Philologie gegen Ressentiment

Jüdische Intellektuelle in Kaiserreich und Weimarer Republik

Von Hans von SeggernRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hans von Seggern

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kann man im Jahr 2002 einen Band über "Jüdische Intellektuelle" publizieren? Begibt man sich damit nicht unwillkürlich ins Abseits essentialistischer Positionen? Verweist 'jüdisch' auf eine bestimmte Religionszugehörigkeit, Herkunft, eine Schicksalsgemeinschaft? Bedeutet nicht die Eingrenzung des Themas mit dem Adjektiv "jüdisch" von vornherein eine Ausgrenzung? Statt von "jüdischen Intellektuellen" lasse sich allenfalls von Diskursen der Selbst- und Fremdbestimmung reden, meinen diskurs- und systemtheoretische Skeptiker. Man errichte ein neuerliches Tabu, wenn man die Frage nach den "jüdischen Intellektuellen" vermeidet, schreiben dagegen Wilfried Barner und Christoph König im Vorwort des von ihnen herausgegebenen Bandes. Beide halten es mit Gershom Scholem, der nach der Shoa sarkastisch von einer Fortsetzung der 'Arisierung' mit anderen Mitteln sprach: "Nachdem sie als Juden ermordet worden sind, werden sie nun in einem posthumen Triumph zu Deutschen ernannt, deren Judentum zu betonen ein Zugeständnis an die antisemitischen Theorien wäre. Welche Perversion im Namen eines Fortschritts, der den Verhältnissen ins Auge zu schauen nach Möglichkeit meidet."

Der Tagungsband folgt der Einteilung in Literaturkritik und Verlag (1), Universität, Forschung, Jüdische Hochschule (2), Selbst- und Fremdbestimmung (3), Methoden, Schreibweisen (3) Neue Gegenstandsfelder (4). Die Aufsätze des Tagungsbandes sind dabei in aller Regel an Einzelpersonen orientiert: etwa an dem Literaturhistoriker Georg Brandes (Peter Gossens), an Theodor und Heinrich Gomperz (Jacques Le Rider) oder dem Schriftsteller und Sprachtheoretiker Fritz Mauthner (Carsten Schapkow). Thematisch fokussierte Beiträge wie etwa zur "Selbstorganisation jüdischer Gelehrsamkeit und die Universität seit der 'Wissenschaft des Judentums'" (Céline Trautmann-Waller), zur frühen Heine-Philologie (Jeffrey L. Sammons) oder zur "Sprache als Ort der Auseinandersetzung mit Juden und Judentum in Deutschland" (Shulamit Volkow) sind die Ausnahme.

Vielen Juden, so das freilich kaum überraschende Fazit des Bandes, blieb die akademische Karriere verwehrt, mochten an den Universitäten die Chancen auch noch besser stehen als "in der Verwaltung und im diplomatischen Dienst oder gar in der Armee". Wo Juden im Kaiserreich oder der Weimarer Republik den akademischen Karriereweg beschritten, sahen sie sich teils vordergründig fachlich begründeten, teils offen antisemitischen Angriffen ausgesetzt. Das Engagement jüdischer Gelehrter an Universitäten, in Verlagen und in der Publizistik nährte dabei die genuin aufklärerische Hoffnung, dem Rassenhass mit Wissenschaft begegnen zu können. Das Leben einer jüdischen Intellektuellen ist Gegenstand der eindrucksvollen Biographie Anna O. - Bertha Pappenheim. Marianne Brentzel erzählt das wechselvolle und bemerkenswerte Leben einer "Helferin der Menscheit", zu der eine Briefmarkenreihe der Deutschen Bundespost Pappenheim posthum erklärte. Ihren frühen "Ruhm" verdankt sie ihrem Arzt Joseph Breuer, der unter dem Patienten-Pseudonym Anna O. einen Fall von "Hysterie" und deren Kur schildert. An "Anna O." entwickelt Breuer mit Elementen der Hypnose sein therapeutisches Verfahren, die "kathartische Methode", das von Siegmund Freud zur Psychoanalyse weiterentwickelt werden sollte.

Brentzel schildert plastisch wie die von Breuer als "geheilt" aus der Therapie entlassene Bertha Pappenheim als Jüdin an zwei Fronten zu kämpfen hatte - in diesem Punkt vergleichbar mit prominenten Frauen ihrer Zeit wie etwa Lise Meitner: Sie hatte sich mit Positionen des Antisemitismus wie des Antifeminismus auseinanderzusetzen. Diesen Herausforderungen hat sie sich gestellt, indem sie eine Institution ins Leben rief, die Frauen in ihrer jüdischen Identität stärken sollte. Der Jüdische Frauenbund, von Pappenheim anlässlich einer Tagung des International Council of Women in Berlin 1904 gegründet und in den folgenden Jahren von ihr unter Mitarbeit von Sidonie Werner und Henriette May geleitet, kümmerte sich fortan um Menschheitsfragen in den verschiedensten Feldern: Jugendfürsorge- und pflege, Mutter- und Kinderschutz sowie karitative Arbeit in den jüdischen Gemeinden gehörten ebenso zu den Aufgaben, wie der Kampf gegen den organisierten Mädchenhandel, die Stärkung der Position berufstätiger Frauen und jüdische Bildungsarbeit.

Nicht selten geriet Pappenheim dabei in Widerspruch mit konservativen Positionen, etwa wenn sie in ihrer kämpferischen Rede "Zur Sittlichkeitsfrage" (1907) erklärte, vor dem jüdischen Gesetz seien Frauen kein Individuum, nur als Geschlechtswesen würden sie beurteilt und anerkannt. 1910 übersetzte sie in langwieriger Arbeit die siebenbändigen Lebenserinnerungen der Glikl bas Juda Leib, besser bekannt als Glückel von Hameln (1646-1719), aus dem Westjiddischen ins Hochdeutsche. Damit kam sie Alfred Feilchenfeld zuvor, der 1913 eine stark gekürzte Ausgabe edierte, die dieses wichtige Dokument eines Frauenlebens in der frühen Neuzeit zu einemErbauungsbuch herabsetzte, (zunächst) allerdings die prominentere von beiden werden sollte. Marianne Brentzel schildert diesen Lebenslauf mit Sympathie, mit sprachlicher Genauigkeit und äußerster Liebe zum Detail.

Titelbild

Wilfried Barner / Christoph König (Hg.): Jüdische Intellektuelle und die Philologien in Deutschland 1871-1933.
Wallstein Verlag, Göttingen 2001.
346 Seiten, 29,70 EUR.
ISBN-10: 3892444579

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Titelbild

Marianne Brentzel: Anna O. - Bertha Pappenheim. Biographie.
Wallstein Verlag, Göttingen 2002.
320 Seiten, 27,00 EUR.
ISBN-10: 3892444455

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