Judith Hermann fotografiert Geister

Anmerkungen zur immanenten Ästhetik in "Nichts als Gespenster"

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Fast alle Figuren in Judith Hermanns Erzählungen rauchen, einige fotografieren. Die seltsamste ist jene skurrile "Geisterjägerin", die in der Titelgeschichte des neuen Buches mit suchtartiger Obsession einer verrückten Leidenschaft nachgeht. Sie fotografiert mit einer "Plastikkamera" und einem "großen altmodischen und soliden Aufnahmegerät" Gespenster.

Was die Erzählung über diese Frau berichtet, scheint mit dem, was sich im Hotel International an einem abgelegenen Ort mitten in der Wüste von Nevada sonst noch ereignet, kaum etwas zu tun zu haben. Hermanns Geschichte handelt vor allem von der merkwürdigen Begegnung zwischen zwei Paaren, einem deutschen und einem amerikanischen. Vage Bezüge zum Motiv des imaginären Partnertausches in den "Wahlverwandschaften" lassen sich ausmachen. Aus der Begegnung geht ein Kind hervor. Wie das geschieht, lässt die Erzählung im Dunklen. Bei der Schilderung des amerikanischen Paars bleibt die Art der Beziehung zwischen Mann und Frau noch unklarer als bei der des deutschen. Andeutungen setzen bei den Lesern Ahnungen in Bewegung. Es wird wenig gesprochen. Man kommuniziert mit Blicken und Bewegungen, spielt Billard miteinander, interagiert vermittelt über Getränke und Zigaretten. Dem Leser geht es wie der Protagonistin: "sie versuchte in alldem irgendeine Art von Glück oder Bewußtsein oder Bedeutung zufinden, und dann verlor sie den Faden und dachte über etwas anderes nach."

Was im Inneren der Figuren vorgeht, entzieht sich der Beobachtung und der verbalen Fixierung. Die Erzählung versucht es gleichwohl festzuhalten - wie die Geisterjägerin mit ihren Aufnahmegeräten die Gespenster. In dieser Fotografin reflektiert die Erzählung allegorisch ihre eigene Machart. Auf den Fotos, die sie den anderen zeigt, ist nichts Genaues zu erkennen, nur "Entwicklungsfehler, Doppelbelichtungen, Spiegelungen, Staub auf der Linse, mehr nicht". Und wenn die Geisterjägerin auf den Fotos etwas zeigen will, verdeckt "sie mit ihrem Zeigefinger das Entscheidende unabsichtlich immer genau".

Auch noch ihre Selbstreflexivität spiegelt die Erzählung im Motiv der fotografischen Aufnahme. Bei dem letzten Foto, das in dieser Nacht gemacht wird, richtet sich die Kamera nicht mehr auf die Geister im oberen Stockwerk des Hotels, sondern auf die Figuren des Textes: auf die beiden Paare und, die Technik des Selbstauslösers macht es möglich, auf die Geisterjägerin selbst. Es ist "eines von 36 Fotos auf einem Film voller Geister". Die Titelerzählung ist eine in diesem Buch mit nichts als Gespenstern. Die Techniken des Erzählens sind so divergierend wie die Ausrüstung der Fotografin: billig, poppig, konfektioniert, doch technisch durchaus avanciert wie ihre Plastikkamera, altmodisch und solide wie ihr anderes Aufnahmegerät. Mit Trivialliteratur oder Kitsch haben die Techniken der Selbstreflexion jedoch nichts gemeinsam, mit Ansprüchen an hohe Kunst sehr wohl.

Titelbild

Judith Hermann: Nichts als Gespenster.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2003.
256 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 310033180X

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