I have a dream

Kai Brodersens Sammelband bedeutender Reden

Von Rolf-Bernhard EssigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf-Bernhard Essig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Hysterie ergreift die Massen, maßloser Taumel, Begeisterung, alles schreit, jubelt, ist außer sich. Kein Popkonzert, kein Sportereignis erregte je eine Menschenmengen so sehr wie die berühmte Kreuzzugsrede Papst Urbans II.

Als der Papst seinen dringlichen Appell 1095 in Clermont an die große Schar der Gläubigen richtete, ging es ihm eigentlich darum, militärische Unterstützung für Byzanz, das schwer unter den Angriffen der Mohammedaner litt, zu finden, doch schnell entwickelte die Ansprache eine Eigendynamik. Die Zuhörer ergriff etwas wie frommer Wahnsinn, der das kleinere Ziel, Glaubensbrüder im Osten zu helfen, schnell zu dem ganz großen werden ließ, Jerusalem und das Heilige Grab zu befreien. Tausende strömten nach Osten - das zweihundert Jahre währende Zeitalter der Kreuzzüge begann. Selten zuvor und danach erwies sich die Macht des Wortes in derart schlagender Form.

Rhetorik, die Kunst der adäquaten Rede, gehörte noch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts zum Ausbildungskanon aller abendländisch geprägten Kultur; in manchen Ländern ist sie es, zumindest für die Eliten, noch heute. In Deutschland dagegen bildete sich nur zögerlich eine rednerische Tradition heraus, da ein nationales Forum, also Hauptstadt und Parlament, lange Zeit fehlten; außerdem beäugte man zumeist den freien Austausch der Meinung misstrauisch. Als dann noch die Manipulationskunst nationalsozialistischer Propaganda das Land in die Katastrophe führte, war es mit dem Ruf der Redekunst vorbei.

Erst seit etwa zwanzig Jahren wächst die Zahl derer, die erkennen, dass erst das Wissen um rhetorische Tricks, Kniffe und Möglichkeiten gegen sie immun machen kann, dass wohl gesetzte Worte für die Durchsetzung hoher Ziele wichtig sind. Nur der Kenner durchschaut die Manipulation, nur der Kenner mobilisiert ungeahnte Energien in seinem Auditorium. Rhetoriklehrstühle entstanden, die Wirtschaft schloss sich mit vielerlei Seminaren für Führungskräfte an, und inzwischen wird Rhetorik auch wieder in Schulen gelehrt.

Am besten lernt man freilich bei den Meistern, von denen - neben Urban II. - einige in Kai Brodersens Sammelband "Große Reden. Von der Antike bis heute" zu finden sind. Von Perikles über Robespierre bis zu Martin Luther Kings "I have a dream"-Rede, hier kann man in geflügelten Worten schwelgen, die Geschichte machten: "Ich kann nicht anderst, hie stehe ich, Gott helff mir, Amen." So soll Luther 1521 vor dem Kaiser in Worms gesprochen haben, als er seine Angriffe auf die katholische Kirche pauschal widerrufen sollte. "Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört." Dies soll Willy Brandt am 10.11.1989 gesprochen haben. Doch das eine wie das andere taucht in der Rede gar nicht auf, ist bei Luther ein späterer handschriftlicher Zusatz und bei Brandt erst in der Druckfassung zu lesen. Über solche interessanten Details wie über Hintergründe und Überlieferungsprobleme klären informationsreiche Vorworte zu den einzelnen Texten auf.

Ob Weizsäckers Ansprache zum 40. Jubiläum des Kriegsendes oder Kennedys Aufruf zum Apolloprogramm, zweifellos hätte man sich manch anderes rhetorisches Glanzstück erwarten können, zumal nicht jede der vierzehn ausgewählten Texte vollkommen überzeugt.

Besonders spannend ist allerdings die Gegenüberstellung von Churchills Unterhaus- und Rundfunkrede vom 18.6.1940 mit Goebbels Rede im Berliner Sportpalast vom 18.2.1943 schon deshalb, weil sich eine ganze Reihe von Formulierungen und Argumenten identisch widerfinden. Doch wenn beispielsweise vom Bollwerk gegen die Feinde des Abendlandes gesprochen wird, meint Goebbels die Wehrmacht und die jüdisch-bolschewistische Gefahr, Churchill aber Großbritannien und die Nationalsozialisten.

Titelbild

Kai Brodersen (Hg.): Große Reden. Von der Antike bis heute.
Primus Verlag, Darmstadt 2002.
208 Seiten, 16,50 EUR.
ISBN-10: 3896782282

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