Von Abjektion bis Zweigeschlechtlichkeit

Metzlers Lexikon zur Geschlechterforschung - ein Standardwerk mit nur kleinen Mängeln

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eigentlich war es ja schon lange überfällig, das erste deutschsprachige Lexikon zu den Gender Studies und zur Geschlechterforschung. Dass diese schmerzliche Lücke nun endlich geschlossen wurde, ist Renate Kroll zu verdanken, Lehrstuhlinhaberin für interdisziplinäre Frauenforschung in der Romanistik an der Universität Siegen. Die Konzeption des Lexikons, an dessen Zustandekommen mehr als 90 AutorInnen beteiligt waren, erweist sich als ebenso durchdacht wie der Aufbau der einzelnen Artikel, die nicht nur den aktuellen Forschungsstand widerspiegeln und die vielfältigen Bezüge zwischen den Gender- und den Kulturwissenschaften beleuchten, sondern auch auf Zusammenhänge zu den Methoden des Poststrukturalismus, der Dekonstruktion, oder des New Historicism verweisen. Die in Zusammenhang mit den Gender Studies wichtigsten - zumeist geistes- und kulturwissenschaftlichen - Disziplinen werden in längeren Überblicksartikeln abgehandelt, die durch kleinere wissenschafts- und begriffsgeschichtliche Artikel ergänzt werden, die durch Querverweise miteinander verbunden sind. Weitere Artikel gelten der internationalen Frauenbewegung und den von ihr beziehungsweise den Gender Studies bewirkten sozialen, politischen und kulturellen Entwicklungen sowie den durch sie initiierten institutionellen Einrichtungen wie der "Internationalen Frauenuniversität Technik und Kultur". Außerdem noch Personen, die, wie die Herausgeberin sagt, "internationale Aufmerksamkeit gefunden haben". Die sachbezogenen Lemmata beginnen meist mit einer Begriffsdefinition, auf die eine Darstellung des Kontextes und des Geltungsbereichs des Begriffs, ein historischer Abriss, die Skizze der aktuellen Problemlage und eine kurze Darstellung der Kritik durch konkurrierende geschlechtertheoretische Ansätze folgt. Sowohl die sach- als auch die personenbezogenen Einträge werden durch weiterführende Literaturhinweise beschlossen.

In einen Anhang sind die für die Gender-Forschungen wichtigsten Nachschlagewerke, Handbücher, Bibliographien und (Fach-)Zeitschriften zu finden. Wie inzwischen üblich weist er auch auf die relevantesten einschlägigen Internet-Adressen hin. Vermissen muss man hingegen eine Liste der wichtigsten Mailinglisten zur Geschlechterforschung und den Gender Studies. Auch wäre ein Personenregister wünschenswert gewesen.

Eigentlich überflüssig, da selbstverständlich erscheint Krolls Hinweis, dass bis zum Redaktionsschluss neue Begriffe aufgenommen, hingegen andere gestrichen wurden und dass das Lexikon keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Das schließlich zustande gekommene Ergebnis ist zwar insgesamt mehr als überzeugend, birgt aber auch die eine oder andere nicht immer nachvollziehbare Überraschung. So hätte man nicht unbedingt erwartet, einen Artikel zum "Islam" zu finden, und ganz sicher nicht zu den "Präraffaeliten". Mit gleichem Recht hätte man auf die geschlechterspezifischen Eigenheiten eines jeden anderen Stils der Kunst- und Literaturgeschichte hinweisen können.

Andere Einträge wiederum mag man vermissen, so das "Dritte Geschlecht", das "Sexualitätsdispositiv", den "Zwitter" oder das Begriffspaar der weiblich konnotierten "Angst" und des männlich konnotierten "Muts". Auch hat zwar der seinerseits wiederum weiblich konnotierte Oberbegriff Gefühl einen Eintrag erhalten, nicht jedoch die männlich konnotierte Vernunft, auf die auch im Lemmata "Gefühl" kein Hinweis erfolgt. Andererseits finden sich schon mal gleich zwei Eintragungen, wo man nur eine erwartet hätte. So werden - allerdings aus guten Gründen - "Männerforschung" und "feministische Männerforschung" separat aufgeführt.

Gelegentlich scheinen auch die zentraleren Einträge etwas knapp auszufallen. So hätte man etwa über die Genese des Begriffs "Emanzipation" gerne mehr gewusst, als nur, dass er im 18. Jahrhundert entstanden ist. Doch derartige Knappheiten mögen dem beschränkten Gesamtvolumen eines solchen Werkes anzulasten sein.

Dass man unter dem Begriff "Masturbation" zwar etwas über Selbstbefriedigung von Mädchen und Frauen erfährt, nicht jedoch über diejenige von Jungen und Männern, kann hiermit allerdings nicht erklärt werden. Die Vermutung, letztere könnte vielleicht unter dem Stichwort "Onanie" zu finden sein, bestätigt sich nicht.

Einige AutorInnen scheinen ihre politischen Präferenzen zu kleinen Unausgewogenheiten verführt zu haben. Im Artikel "Prostitution" wird zwar darauf hingewiesen, dass "aktuelle Reformbestrebungen" die Prostitution arbeitsrechtlich mit "anderen Beschäftigungen im Dienstleistungssektor" gleichstellen wollen. Unerwähnt bleibt hingegen, dass sich in Schweden seit einigen Jahren - entgegen der vielerorts und fast zu allen Zeiten üblichen Rechtssprechung - nicht etwa die Prostituierte strafbar macht sondern deren Freier.

Kaum einmal schleicht sich jedoch ein regelrechter Fehler in eines der Lemmata ein. Doch auch sie waren natürlich nicht völlig zu vermeiden. So wird im Eintrag "Mond" die Lunation um eine Phase auf nur drei zusammengestutzt: Neu-, Voll- und abnehmender Mond, die, wie es heißt, in verschiedenen Mythen und Religionen die Zyklen des weiblichen Organismus widerspiegeln. Vergessen wird hierbei allerdings der zunehmende Mond.

Bei den angeführten Kritikpunkten handelt es sich - und das sei betont! - nur um kleinere, im ganzen eher randständige Mängel eines Nachschlagewerkes, das schon jetzt in keinem Bücherschrank von gendertheoretisch oder auch nur kulturwissenschaftlich interessierten Menschen fehlen sollte, und das spätestens mit den sicher zu erwartenden Folgeauflagen zum Standardwerk heranreifen wird.

Titelbild

Renate Kroll (Hg.): Gender Studies Geschlechterforschung.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2002.
425 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-10: 3476018172
ISBN-13: 9783476018175

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