei" bezeichnet.

Goethes "Iphigenie" dagegen unterscheidet sich von der des Euripides durch ihr starkes Freiheitsverlangen. Bei Goethe vollzieht Iphigenie nicht wie bei Euripides als Priesterin die Menschenopfer, sondern trägt griechische Gesittung ins Land der Barbaren: "Goethe hat damit weiter und zugleich auf einen Gipfel geführt, was sich bei Euripides schon anbahnte, indem er Iphigenie Schauder vor diesem Tempeldienst empfinden und sich innerlich von einer Gottheit abkehren ließ, die solches fordern konnte."

Den interessantesten Teil des Buches stellen meiner Meinung nach Engerts Spekulationen über die Gründe dar, warum Goethe eine "Iphigenie in Delphi" zwar geplant, aber nie ausgeführt habe. Es handelt sich sowohl um persönliche als auch um sachliche Gründe. Die Auflösung der Verbindung Goethes mit Frau von Stein habe angeblich die Ausführung der "Iphigenie in Delphi" verhindert, da sie für Goethe vor allem diese Verbindung symbolisieren sollte. Doch überzeugen Engert eher die sachlichen Gründe, die Heinrich Jansen in einer Münsterer Dissertation zusammengestellt habe: "die Gestalt der Elektra - die ja doch die eigentliche Heldin des Stückes geworden wäre -, gehöre mit ihrem leidenschaftlich-wilden, ungestümen Charakter ausgesprochen in die Reihe der himmelanstürmenden Gestalten von der Art des Prometheus usw., wie sie zwar den Stürmer und Dränger Goethe mit Bewunderung erfüllt hätten, dem italienischen Goethe aber auf die Dauer unmöglich sympathisch bleiben konnten."

Die Tatsache, dass bei der "Iphigenie in Delphi" der Hauptakzent auf der äußeren Handlung liege, habe Goethe nach Engerts Meinung jedoch besonders gereizt, da sie stärkere dramatische Qualitäten aufweise als die "Iphigenie auf Tauris". Doch entsprach gerade dies in keiner Weise der seelischen und künstlerischen Grundhaltung jener Lebensepoche, wo Goethe versuchte, die äußere Handlung auf ein Mindestmaß zu reduzieren:

"So haben wir also hier die - auch sonst im Leben häufig genug anzutreffende Erscheinung -, daß der Grundcharakter des Stoffes auf Goethe anziehend und abstoßend zugleich wirkte. Ein sicherer dramatischer Instinkt ließ ihn sich danach sehnen, von der Art seiner "Iphigenie auf Tauris" wieder los- und zu einer stärkeren dramatischen Lebendigkeit zu kommen, seine ganze Geistesverfassung machte es ihm aber noch unmöglich."

Gerhart Hauptmann schließlich sei mit seiner "Iphigenie in Delphi" das Unglaubliche gelungen, jener Urwelt der Sagen näher zu kommen als Euripides selbst. Engert kommt zu dem Schluss, dass seine Zeit "gerade den tragischen Zusammenbruch der im Ringen der Jahrhunderte aufgebauten humaneren Welt" erlebte, "vorbildlich verkörpert als eine Welt höchster Humanität in Goethes "Iphigenie"."

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Kurt W. Fleming (Hg.) / Rolf Engert: Iphigenien-Dichtungen von der Antike bis zur Gegenwart. Euripides, Jean Racine, Johann Wolfgang Goethe, Gerhart Hauptmann (Dresden, 1949).
Verlag Max-Stirner-Archiv, Leipzig 2001.
241 Seiten, 14,80 EUR.
ISBN-10: 3933287340

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